Dienstag, 19. August 2014
Mexikos überschätzte Reformen
von Nicole Anliker
Neue Zürcher Zeitung, 16. August 2014, 08:14
Mit strengem Blick und süffisantem Gesichtsausdruck posierte Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto im vergangenen Februar für die Titelseite des amerikanischen Nachrichtenmagazins «Time». «Saving Mexico» lautete der Titel der Ausgabe, die Peña Nieto als grossen Reformer darstellte. Andere internationale Publikationen berichten von dem zum Sprung ansetzenden aztekischen Tiger. Vielerorts ist davon die Rede, dass die Stunde Mexikos geschlagen hat – das Schwellenland scheint vor dem wirtschaftlichen Durchbruch zu stehen. Die Schlagzeilen beweisen: Die internationale Presse hat Gefallen an der Politik des jungen mexikanischen Regierungschefs gefunden, der seit Beginn seiner Amtszeit vor gut anderthalb Jahren eine Reform nach der anderen angestossen hat.
Peña Nieto als grosser Retter des Aztekenlandes? In Mexiko reibt sich die Bevölkerung die Augen. Laut Umfragen ist die Zustimmung für den 47-jährigen Präsidenten auf unter 40 Prozent gesunken. Kein mexikanischer Regierungschef verzeichnete in den letzten zwanzig Jahren derart tiefe Werte.
Grosse Versäumnisse
Die Euphorie im Ausland lässt sich mit Peña Nietos eifrigem Reformkurs begründen. Kurz nach seinem Amtsantritt zauberte der Präsident den «Pakt für Mexiko» aus dem Hut. Diesen hatte die Regierung mit den beiden wichtigsten Oppositionsparteien geschmiedet. Das Parlament verabschiedete eine Reihe von Strukturreformen, die unter anderem die Bildung und das Wahlsystem betrafen. Viel Lob erntete Peña Nieto für verschiedene Wirtschaftsreformen, die die Produktivität erhöhen und das Land auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringen sollen.
Die Öffnung des seit über sieben Jahrzehnten als Staatsmonopol betriebenen Energiesektors sowie die Aufspaltung der Telekombranche erregten besonders viel Aufsehen. Die Reaktionen liessen nicht auf sich warten: Die amerikanische Rating-Agentur Moody's erteilte Mexiko im Februar die Bonitätsnote der höchsten Kategorie, «A», die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IMF), Christine Lagarde, würdigte die Reformen in den höchsten Tönen. Unternehmer und ausländische Investoren versprechen sich mehr Wachstumspotenzial.
Tatsächlich muss sich das Land südlich des Rio Grande von den veralteten Strukturen lösen, um sein Potenzial besser ausschöpfen zu können. Peña Nieto hat dafür die richtigen Verfassungs- und Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht. Dass er damit die mehr als zwölf Jahre andauernde politische Blockade zu brechen vermochte, ist sogar bemerkenswert. Doch gelingt ihm auch der aus dem Ausland heraufbeschworene Durchbruch? Angesichts der im Land herrschenden Machtstrukturen sind Zweifel angebracht.
In Mexiko sind wichtige Industriezweige und Wirtschaftssektoren in den Händen weniger Familien, die mit der Politik verbandelt sind. Diese Machtelite hat kein Interesse daran, am gegenwärtigen Zustand etwas zu ändern. Und genau hier liegt das Problem. Die Privilegierten, deren Macht durch die Reformen beschnitten werden sollte, haben grossen Einfluss auf die Ausgestaltung und die Umsetzung der Gesetze. Das führt dazu, dass diese meist verwässert werden oder nie in Kraft treten. Ein Beispiel dafür ist die im Juli verabschiedete Telekom-Reform. Zwar brach sie das Telekom-Monopol von América Móvil, die Macht des Medienkonzerns Televisa, welcher enge Beziehungen zur Regierung pflegt, zementierte sie aber.
