Montag, 17. November 2014
Mexico: "Politiker sind in die Massaker verstrickt"
Deutsche Welle v. 17.10.2014
Nach dem spurlosen Verschwinden von 43 Studenten in Mexiko wächst der Zorn über die Untätigkeit der Regierung. Die internationale Gemeinschaft ist gefragt, sagt Korruptionsexperte Edgardo Buscaglia.
Edgardo Buscaglia erforscht an der Columbia Universität in New York den Einfluss von Wirtschaft und Recht auf die Entwicklung von Ländern. Er gilt als einer der renommiertesten Experten für Korruption und organisierte Kriminalität in Mexiko. Im Interview mit der Deutschen Welle spricht er über die Verstrickung der Politik ins organisierte Verbrechen, einen Pakt der Straflosigkeit und die Aufgaben der internationalen Gemeinschaft.
Deutsche Welle: Was muss die mexikanische Zivilgesellschaft tun, um die Kartelle zu schwächen?
Edgardo Buscaglia: Die Menschen müssen auf die Straße gehen und auf friedliche Weise die Wirtschaft lahm legen. Sie müssen die Regierung zwingen, den mexikanischen Staat von Politikern zu bereinigen, die Verbindung zu kriminellen Gruppen haben.
Wichtig ist aber, dass sie es friedlich tun. Wenn man Regierungsgebäude anzündet, gibt man den Politikern nur ein Motiv, mit Repression zu reagieren.
Warum sind die Mexikaner nicht schon längst aufgestanden?
Seit acht Jahren sage ich, dass so etwas geschehen muss. Es macht mich sehr traurig, dass es nicht passiert ist, bevor dieser Tsunami aus Blut über das Land hereingebrochen ist. Die mexikanische Zivilgesellschaft ist leider sehr gespalten und fragmentiert. Es gibt einige mutige Menschen wie Pastor Alejandro Solalinde, aber es gibt auch korrupte Organisationen, die sich mit Hilfe der Bundes- und Landesregierungen an Entwicklungsgeldern bereichern.
Die Menschen müssten die Regierungs- und Kongressgebäude umzingeln und eine Liste von Forderungen vorlegen. Und sie müssten bleiben, bis die Forderungen umgesetzt werden. Das würde auch international Aufmerksamkeit erregen. Es muss Druck aufgebaut werden, bis sich endlich etwas ändert.
Und welche Forderungen müssten das sein?
Zunächst müssten Vetternwirtschaft, Unterschlagung und Veruntreuung öffentlicher Gelder strafrechtlich verfolgt werden, denn das sind die häufigsten Korruptionsvergehen. Dazu müsste man aber erst einmal Interessenskonflikte typisieren und im Strafrecht verankern, wie es etwa in Kanada, Japan, Frankreich und Deutschland der Fall ist. Zur ihrer Verfolgung müsste dann jeder Bundesstaat unabhängige Untersuchungs-Organe berufen. Italien, Indien und Kolumbien haben auf diese Weise große Fortschritte erzielt: Im italienischen Parlament und im kolumbianischen Kongress wurden jeweils zwei Drittel der Abgeordneten quer durch alle Parteien prozessiert beziehungsweise ausgetauscht.
Das funktioniert aber nur mit massivem Druck aus der Zivilgesellschaft, denn unter mexikanischen Politikern herrscht ein Pakt der Straflosigkeit.
Gibt es den wirklich?
Carlos Navarrete [Präsident der Oppositionspartei PRD, deutsch: Partei der Demokratischen Revolution] hat es vor einigen Tagen selbst zugegeben. Diesen Pakt hat natürlich niemand unterzeichnet. Es ist ein stillschweigendes Abkommen, genau wie ich es seit Jahren sage.
Warum sollten dann die vorgeschlagenen Organe überhaupt funktionieren?
Wenn nationale Institutionen es allein nicht schaffen, könnte eine supranationale Organisation berufen von den Vereinten Nationen helfen - wie die Internationale Organisation gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG).
Korruption ist das eine, das andere ist die Gewalt …
Die Korruption ist Vater und Mutter der organisierten Gewalt in Mexiko. Politiker suchen die Verbindungen zum organisierten Verbrechen, um ihre Gegner zu bekämpfen und zu eliminieren. Sie sind in die Massaker verstrickt, die die Kartelle anrichten.
Die Korruption ist Anreiz für mexikanische und internationale Banden, sich in Mexiko niederzulassen: aus Mittel- und Südamerika und sogar aus Europa. Mexiko ist ein Paradies auf Erden für jede kriminelle Gruppe, weil sie an der Korruption verdienen und praktisch keine Strafen von Seiten der Justiz fürchten müssen.
Wenn man also die Korruption erfolgreich bekämpft, entzieht man der organisierten Kriminalität den Nährboden, wie es in Kolumbien geschehen ist. Am Ende bleiben vielleicht 300 oder 400 kleinere Gruppen übrig, aber sie könnten dem mexikanischen Staat nicht mehr auf Augenhöhe begegnen, wie es die Kartelle derzeit tun.
Welche Rolle spielt dabei die internationale Gemeinschaft?
Es besteht eine passive Komplizenschaft seitens der Europäischen Union und ihrer Regierungen - auch der deutschen. Die großen Unternehmen aus diesen Ländern verzeichnen riesige Umsätze und betreiben wichtige Produktionsstätten in Mexiko. Sie operieren auf einem politisch protegierten Markt, deshalb berichten sie daheim, wie wundervoll Mexiko ist, und geben ihren Regierungen zu verstehen, dass alles so bleiben sollte, wie es ist. Die internationale Gemeinschaft geht zu nachlässig mit Mexiko um, weil ihr das Geld die Sinne vernebelt.
Was wäre also zu tun?
Es geht nicht darum, die Beziehungen zu Mexiko abzubrechen. Aber Deutschland sollte Mexiko genau so unter Druck setzen, wie es das mit Kolumbien getan hat, als dort in den 1980er und 1990er Jahren Massengräber gefunden wurden. Deutschland und die Europäische Union waren damals die ersten, die Kolumbien unter Druck gesetzt haben. Und das sollten sie nun auch mit Mexiko tun, damit sich die Zivilgesellschaft dort nicht allein gelassen fühlt. Sonst wird es weitere Massaker geben.
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