Freitag, 5. Juli 2013

17. Juni – Hoffnung und lastender Schatten (Peter Arlt)

Eine Bilderinnerung steht am Anfang meiner Erfahrungen mit dem 17. Juni 1953: Meine 3. Klasse der Boleslaw-Bierut-Schule in Halle überlegte aufgeregt im Schulraum, kein Lehrer war in der Nähe, was wir nach der Meldung aus dem Radio vom Streik in der Sowjetzone selbst tun sollten. Manche Schüler hatten auf dem Schulweg mitbekommen, daß viele Erwachsene beabsichtigten, nicht zur Arbeit zu gehen, sondern auf dem Hallmarkt zu demonstrieren. Was sollten wir tun? – Mutig schrieben wir an die Wandtafel »Wir streiken!«, ohne daß irgend einem von uns klar war, wogegen wir aufbegehrten. Wir liefen zum Steintor, wo vor dem Haus der Gewerkschaften Tausende Blätter und Aktendeckel herumlagen, dann zum Hansering, wo es um das Gefängnis wüst aussah und am antifaschistischen Denkmal die nackte Skulptur mit Sachen bedeckt war. Schließlich stromerten wir am Ufer der Saale herum. Ein Tag, der im Zeugnis nicht als unentschuldigtes Fehlen aufgeführt wurde. Beim Abendbrot sagte mein Vater auf meine Frage zum Streik ruhig und traurig: »Die machen doch nur kaputt, was ihnen gehört.« Dagegen berichtete meine Schwester vom Hallmarkt, ein junger Mitarbeiter aus ihrem Betrieb hatte den Mut, zu reden und vorzuschlagen, was zur Erhöhung der Produktion beim VEB Patina, der Seifen- und Parfümeriefabrik, verbessert werden könne. Beide Positionen bestimmten meine Haltung zum 17. Juni. Denn was geschah, blieb öffentlich ziemlich unerläutert. Sprach einer den 17. Juni an, wies man ihn zurecht: Keine Fehlerdiskussionen! Wegen seiner jährlichen vom Westen wiederholten Bewertung als Befreiungskampf, die immer noch Jahr für Jahr wie ein Amen in der Kirche niedergeht, verpaßte die DDR-Propaganda dem Ereignis platt den Stempel der Konterrevolution. Dagegen suchten wir aus prosozialistischer Perspektive eine tiefgründigere Erklärung. Da war das Gedicht »Die Lösung« von Bertolt Brecht: »Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, daß das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?« Ein Grund des Aufbegehrens war eine beschlossene Normerhöhung, die schon vor dem 17. Juni wieder zurückgenommen wurde. Die Forderung der Partei und Regierung präsentierte aber einen typischen Fakt, der sich in der ganzen Zeit der DDR ständig wiederholte: Der kommunistische Hochmut, alles besser zu wissen und allein das Geschehen zu bestimmen. Den Bürgern des Landes wurde nicht die wirkliche Lage dargelegt; sie wurden in Problemsituationen nicht mit einbezogen; ihre Auffassungen dazu wollte man nicht hören. Das Grundübel der Politik der SED war, sich mit dem Volk nicht zu beraten, ihm eine Meinung aufzudrücken und ihm Dinge abzuverlangen, die sich die meisten nicht erklären konnten. Deshalb verbanden sich mit dem 17. Juni zwei divergierende Momente: das revolutionäre Element mit der Forderung, Entscheidungen demokratisch herbeizuführen; das konterrevolutionäre Element, den sozialistischen Versuch abzubrechen. Im Westen ständig aufgewärmt, belastete letzteres das Gemüt und erzeugte einen lastenden Schatten, eine Angst, die sich mit den Ungarnereignissen 1956 noch beschwerte. Die mehrfach vorgeschlagenen Forderungen, die Demokratie zu entwickeln, wehrte man ab: »Wollt ihr, daß es so kommt?« und wies auf die Fotos von gelynchten Genossen. Diese Haltung war von den traumatischen Niederschlägen der Verfolgung der Nazi-Zeit bestimmt und von der steten Absicht, die DDR zu vernichten. So wurde die Sicherheit, mittels Nationaler Volksarmee und Stasi, beherrschend. Noch 1989 – als ich bei einem Künstlerempfang dem Bezirkssekretär Gerhard Müller empfahl, es wäre schön, wenn die Leute wie anderswo (dabei dachte ich an die Fußgängerzonen in westdeutschen Städten) mit ihren Talenten Leben in unsere Städte bringen könnten. Doch umsonst. Denn er antwortete: »Wir holen uns doch nicht die Konterrevolution auf die Straße!« Wegen des tief verinnerlichten Elends des 17. Juni konnte sich die eingesickerte Hoffnung kaum entfalten: Mit einer Anleihe bei Rainer Werner Fassbinder gesagt: Die Angst ißt die Seele des Sozialismus auf! Aus der vertrackten »Büchse« des 17. Juni mit einer zweiten Öffnung die revolutionäre Hoffnung herauszulassen und Demokratie zu wagen, fand Ende 1989 statt. Da erschien auch im DDR-Verlag Der Morgen Stefan Heyms Roman »5 Tage im Juni«, der nach Stephan Hermlin »die manchen Leuten teuren Legenden vom ›Freiheitskampf‹ und ›Arbeitskampf‹ widerlegte, allerdings auch Simplifizierungen auf unserer Seite entgegentrat« (Wochenpost 14/88). Die Regierung war irritiert und ihre Angst wohl bezwungen, als die Menschen mit der Losung »Wir sind das Volk« und »Wir bleiben hier« friedlich und mit dem Gesang der »Internationale« auf die Straße gingen, um im weiteren Anlauf die Verhältnisse zu demokratisieren, das Eigentum zu vergesellschaften, und in einer besseren DDR die sozialistische Revolution zu vollenden. Und es gab Anfang 1990 real eine zweite, andere DDR, die sich anschickte, besser zu werden. Doch mit der Losung »Wir sind ein Volk« wurde, volksgewollt und vom Westen nachgeholfen, das ganze System gekippt. Viele nennen fälschlich auch diese spätere Phase »friedliche Revolution«, die den Kapitalismus wieder eingeführt und somit die friedliche Revolution zur Konterrevolution umgebogen hat. Aber entscheidend ist nicht, wie etwas benannt wird oder sich nennt, sondern was es in der Natur der Sache wirklich ist. In dieser Krisenzeit mögen die Verteidiger des Kapitalismus fürchten, ihr Lob der Revolution des 17. Juni könnte durchschaut und als eine Option zur Gesellschaftsveränderung von den Massen wiederentdeckt werden.

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