Montag, 27. Mai 2013
Zwangskollektivierung des privatisierten Ich (Werner Rügemer)
Jeder, auch wenn er unten ist, sei seines Glückes Schmied, jeder könne vom Tellerwäscher aufsteigen zum Millionär: Solche Klischees werden immer wieder aufgewärmt, auch wenn ihre Verwirklichung noch so illusionär ist.
In bürokratisierter Form hieß das Klischee in Deutschland vor einiger Zeit »Ich-AG«. AG bedeutet Aktiengesellschaft. Das erschien in diesem Zusammenhang kurios, war aber ernst gemeint. Das Konstrukt war Teil der 2002 von der Bundesregierung aus SPD und Grünen unter Kanzler Schröder beschlossenen Agenda 2010. Die Ich-AG gehörte zu den vier sogenannten Hartz-Gesetzen, genauer zu »Hartz II«. Dieses Gesetz legitimiert, reguliert und verfestigt seitdem »geringfügige Beschäftigungen« wie Mini- und Midijobs. Mit Ich-AG wurden selbständige Einzelunternehmer bezeichnet, ehemals Erwerbslose, die für die Gründungsphase von den damals eingerichteten Jobcentern Zuschüsse bekamen.
Doch das Konzept ging nicht auf. Den Arbeitslosen wurde auch keine richtige Unternehmerperspektive eröffnet; sie sollten »kostengünstige Dienstleistungen mit alltagspraktischen Fähigkeiten« erbringen, für die es großen Bedarf gebe. Mit solchen Scheinselbständigen konnten die richtigen Unternehmer die Sozialleistungen einsparen. Aus den Arbeitslosen wurden geheimnisvollerweise keine Aktiengesellschaften. Die Ich-AG wurde von ihren Erfindern aus dem Verkehr gezogen.
Dies heißt jedoch nicht, daß die Idee und die damit verbundene Praxis verschwunden wären, im Gegenteil. Das unternehmerische Ich bleibt das Leit- und Heilsbild der gegenwärtigen Religion, auch für diejenigen, die gar keine Unternehmer sind und sein können. Auch die (noch) in Arbeit Befindlichen sollen sich als Unternehmer ihrer selbst, als Selbst- und Ich-Unternehmer verstehen. Jeder soll als Unternehmer um seinen oder auch um einen anderen Arbeitsplatz kämpfen.
Zusammenschlüsse von abhängig Beschäftigten wie Gewerkschaften und Betriebsräte gelten als Störfaktoren. Sie stören den freien Markt beziehungsweise die Marktwirtschaft, das »freie« und gerechte Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Beschäftigten sollen vielmehr einzeln und frei vor ihren Arbeitgeber treten und den Arbeitsvertrag allein, ohne Beratung und Unterstützung, aushandeln, wobei es im Grunde gar nichts zu verhandeln gibt: Unterschreib oder stirb.
Wenn aber Tarifverträge (noch) nicht vermieden werden können und der (noch) bestehende Betriebsrat mitreden will, dann nehmen sich die Arbeitgeber, unterstützt von hochbezahlten Beratern, die einzelnen Arbeitnehmer vor und schließen mit ihnen nach dem Tarifvertrag noch individuelle »Zielvereinbarungen« ab und legen Leistungen, Kontrollen und Lohnbestandteile fest, die nichts mit dem Tarifvertrag zu tun haben. Die Ich-Unternehmer dürfen über ihre Entgelte und Arbeitsbedingungen nicht miteinander und in der Öffentlichkeit sprechen.
Wollen Lohnabhängige heutzutage eine kollektive Vertretung gründen, werden sie schon mal von den richtigen Unternehmern gekündigt, und zwar auch dann, wenn die Kündigung rechtswidrig ist – aber erst einmal ist der Störer aus dem Betrieb entfernt. Wenn er vor dem Arbeitsgericht vier Monate später Recht bekommt, kann man weitersehen: Abfindung, und weg ist er. Andere Betriebsratsaktivisten werden korrumpiert, mit individuellem Aufstieg im Betrieb und erhöhtem Gehalt.
So wird das arbeitende Individuum in die individuelle Privatheit gestoßen, privatisiert. Eine neue Wissenschaftsbranche, Human Relations oder Human Resources genannt, liefert dafür ein breites Spektrum an Leistungsmessungen, Leistungsvergleichen, Methoden der Selbststeuerung und Selbstoptimierung. Das ist verbunden mit renditedienlicher Willkür und mafiotischen Loyalitätskriterien der Vorgesetzten gegenüber den isolierten Ichen. Da ist es kein weiter Weg zum Arbeiterstrich in bestimmten Straßen unserer Städte, wo Arbeiter aller reichen und armen Länder, einschließlich unseres eigenen, sich täglich flehend prostituieren, um für einen Stundenlohn von zwei Euro gnädigerweise diesmal in den Bus des Sklavenhändlers einsteigen zu dürfen, während andere konkurrierende Iche einzeln und frei zurückgelassen werden.
