Freitag, 5. Juli 2013

Zweimal Panzer gegen Demonstrierende (Jörg Roesler)

Jeder, der sich einmal mit der Geschichte der DDR beschäftigt hat, kennt wahrscheinlich das Foto: Zwei Jugendliche, die vom Straßenrand aus nahende Panzer mit Steinen bewerfen. Das Bild berührt den Betrachter. Zu sehen ist verzweifelter Widerstand. Die beiden sind letztlich ohnmächtig gegenüber der eingesetzten massiven Gewalt. Was ist mit den Jugendlichen danach geschehen, fragt man sich bang. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, daß es sich um eine Aufnahme aus den Nachmittagsstunden des 17. Juni 1953 handelt, aufgenommen in der Innenstadt Ostberlins. Das Foto läßt uns Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stellen, es klagt diejenigen an, die die Panzer geschickt haben, beziehungsweise jene, die nur unter dem Schutz der Panzer weiterregieren konnten – die sowjetische Besatzungsmacht und die DDR-Führung. All das, was man über die Menschenfeindlichkeit kommunistischer Regime einmal gehört hat, wird beim Anblick des Bildes mit den steinewerfenden Jugendlichen gewissermaßen auch jenen nacherlebbar, die erst Jahrzehnte nach den Juniereignissen von 1953 geboren wurden. Genau dies ist auch der Zweck der wiederholten Veröffentlichung des Bildes. Immer wieder war und ist es in (west)deutschen Schulbüchern zu finden. 2003, als sich die Junierhebung zum 50. Male jährte, prangte es auf einer Briefmarke der Deutschen Post AG. Wie auch immer die begleitenden Kommentare in den Schulbüchern lauteten, eines wurde nicht erwähnt: Es war nicht das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte, daß Panzer gegen Demonstrierende und Protestierende eingesetzt wurden. Knapp fünf Jahre zuvor dürfte sich eine ganz ähnliche Szene – Jugendliche werfen Steine auf herannahende Panzer – abgespielt haben, und zwar in der Stuttgarter Innenstadt. Damals handelte es sich um US-amerikanische Tanks. General Lucius D. Clay, Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone und damit auch für den Raum Stuttgart zuständig, hatte ihren Einsatz angeordnet. Was sich an diesem Tage, dem 28. Oktober 1948 in Stuttgart ereignete, glich in vieler Hinsicht dem, was viereinhalb Jahre später, am 17. Juni 1953, in Berlin ablief: Die Arbeiter, deren Realeinkommen infolge von Regierungsentscheidungen deutlich abgesunken war, beschlossen, sich mit jenen Mitteln, über die sie traditionell verfügen, zu wehren, allen voran die Belegschaften der im Stuttgarter Raum angesiedelten Großbetriebe von Bosch bis Daimler. Die Betriebsräte – zögernd folgten auch die Gewerkschaftsvertretungen – riefen für den nächsten Donnerstag, den 28. Oktober dazu auf, um 13 Uhr Betriebe und Büros zu verlassen und um 15 Uhr auf dem zentral gelegenen Stuttgarter Karlsplatz gegen steigende Preise und dadurch bewirkte Realeinkommensverluste in einer Massenversammlung zu protestieren. Der Aufruf wurde allgemein befolgt. Zum vereinbarten Termin verließen die Beschäftigten Stuttgarts ihre Betriebe und strömten in mehreren Demonstrationszügen zum Kundgebungsplatz. Seitens der Demonstrierenden wurden nicht nur soziale Forderungen laut. Neben roten Fahnen waren auch Transparente zu sehen, die die Absetzung des »Wirtschaftsdiktators« Ludwig Erhard forderten. Derjenige, der auf dem Karlsplatz die mehrere Zehntausend zählende Menge ansprach, der Vorsitzende des Stuttgarter Gewerkschaftsausschusses Hans Stetter, kritisierte scharf die unsozialen Bestimmungen der im Juni