Montag, 15. Oktober 2012
Mexico: Siegeszug der Gewalt
Südwind Magazin für Internationale Politik, Kultur und Entwicklung, Heft 10/2012
Seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón vor sechs Jahren sind in Mexiko fast 100.000 Menschen ermordet worden – Tendenz steigend. Niemand weiß, wie die Gewaltorgie eingedämmt werden könnte, am allerwenigsten der neue Staatschef Enrique Peña Nieto.
Gerold Schmidt
Derzeit feiert Mexikos im Dezember aus dem Amt scheidender Präsident Felipe Calderón seine sechsjährige Amtszeit in teuren Werbekampagnen. Doch die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache. Die Angaben der nationalen Statistikbehörde könnten kaum deutlicher sein: Von 2007 bis 2011 starben in Mexiko mehr als 95.000 Menschen eines dokumentierten gewaltsamen Todes. Wurden im ersten Regierungsjahr des Konservativen Calderón und seiner Partei der Nationalen Aktion (PAN) knapp 9.000 Morde gezählt, erhöhte sich die Zahl ständig bis auf über 27.000 Morde im Jahr 2011. Mindestens zwei Drittel aller Fälle sind auf die Gewaltspirale zurückzuführen, die nach dem vom Präsidenten erklärten Krieg gegen die Drogenkartelle ungeahnte Ausmaße angenommen hat. Dabei sind die Opferzahlen unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung gestiegen. Als „Kollateralschäden“ hat sie Calderóns Regierung einmal bezeichnet.
Kritik stieß dabei sechs Jahre lang auf taube Ohren. Nicht nur José Narro, der Rektor der angesehenen mexikanischen Nationaluniversität UNAM, bezeichnet die kriminalisierende und einseitig polizeilich-militärisch ausgerichtete Form der Drogenbekämpfung seit Längerem als gescheitert. Raúl Vera, der sich aufgrund seiner Alltagserfahrungen immer stärker radikalisierende Bischof aus der Diözese Saltillo im Norden des Landes, nennt die Bekämpfung der Drogenkartelle durch die Regierung einen „idiotischen Krieg, weil es keine Justiz und keinen Zugang zur Justiz gibt“. Die Militärs hätten die „Lizenz zum Töten“. Die Unfähigkeit der politischen Führung habe zu „infamen Strukturen“ im Land geführt. Viele andere Stimmen beklagen die zunehmende Zersetzung des sozialen Gewebes im Land.
Luis Hernández 1), Chef der Kommentarseite der Tageszeitung „La Jornada“ und seit vielen Jahren scharfsichtiger politischer Beobachter, schlägt in dieselbe Kerbe. Die mexikanische Diplomatie sei sehr effizient darin gewesen, im Ausland ein Bild des Landes zu vermitteln, das nichts mit der Realität zu tun habe. Es gibt praktisch kein internationales Menschenrechtsabkommen, das nicht von mexikanischen Regierungen unterschrieben wurde. Aber, so Hernández, „wir erleben die Wirklichkeit als eine Situation allgemeiner Menschenrechtsverletzungen. Eine Situation, in der die nationalen Justizmechanismen kein geeigneter Kanal für Rechtsprechung sind“, meint der Journalist. Nach wie vor finden 95 bis 98 Prozent aller in Mexiko begangenen Delikte keine Bestrafung.
