„… Während einige Istanbuler am Montag noch den Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu bei den Bürgermeisterwahlen feierten, wurde 70 Kilometer von der türkischen Metropole entfernt, im Hochsicherheitsgefängnis Silivri, der sogenannte Gezi-Prozess eröffnet. Den 16 Angeklagten wird vorgeworfen, vor sechs Jahren die Gezi-Park-Bewegung organisiert zu haben: Mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen. Zu ihnen gehören der Journalist Can Dündar, der Kulturmäzen Osman Kavala und die Architektin Mücella Yapıcı. Letztere war 2013 in dem Netzwerk »Taksim Solidarity« aktiv und stand deswegen 2015 schon einmal vor Gericht, sie wurde damals freigesprochen. Nun fordert die Staatsanwaltschaft für Yapıcı und die anderen 15 Angeklagten verschärfte lebenslange Haft, also mindestens 30 Jahre hinter Gittern. Zwei der Angeklagten, darunter Dündar, leben im Exil. Zwei weitere sitzen bereits im Gefängnis: der Soziologe Yiğit Aksakoğlu seit November 2018 und Osman Kavala bereits seit Oktober 2017. Die 657-seitige Anklageschrift wurde indes erst im Februar dieses Jahres vorgelegt und am 4. März zugelassen. Vor sechs Jahren waren in der Türkei Millionen Menschen wochenlang auf die Straßen gegangen, nicht nur in Istanbul oder Ankara, sondern im gesamten Land. Die Bewegung war konfessionsübergreifend und multiethnisch. (…) Der Sommer 2013 markierte den Beginn von Erdoğans großer Angst vor einem Machtverlust, mithilfe des nun eröffneten Prozesses in Silivri sollte die damalige Bewegung von der – nicht mehr unabhängigen – Justiz ein für alle mal als illegitim abgeurteilt werden. So zumindest war es vom Staatspräsidenten wohl angedacht. Ob nach der herben AKP-Wahlschlappe in Istanbul Erdoğan nun erst Recht ein hartes Urteil im Gezi-Prozess erwartet oder Milde walten lässt, ist noch nicht abzusehen…“ aus dem Beitrag „Eine Bewegung vor Gericht“ von Nelli Tügel am 24. Juni 2019 in neues deutschland online über den Prozessbeginn, die Bedeutung dieser Bewegung bis heute – und die in der Tat offene Frage der Reaktion des Regimes und Erdogans handverlesenen Richtern… Zum Auftakt des Gezi-Prozesses und den damit verbundenen Reaktionen des Regimes auf die Wahlschlappe in Istanbul vier weitere aktuelle Beiträge:
- „Gezi-Prozess: „Ein spekulatives Fantasiegebilde““ am 24. Juni 2019 bei der ANF berichtet über die Stellungnahme des „Angeklagten“ Kavala zur Prozesseröffnung unter anderem: „… Im Gefängniskomplex Silivri findet heute der Prozess gegen 16 Aktivistinnen und Aktivisten des Gezi-Aufstands von 2013 statt. Den Angeklagten, darunter der Kulturmäzen Osman Kavala und der Journalist Can Dündar, wird ein Umsturzversuch vorgeworfen. Osman Kavala ist seit November 2017 in Haft, Yiğit Aksakoğlu seit November 2018. Sechs weitere Angeklagte, unter anderem Can Dündar und der Schauspieler Memet Ali Alabora, konnten sich nur durch die Flucht ins Ausland einer Inhaftierung entziehen. In der heutigen Verhandlung erklärte Kavala, die Anschuldigungen, wegen denen er seit zwanzig Monaten im Gefängnis ist, entbehrten jeglicher Grundlage und Logik. Die Anklageschrift basiere auf unbewiesenen Mutmaßungen. „Mit verdrehten Tatsachen ist ein spekulatives Fantasiegebilde entworfen worden“, so Kavala. „Ich habe mich bemüht, Projekte zu unterstützen, die dem Frieden, dem Dialog und der Versöhnung der gesellschaftlichen Gruppen untereinander dienen“, betonte Kavala und forderte seine Freilassung: „Ich erkläre hiermit, dass zwischen mir und Hunderttausenden Personen, die sich bei den Gezi-Vorfällen friedlich betätigt haben, kein Unterschied besteht. Ich fordere einen Freispruch und meine Freilassung.“…“
- „Kavala muss im Gefängnis bleiben“ am 25. Juni 2019 bei tagesschau.de meldet: „… Die Haft wird verlängert: Im Prozess gegen den türkischen Intellektuellen Kavala hat das Gericht den Antrag auf Entlassung abgelehnt. Das Verfahren wegen der Gezi-Park-Proteste soll Mitte Juli weitergehen. Der türkische Kulturmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala muss trotz internationaler Kritik im Gefängnis bleiben. Das Gericht am Hochsicherheitsgefängnis Silivri westlich von Istanbul, vor dem zurzeit gegen Kavala verhandelt wird, lehnte einen Antrag auf Entlassung ab. Kavala befindet sich seit mehr als anderthalb Jahren in Untersuchungshaft. Der ebenfalls angeklagte Aktivist Yigit Aksakoglu kommt nach rund sieben Monaten aus der U-Haft frei, darf das Land aber nicht verlassen. Er muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Der Prozess gegen Kavala, Aksakoglu und 14 weitere Personen wurde auf den 18. Juli vertagt. Das Verfahren hatte am Montag begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten einen “Versuch zum Sturz der Regierung” vor. Nach der Freilassung von Aksakoglu ist Kavala der einzige Angeklagte in Haft…“
- „Ernüchterung am Tag danach“ von Ulrich von Schwerin am 24. Juni 2019 beim Spiegel online zum Prozessbeginn am Tag nach der Siegesfeier: „… Während die CHP-Anhänger noch vom Sieg berauscht sind, beginnt im Gefängnis von Silivri am Westrand von Istanbul der Prozess gegen den Bürgerrechtler und Kulturmäzen Osman Kavala und 15 andere Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft. Die Anklage: Versuch zum Sturz der Regierung bei den Gezi-Protesten vor sechs Jahren. Die Beweislage: dünn. Die Niederlage in Istanbul mag die Grenzen der Macht Erdogans gezeigt haben, mehr aber auch nicht. Der Präsident kontrolliert nicht nur die Regierung, das Parlament und den Großteil der Medien, sondern auch die Justiz. Der Prozess gegen den renommierten Unternehmer Kavala verdeutlicht einmal mehr, dass im Staate Erdogans niemand vor Verfolgung sicher ist. Auch wenn die Opposition diesmal aufatmen kann…“
- „Erdogans Signal ist klar: Die Repression geht weiter“ am 25. Juni 2019 im Twitter-Kanal von Frank Nordhausen zieht so die Bilanz aus der Meldung, dass Kavala weiter im Gefängnis gehalten wird – wie auch der ehemalige Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder…
- Zum Hintergrund siehe unsere Berichterstattung seit 2013 in der Rubrik Internationales » Türkei » Soziale Konflikte
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