nach Plänen von Erhard vollzogenen Währungsreform. Er sprach zu den Arbeitern über das Ziel, einen Staat nach den Grundsätzen von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, was nur mit einer anderen ökonomischen Ordnung als der von Erhard befürworteten zu erreichen sei. Nach Abschluß der Kundgebung strömten die durch die von Stetter aufgezeigte Perspektive aufgewühlten Demonstranten durch die Straßen der Innenstadt. In der Königstraße stießen sie auf Zeichen jener seit der Währungsreform zunehmenden sozialen Kluft, die gerade angeprangert worden war: gut ausgestatte Geschäfte, die ihre Waren zu Preisen anboten, die sich keiner der Demonstranten leisten konnte. Als es auch noch aus den Geschäften heraus – für ein Kaufhaus hatte der Inhaber den Namen »Luxus« gewählt – zu spöttischen Bemerkungen gegenüber den vorbeiströmenden »Kleinverdienern« kam, brachen Tumulte aus, Schaufenster wurden eingeschlagen, Auslagen beschädigt. Es folgte ein massiver Polizeieinsatz, der wiederum gewaltsame Gegenwehr – meist von Jugendlichen – provozierte. Um nicht in die Defensive zu geraten, setzten die Ordnungshüter Schritt für Schritt das gesamte ihnen in der amerikanischen Besatzungszone zur Verfügung stehende Gewaltpotential ein: neben der regulären deutschen Polizei deren berittene Einheiten, schließlich die Military Police und die US-Spezialeinheiten der Constabulary sowie alle verfügbaren Kampfmittel, von Tränengas über Bajonette bis hin eben zu Panzern. Gegen 19 Uhr war die Gegend um den Stuttgarter Hauptbahnhof, dem Ort der heftigsten Gegenwehr, von Widerstand Leistenden gesäubert. Wie über Ostberlin fünf Jahre später verhängte die Besatzungsmacht über den Raum Stuttgart den Ausnahmezustand, Verhaftungen wurden vorgenommen und der Öffentlichkeit Schuldige präsentiert. Die waren angeblich von außen gekommen, die hatte die andere Seite geschickt. Generalmajor Pawel Dibrowa, der Stadtkommandant des sowjetischen Sektors, klagte Agenten und Provokateure aus Westberlin an, Stuttgarts Militärgouverneur Charles LaFollette mit böser Absicht nach Württemberg eingesickerte sächsische Kommunisten. Die Ordnungshüter auf beiden Seiten verhängten harsche Strafen über »Rädelsführer«. Wenn so vieles so ähnlich war, fragt man sich, warum gibt es kein Bild von den in Stuttgart Steine (tatsächlich waren es Dachziegel) gegen Panzer werfenden Jugendlichen in den bundesdeutschen Schulbüchern? Die Antwort ist einfach: Die Ostberliner Protestler passen hervorragend in die selbst gezimmerte bundesrepublikanische Geschichtslegende, wonach die BRD die Krönung eines zwei Jahrhunderte währenden, nur zeitweise – durch das NS- und das SED-Regime – unterbrochenen Entwicklungsweges Deutschlands zu immer mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sei. Das machtvolle und teilweise auch gewalttätige Eintreten der Stuttgarter für eine gerechtere Welt jenseits einer von »Angebot und Nachfrage« bestimmten Wirtschaftsordnung paßt nicht in dieses bundesdeutsche Geschichtskonzept. Die »Stuttgarter Vorfälle« haben in der bundesdeutschen Erinnerungspolitik keinen Platz gefunden. Prof. Jörg Roesler hat Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität studiert und gelehrt und an der Akademie der Wissenschaften der DDR geforscht: Schwerpunkt: Geschichte der DDR, der BRD und Osteuropas. Jüngste Buchveröffentlichung: »Geschichte der DDR«, PapyRossa Verlag, 130 Seiten, 9,90 €.

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