Ausserhalb Mexikos werden vor allem die grossen Reformlinien wahrgenommen. Darum gelang es Peña Nieto, sich selber als Erneuerer und Mexiko als aufstrebende Macht darzustellen. Die positiven Auswirkungen der meisten Reformen wären, sollten sie umgesetzt werden, erst längerfristig spürbar. Den politikverdrossenen Durchschnittsbürgern fällt es aber schwer, daran zu glauben. Aus ihrer Sicht haben die Massnahmen ihr Leben nicht zu verbessern vermocht. Im Gegenteil, die Anfang Jahr in Kraft getretene Steuerreform belastet sie finanziell stärker und hat ihre Kaufkraft gebremst. Solche kurzfristigen negativen Effekte liegen oft in der Natur von Reformen. Doch auch die Forderungen der Bevölkerung nach besseren Beschäftigungsmöglichkeiten und höheren Löhnen blieben bis jetzt unerfüllt. Zudem lässt Mexikos letztjähriges Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent zu wünschen übrig. Die Wachstumsprognosen des laufenden Jahres wurden vom IMF zudem bereits auf 2,4 Prozent nach unten korrigiert. So kann weder die verbreitete Armut gelindert noch können die nötigen Arbeitsplätze geschaffen werden. Rund 60 Prozent der Arbeitnehmer sind darum im informellen Sektor beschäftigt. Sie putzen die Frontscheiben von Autos oder verkaufen am Strassenrand Raubkopien. Die erlassene Fiskalreform leistet dafür keine Abhilfe. Im Gegenteil, die Steuersätze müssten gesenkt und die Hindernisse für Kleinunternehmer abgebaut werden.
Hinzu kommt, dass Peña Nieto die innere Sicherheit vernachlässigt hat. Laut dem nationalen Statistikinstitut hat der im Jahr 2006 von seinem Vorgänger ausgerufene «Drogenkrieg» bis heute mehr als 180 000 Opfer gefordert. Über 60 000 Morde wurden seit dem Amtsantritt Peña Nietos Anfang Dezember 2012 gezählt. Entführungen und Schutzgelderpressungen haben zugenommen, und die Regierung hat die Kontrolle über einige Gegenden komplett verloren. Vielerorts greifen Bürger deswegen selber zu den Waffen. Im Grunde führt Peña Nieto die Strategie seines Vorgängers fort, für die er zuvor nur kritische Worte gefunden hatte: Armee und Marine werden im Kampf gegen die Kartelle eingesetzt, und es wird Jagd auf namhafte Drogenbosse gemacht. Das militärische Vorgehen ist zwar medienwirksam, doch lässt es die politischen und finanziellen Strukturen des Drogengeschäfts intakt. Vielmehr müsste der Justiz- und Polizeiapparat reformiert, eine wirksame Sozialpolitik lanciert und müssten illegale Vermögen beschlagnahmt werden.
Endemische Korruption
Peña Nieto scheint Mexiko in erster Linie für Auslandinvestitionen attraktiv machen zu wollen. Das ist ihm mit den Reformen weitgehend gelungen. Doch der Präsident stösst auf ein grundlegendes innenpolitisches Problem. Die Reformen werden nur Bestand haben, wenn sie von transparenten, unabhängigen und starken Institutionen umgesetzt werden. In Mexiko ist das beinahe unmöglich. Die endemische Korruption hat zur Folge, dass über 90 Prozent der Straffälle ungeklärt bleiben und Drogenkartelle jährlich schätzungsweise über eine Milliarde Dollar Schmiergelder an Regierungsbeamte und staatliche Sicherheitskräfte zahlen. Die Bevölkerung muss sich mit diesen Missständen täglich herumschlagen.
Das Bild von Peña Nieto als Retter der Nation erscheint ihr darum auch absurd. Die Mexikaner glauben nicht daran, dass die Reformen ihre Lebensqualität verbessern werden. Sie befürchten aber, dass die Drogenkartelle sie weiter terrorisieren. Dabei müsste die Regierung genau hier handeln. Denn solange das organisierte Verbrechen nicht ernsthaft bekämpft wird, frisst sich die Korruption immer tiefer durch die Politik und die Gesellschaft, und der Rechtsstaat wird weiter ausgehöhlt. Dass Mexikos Stunde in so einem Umfeld schlagen kann, scheint unwahrscheinlich.
URL: http://www.nzz.ch/meinung/mexikos-ueberschaetzte-reformen-1.18364198
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