Aktuell schmeißen zur Berliner Fashion Week lässige Off-Spaces Partys und Fair-Fashion-Panels, um den »Glitterati« mit Webpelz und Skateboards sauberes Networking zu ermöglichen! Weniger im Zentrum steht freilich ein sensibler Umgang mit den Implikationen, die Kleidungstücke und Trends als soziokulturell aufgeladene Phänomene mit sich bringen. Ein Spitzenbeispiel ist jener lederne Aldi-Beutel für 550 Euro, den der sozial engagierte Schauspieler Lars Eidinger nun präsentiert.
Derselbe ist Ausdruck eines »Trends«, der sich seit einigen Jahren auf Laufstegen zeigt: Es gibt einen Wettlauf um den geschmacklosesten Underclass-Look. Hatte sich die proletarische Subkultur der »Teddys« in den 1960ern in einem »symbolischen Diebstahl« (Dick Hebdige) am »Edwardian Style« der britischen Oberschicht bedient, klaut nun die Elite zurück. Nicht nur die Autorin Sandra Ojeaburu beobachtet, dass solche Kulturaneignung von oben inzwischen eine gängige Praktik der »High Fashion« ist: An reichen Körpern werden stilistische Zitate von Armut zum exotischen Hingucker.
Die Aldi-Tüte ist die Tasche der Unterprivilegierten. Beständig und gratis, in ihrem Erscheinungsbild längst kultig dank Günter Fruhtrunk. Der Künstler schuf in den frühen 1970ern das Aldi-Design, das mittlerweile für die Grafik und Gestaltung im 20. Jahrhundert kanonisch geworden ist. Und nachdem die Discountkette 2019 im Rahmen ihrer »Verpackungsmission« die letzte Tüte ausgereicht hat, wird diese zusehends frei für eine Ikonisierung. Doch jenseits aller Designironie steht sie weiterhin für Armut. Jede Improvisationstheatergruppe, die Kevin aus Marzahn performen will, greift auf sie zurück.
Darf die Aldi-Tüte also als Geschichte von Widersprüchen zwischen Kulturspalte und U-Bahnhof erzählt werden? Die Literaturwissenschaftlerin bell hooks stellt fest, dass die Kulturszene weder über arme Menschen spricht noch hat Armut in ihrer Welt einen Platz. In diesem toten Winkel treibt die Mittellosigkeitsästhetik dann die wildesten Blüten. Ökonomisch gut Gestellte verkleiden sich als zerrüttete Biografien mit Alki-Appeal und tragen wenig ironische Bioware in ausgesprochen ironischen, »asozialen« Sportbeuteln.
»Wir tun eigentlich alles, damit wir uns selber abschaffen«
Bei der Modemesse Neonyt präsentierten sich während der Berlin Fashion Week nachhaltig produzierende Labels
Eidingers Königin der Discounter-Tüten wird vom Feuilleton gefeiert werden, doch bleibt ihre soziokulturelle Assoziationskette so zeitlos wie Fruhtrunks Design. Der Tausendsassa erklärt sein Werk - gut gemeint - als Verneigung vor dem Alltäglichen. Werden aber die Käufer*innen vor der Aldi-Kundschaft wirklich solchen Respekt zeigen? Das erklärende Statement mag dem Klassentourismus etwas Schärfe nehmen. Doch das Resultat bringt in der Kombination aus heimischem Ökoleder, ironisierter Klassenästhetik und einem Preis weit jenseits des Hartz-Monatssatzes das Heute unfreiwillig deutlich auf den Punkt: Der Klau-Stil der Teddys passte zu einer Zeit, in der die Reichen tatsächlich gezwungen waren, zumindest ein bisschen abzugeben. Eidingers Spottbeutel hingegen illustriert eine Welt, in der Klassenkampf vor allem von oben geführt wird.
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