Ebenso ergeht es den Arbeitslosen unter dem »Hartz IV«-Regime. Sie müssen unter der demagogischen Bezeichnung »Kunde« einzeln und frei um die Gewährung ihrer jämmerlichen Hungerrationen betteln. Sie müssen vor den Angestellten der Jobcenter finanziell und familiär ihre Hosen und Röcke und Unterhosen herunterlassen und umfangreiche Zielvereinbarungen unterschreiben. Kontrolleure durchsuchen die Privatheit der Arbeitsalmosenempfänger und stöbern in Konten, Betten und Zahnputzgläsern ihrer Bedarfsgemeinschaft.
Wenn die Arbeitslosen eine Begleitung ins Jobcenter mitbringen, wird das als Belästigung oder Unverschämtheit angesehen. Werden solche Begleitungen öffentlich angekündigt, verschicken die Leiter der Jobcenter Anweisungen an die Angestellten, sich bitte freundlich und korrekt zu verhalten; das Image des Jobcenters sei sonst in Gefahr. Denn einfache menschliche Begleitung, gar sachliche Beratung über die eigenen Rechte wird als Gefahr für die herrschende Ordnung, für das »Hartz IV«- und Rendite-Regime angesehen.
Ein Blick ins Grüne
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, gehört zu den politischen Talenten der grünen Partei, und abgenutzt ist er noch nicht. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung gab ihm eine ganze Seite Raum, um per Interview seinen Parteifreunden Rat zu erteilen und zugleich für die Grünen neue Sympathisanten einzuwerben. »Ich will Unternehmer gewinnen« – dieser Satz Palmers hat dem Blatt besonders gut gefallen, und so machte es ihn zum Titel des Beitrags. Der enthält eine klare Botschaft: Bei den grünen Aussagen im Wahlkampf solle man es doch besser unterlassen, die unter Gerhard Schröder von der Partei mitbetriebenen Agenda-Reformen in Frage zu stellen und eine Reform der Reform zu verlangen. Auf die »Flexibilisierung des Arbeitsmarktes«, so Palmer, könne man »stolz« sein, zu den Hartz-Regelungen müsse die Partei »stehen«. Als »Kraft der ökonomischen Vernunft« zu wirken und »bremsend« einzugreifen, wenn die SPD »zu viel regulieren und zu viel umverteilen« wolle, sei die Funktion der Grünen. Und wenn die Parteifreunde den Wünschen Palmers nicht nachkommen? Ob er dann davon abraten werde, im September Grün zu wählen, wollte der FAZ-Redakteur wissen. Ach was, sagt Palmer: »Dann vertraue ich auf die normative Kraft des Faktischen.« Denn die Erfahrung zeige: »Wenn die Grünen regieren, dann stellen sie sich der Verantwortung.« Es gehöre doch zur parteipolitischen Routine, »in Wahlprogrammen manchmal ein bißchen viel zu versprechen«. Ein aufklärendes Interview. Unternehmerische Interessenten an der grünen Partei wissen nun, daß kein Grund zu verärgerter Erregung besteht, falls grüne Wahlkämpfer ankündigen, regierend an den Agenda-Reformen herumzureformieren. Passieren kann auch dann nichts, denn bei solch einem Parteiprogramm handelt es sich um ein Papier, das ist bekanntlich geduldig, außerdem nach wahlkämpferischem Gebrauch zum Recycling geeignet.
A. K.
Und die Jobcenter-Angestellten müssen leugnen, daß es solche Anweisungen gibt.
Den kollektiven Zusammenschluß, den die Privateigentümer den abhängig Beschäftigten verwehren, praktizieren sie selbst in hohem Maße. Sie überziehen das Land flächendeckend mit einer aufgeblähten Bürokratie aus Unternehmerverbänden. Die Industrie- und Handelskammern verordnen sogar mit Hilfe des Staates die Zwangsmitgliedschaft aller noch so kleinen Unternehmen.
Die richtigen Unternehmer zwingen den vereinzelten Lohnabhängigen eine neue Kollektivität auf. Sie sollen sich der Corporate Identity unterordnen. Plötzlich sollen alle privatisierten Iche eine große, allumfassende Gemeinschaft bilden und für ein angebliches gemeinsames Ziel arbeiten. »Fit for Leadership« etwa heißt es bei Daimler. Oder auch »Das WIR entscheidet«, wie das Motto der Leiharbeiterfirma mit dem dazu passenden Namen »Propartner« lautet. Auch die Volksgemeinschaft ist nicht weit, wenn es heißt »Deutschland geht es gut«.
Doch die zum privaten Ich-Unternehmer befreiten Beschäftigten und Arbeitslosen sind in Wirklichkeit unterworfene, schweigende Bettler. Ihnen fehlt die wesentliche Eigenschaft des kapitalistischen Unternehmers: die Verfügung über den Gewinn.
In »unseren« Unternehmen und Jobcentern herrschen die Angst und das Schweigen der eigentumslosen Ich-Unternehmer. Wenn es jemals eine demagogisch begründete Zwangskollektivierung großen Stils gab, dann hier und jetzt im real existierenden Kapitalismus.
Wie marode, korrupt, lügnerisch und gewaltförmig muß eine gesellschaftliche Ordnung sein, um zur eigenen verzweifelten Legitimation selbst den Ärmsten und Schwächsten den Status eines Unternehmers aufschwatzen und aufzwingen zu wollen?! Laßt uns mal darüber sprechen, gemeinsam. Was meint Ihr?
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