Der so genannte Drogenkrieg hat eine Büchse der Pandora geöffnet. Er hat die Gewalt zu einem fast normalen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens gemacht, Hemmschwellen heruntergesetzt und die Kriminalisierung sozialer Proteste befördert. Die mittelamerikanischen und mexikanischen Migranten und Migrantinnen sind auf ihrem Weg Richtung USA Freiwild für Polizei, Migrationsbehörden und Drogenkartelle. In vielen ländlichen Regionen ist der Staat praktisch nicht mehr präsent. Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA ist seit den 1990er Jahren ein trauriges Symbol für Gewalt und Feminizide. Letztere sind inzwischen auch in anderen Bundesstaaten zum Phänomen geworden, so in den Bundesstaaten Mexiko und Morelos. Das Land festigte seine Position als die für Medienschaffende gefährlichste Nation in Lateinamerika. Von 2000 bis heute sind nach leicht unterschiedlichen Angaben der staatlichen Menschenrechtskommission CNDH und von Reporter ohne Grenzen über 80 JournalistInnen in Mexiko umgebracht worden, die meisten von ihnen im Zeitraum 2006 bis 2012. Dies hat vielfach zu einer Selbstzensur geführt, die im Interesse des organisierten Verbrechens und gleichfalls vieler staatlicher Institutionen ist.
Neben der direkten physischen Gewalt haben sich andere Entwicklungen in den vergangenen Jahren verschärft. Dazu zählt die Aushöhlung der Arbeitsrechte. Da ist das Beispiel der ArbeiterInnen der staatlichen Stromgesellschaft Luz y Fuerza del Centro, die das Hochtal von Mexiko sowie einige Teile des Hauptstadt-Umlandes mit Strom versorgte. Das Unternehmen wurde im Oktober 2009 per Dekret von Präsident Calderón buchstäblich über Nacht geschlossen. Die Arbeitsrechte wurden schlichtweg aufgehoben, die Büros vorübergehend von Militär und Polizei besetzt. Ähnliches passiert einer hohen Zahl von Beschäftigten im Privatsektor, die unter den so genannten Schutzverträgen zu Gunsten der Unternehmer leiden. Besonders die ArbeiterInnen in vielen Teilfertigungsbetrieben im Norden des Landes sind davon betroffen.
Während die Militärausgaben kräftig erhöht wurden, fehlte der konservativen Regierung von Anfang an eine soziale und bildungspolitische Vision. Die Wirtschaft des Landes dürfte unter Calderón ein Jahreswachstum von durchschnittlich etwa 2 Prozent aufweisen. Nach neuesten Angaben der Statistikbehörde ist die Zahl der Armen im Zeitraum 2006 bis 2010 von 45,5 auf 57,7 Millionen gestiegen. Damit gilt mehr als die Hälfte der Bevölkerung als arm. Von einigen fragwürdigen Programmen zur Linderung extremer Armut abgesehen, steht die Regierung zudem eher für eine Umverteilung von unten nach oben und auf Seiten der Wirtschaftseliten. Dabei haben Partei- und Regierungsmitglieder immer wieder danach getrachtet, ebenfalls eine Scheibe vom Kuchen abzubekommen.
Der bereits zitierte Bischof Vera spricht von „despotischem Zynismus, Habgier und Unehrlichkeit auf allen drei Regierungsebenen“. Diese Charakterisierung beschränkt sich allerdings nicht auf die PAN, sondern umfasst ebenfalls die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juli siegreiche Institutionelle Revolutionäre Partei (PRI), die zweitplazierte moderat linke Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und die kleinen Parteien.
