Montag, 27. Mai 2013
Der taumelnde Leuchtturm (Urte Sperling)
Am 1. Januar 2006 ist das Universitätsklinikum Marburg-Gießen (UKGM) vom Land Hessen an die Rhön-Klinikum AG verkauft worden. Es sollte ein »Leuchtturm-Projekt« werden. Zwar werden landauf, landab Krankenhäuser privatisiert, mit einem kompletten Universitätsklinikum aber hatte man es bisher noch nicht versucht. Gelang dieses Experiment, sollten – so die Befürworter – weitere solcher Transaktionen folgen.
Um die Vorgeschichte der Leuchtturmidee zu verstehen, sollte man in die Zeit der Technologiepolitischen Offensive der sozialliberalen Koalition in den 1970er Jahren zurückblicken. Damals wurden zahlreiche Universitätskliniken – Orte auch der Forschung und Entwicklung wie Anwendung neuer Geräte, Verfahren und Medikamente – in Betrieb genommen. Es begann die Industrialisierung der Krankenhausmedizin. Die krankenkassenfinanzierte ständige Innovation sicherte jedem Kassenpatienten die gleiche Behandlung wie dem Selbstzahler, unabhängig vom Geldbeutel. Dafür stellte sich der Patient als Testperson für Lernende und Forschende zur Verfügung.
In den 1980er Jahren wurde den Ländern und den Kassen das Ganze zu teuer. »Kostenexplosion« war die Diagnose, »Kostendämpfung« galt als Therapie. Vorsichtigere Leute verwiesen darauf, daß die Kosten gar nicht so sehr explodiert, sondern vielmehr die Einnahmen der Krankenkassen durch Beschäftigungsrückgang geschrumpft waren.
Im Gegensatz zu dieser Einsicht wurde an der Ausgabenseite herumgedoktert. Seit 1996 werden die Kosten für stationäre medizinische Leistungen mit sogenannten »Fallpauschalen« gedeckelt. Ländern und Kommunen half das wenig: Sie hatten just in dieser Zeit nicht nur die laufenden Unterhaltungskosten ihrer teuren Kliniken am Hals, sondern waren mit einem absehbar notwendigen Modernisierungs- und Neubaubedarf, der erhebliche Finanzmittel erforderte, konfrontiert.
Nunmehr gerieten Krankheit, Gesundheit und Wohlbefinden in den Fokus marodierender Kapitale, die nach profitablen Anlagesphären suchten. Nach dem Vorbild der USA entstanden auch in der Bundesrepublik – verstärkt nach dem Ende der DDR – private Krankenhausketten mit klingenden Namen: Helios, Asklepios oder – etwas heimatverhafteter: die Rhön-Klinikum AG.
Ihre Begehrlichkeit traf sich mit der Not der öffentlichen Hände. Und so kam es, daß in Hessen zur Jahrtausendwende der damalige Ministerpräsident Roland Koch (CDU) das Gespräch mit den Marktführern der Branche suchte und Interessenten fand. Der Gründer der Rhön-Klinikum AG, Eugen Münch, stilisierte sich in einer Talkshow als Retter einer bezahlbaren flächendeckenden bundesdeutschen Gesundheitsversorgung. Er könne, was die öffentliche Hand nicht mehr könne: Kapital mobilisieren für die erforderlichen Investitionen und durch konzernimmanente Synergieeffekte kostengünstig und bei hoher Qualität den Standard modernster medizinischer Qualität dauerhaft sichern. Rhön erhielt den Zuschlag.
Mittlerweile zeichnet sich ab, daß sich der Konzern verkalkuliert hat. Die Geschäftsführer gaben sich die Klinke in die Hand, alle Versuche, das UKGM rentabel zu managen, scheiterten. Nach einem Jahrzehnt Konzernerfahrung ist keine andere Uniklinik dem mittelhessischen Beispiel gefolgt. Die Rhön-Klinikum AG hatte zusehends Schwierigkeiten, die Profitwünsche der Aktionäre zu bedienen. Ein neu errichtetes Partikeltherapiezentrum erwies sich wegen zu geringer Auslastung als unrentabel und wurde bislang gar nicht erst in Betrieb genommen. Klagen über Qualitätseinbußen in der Pflege aufgrund der ständigen Überlastung des Personals häuften sich. Als dann die Absicht bekannt wurde, weitere 500 Stellen einzusparen, regte sich vehementer Bürgerprotest. Er begann mit einer turbulenten Betriebsversammlung, einer großen Demonstration und einer Unterschriftensammlung gegen weiteren Stellenabbau; alle Fraktionen der Marburger Stadtverordnetenversammlung, die CDU eingeschlossen, protestierten. Über mehrere Monate fanden in der gotischen Elisabethkirche »Gesundheitspolitische Montagsgebete« statt, bei denen Honoratioren, Geistliche, Gewerkschafter, Ärzte, Krankenpfleger(innen) und Patienten über ethische Probleme und Alternativen zur Ökonomisierung der Medizin sprachen. Im Kaufvertrag war eine »Rückfallklausel« für den Fall eines Eigentümerwechsels vereinbart worden. Anläßlich eines – wenngleich bald gescheiterten – Übernahmeversuchs des Helios-Konzerns entstand eine neue Initiative: eine Petition an den Landtag, das UKGM wieder in öffentliches Eigentum zu überführen.
Inzwischen visiert die Rhön-Klinikum AG auf der Basis eines McKinsey-Gutachtens eine »Restrukturierungsstrategie« an, die auf weitere Arbeitsverdichtung und Leistungssteigerung hinausläuft. Der Konzern verlangt – entgegen seinen ursprünglichen Prahlereien – nun doch Landesmittel, und die Landesregierung sichert sie ihm zu: Privatisierung der Gewinne (die allerdings für die Rhön-Aktionäre derzeit nicht üppig ausfallen) und Sozialisierung der Verluste.
Der Fall ist nicht ausgestanden. Eines haben die Auseinandersetzungen jetzt schon gebracht: An Margaret Thatchers Parole »There ist no alternative« (TINA) glauben in der Region Marburg-Biedenkopf inzwischen etwas weniger Leute als früher. Manche lernen schneller, andere langsamer. Zu letzteren gehörte einige Zeit die zuständige Gewerkschaft, die sich jeder öffentlichen Aktivität in Sachen »Rückführung zum Land« enthielt, um den Tarifpartner Rhön-Klinikum AG nicht zu verärgern. Für die Tarifpolitik – so das Kalkül – brauche ver.di potente Gesundheitskonzerne als Partner, die – wie die Rhön AG in den ersten Jahren nach der Privatisierung – auf Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft setzten und die über Aufsichtsratmandate Mitbestimmungsfenster öffnen.
Noch so eine Illusion. Auch sie wird platzen – wie bereits jetzt schon der Traum vom Leuchtturm.
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