Machtwechsel ohne große Perspektiven: Für Luis Hernández gehen die Ursachen für die heutige Situation bis auf den 1994 in Kraft getretenen Freihandelsvertrag NAFTA zurück. „Der Vertrag hat die bestehenden Ungleichheiten zwischen den drei Volkswirtschaften Kanada, USA und Mexiko noch vertieft. Viele Entwicklungen, die die Zerstörung der Umwelt und des sozialen Gewebes betreffen, sind Ergebnis einer schrankenlosen Handelsöffnung. Diese Entwicklungen bilden den Nährboden für die Gewalt und die Menschenrechtsverletzungen.“ Aus solcher Perspektive sind die Erwartungen an eine andere Regierung zwangsläufig gering. Bereits vor den Juli-Wahlen erklärte Hernández: „Die nächste Regierung wird sich kaum von Null aus neu erfinden können. Es existiert ein strukturelles Problem hinsichtlich des ökonomischen Modells, den Formen der politischen Beziehungen und den Menschenrechtsverletzungen. Die Menschenrechtsverletzungen sind in diesem Modell kein Unfall, sondern durch dieses bedingt.“
Trotz aller vom Oppositionsbündnis unter dem Linkskandidaten Andrés Manuel López Obrador („AMLO“) vorgebrachten Einwände und Manipulationsbelege erklärte das mexikanische Bundeswahlgericht am 31. August den PRI-Politiker Enrique Peña Nieto endgültig und offiziell zum gewählten Präsidenten. Seine Vorgeschichte als autoritärer Gouverneur des Bundesstaates Mexiko sowie seine engen Beziehungen zu wirtschaftlichen Machtgruppen und vor allem dem Mediengiganten Televisa schließen einen radikalen Politikwechsel aus. Der Wahlsieg Peña Nietos dürfte nicht nur der parteiischen Unterstützung der großen Medien und dem Überdruss nach insgesamt zwölf Jahren konservativer Regierung geschuldet sein. Ein Teil der Bevölkerung setzt eindeutig darauf, dass es dem neuen Präsidenten gelingen könnte, die Gewalt im Land einzudämmen. Und sei es durch eine Art Pakt mit den Drogenkartellen, wie es ihn noch am Ende der 71-jährigen PRI-Herrschaft im Jahr 2000 gegeben haben mag. Doch die Machtrelationen zwischen Kartellen und der Politik haben sich eindeutig zu Ungunsten letzterer verschlechtert. Zudem hat der Drogenkrieg die Kartelle weiter aufgesplittert, was Verhandlungen schwieriger macht. Peña Nieto hat vorerst angekündigt, die Linie seines Vorgängers in der Drogenpolitik zu fortzusetzen.
Im Parlament verfügt der neue Präsident über keine absolute Mehrheit aus PRI und den verbündeten mexikanischen Grünen. Im Zweifelsfall wird er aber auf die Hilfe der Partei Neue Allianz oder Stimmen aus dem PAN-Lager zählen können. Ein Gegengewicht zur Regierung könnte im besten Fall durch eine bessere Koordination der sozialen Bewegungen im Land geschaffen werden. Doch diese sind zersplittert, agieren oft isoliert. Auch Initiativen wie zuletzt die des Dichters Javier Sicilia und seiner „Bewegung für den Frieden in Gerechtigkeit und Würde“ haben es nicht geschafft, sich wirklich dauerhaft landesweit zu artikulieren.
Einige Hoffnung ruht auf der Studierenden- und Jugendbewegung „#Yo Soy 132“ 2), die im Mai dieses Jahres aus einer expliziten Ablehnungswelle gegenüber Peña Nieto als „Geschöpf“ der Medienkonzerne entstand. Schließlich gibt es die Aktionen des Permanenten Völkertribunals 3). Es ist ein bis Anfang 2014 angelegter Versuch, die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko systematisch zu dokumentieren und öffentlichen Druck aufzubauen. Inwieweit dies Einfluss auf die neue Regierung nehmen kann, ist fraglich.
Gerold Schmidt ist Journalist und Übersetzer und seit Anfang der 1990er Jahre Wanderer zwischen Deutschland und Mexiko.
1) Luis Hernández wird am 15. Oktober in Wien auf einer Veranstaltung auftreten (siehe Termine S.42).
2) Der Name geht auf einen Protest von 131 StudentInnen gegen den PRI-Kandidaten Peña Nieto zurück und bedeutet so viel wie: „Ich bin der 132ste“.
3) Das „Permanente Völkertribunal“ (TPP) geht auf die Initiative der Russell-Tribunale zurück. Es tagt zu verschiedenen Themen und Ländern. Im Oktober 2011 eröffnete es offiziell das „Kapitel Mexiko“: Bis Anfang 2014 wird das TPP die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko in sieben Themenbereichen untersuchen.
URL: http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=250459&rubrik=7&ausg=201210
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