Mittwoch, 29. Mai 2019

Wer zu spät stirbt, den bestraft das Leben (Frank Schumann)


Der Gorbatschow zugeschriebene Satz »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« stammt tatsächlich von seinem Dolmetscher Helmut Ettinger und gilt auch in der Fassung: Bestrafung folgt, wenn man zu spät stirbt. Der Gedanke, Erich Honecker hätte unmittelbar nach seinem Staatsbesuch in der Bundesrepublik im September 1987 das Zeitliche gesegnet und nicht sieben Jahre später, imaginiert bestimmte Vorstellungen. Etwa diese: In Friedrichsfelde, in der Gedenkstätte der Sozialisten, wo man die Urne in der Mauer einschloss, hätte nicht nur unsere Staats- und Parteiführung Aufstellung genommen. Es wären die politischen und diplomatischen Vertreter von weit über hundert Staaten erschienen, mit denen die DDR offizielle Beziehungen unterhielt.

Die Abordnung vom Rhein wäre vermutlich die zahlenmäßig stärkste gewesen, allen voran die Vorsitzenden der CDU und der CSU, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, die den teuren Toten wenn auch nicht ins Herz geschlossen, so doch wiederholt an ihre Brust gedrückt hatten. Selbstverständlich wäre auch die SPD in Kompaniestärke angetreten, denn im vergangenen Sommer hatte die Partei mit der SED ein Dokument erarbeitet und verabschiedet, das nicht nur von Honecker »historisch« genannt worden war: »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Das Papier war in den beiden Parteizeitungen, Vorwärts (SPD/BRD) und Neues Deutschland (SED/DDR), zeitgleich veröffentlicht und nicht nur von den Mitgliedern erörtert worden. Neben vielen anderen bemerkenswerten Feststellungen gab es darin auch jene existentielle Ansage, dass sich die beiden deutschen Staaten »auf einen langen Zeitraum« ihres Bestehens eingerichtet haben. »Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, dass ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt.«

In den Kondolenzen hätten die Vertreter des Westens Honeckers beachtlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens gewiss herausgestellt. Bekanntlich hatte dieser – nach der Stationierung neuer Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa durch die NATO und von ebenfalls atomar bestückten sowjetischen Mittelstreckenraketen in der DDR und in der Tschechoslowakei – sich für eine blockübergreifende »Koalition der Vernunft« engagiert. Er hatte unterschiedslos von »Teufelszeug« gesprochen, das verschwinden müsse, denn er teilte die pointiert formulierte Ansicht des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß: »Je kürzer die Raketen, desto deutscher die Toten.« Und mit dem Bundeskanzler hatte er im März 1985 beim ersten Zusammentreffen in Moskau bekräftigt, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, sondern nur Frieden. In einer gemeinsamen Presseerklärung hatte es geheißen: »Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden.«

Möglicherweise – wir stellen uns noch immer Honeckers Beisetzung 1987/88 vor – wäre die sowjetische Trauermannschaft nicht ganz so gewaltig ausgefallen wie vielleicht noch einige Jahre zuvor. Moskau billigte ganz und gar nicht Honeckers Entspannungspolitik. Seine sogenannten Alleingänge wurden von Argwohn und von Maßnahmen begleitet, wozu nicht nur die wiederholte Verweigerung der Zustimmung für einen Besuch in der BRD oder für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Los Angeles gehörten. Parteichef Tschernenko sah keinen Grund für eine »gesamtdeutsche Koalition der Vernunft« und bestellte Honecker im Sommer ’84 ein, um ihm die Leviten zu lesen. Sein Stellvertreter Gorbatschow führte bei der Aussprache das Wort, er verantwortete auch die beiden zuvor in der Prawda erschienenen Artikel, die gegen die Lockerungsübungen der DDR und deren ersten Mann gerichtet waren. Verteidigungsminister Ustinow sagte Honecker ins Gesicht: »Es fehlt Ihnen an Härte in den Beziehungen mit der BRD.« Und Gorbatschow hielt dem Älteren vor: »Die Kontakte werden erweitert, Ihr Besuch wird vorbereitet, es werden Kredite gewährt. Das vereinbart sich nicht mit unseren Erklärungen.« In jener heftigen und unwürdigen Auseinandersetzung im Sommer ’84 wurzelte auch der Dissens zwischen Honecker und Gorbatschow. Moskaus kommender Mann misstraute Honecker, der angeblich hinter dem Rücken der KPdSU zu seinem Vorteil mit dem Westen kungelte, und Honecker misstraute Gorbatschow, dass die DDR unter die Räder sowjetischer Großmachtinteressen geraten könnte. Beide lagen nicht falsch.

Von Egon Krenz ist eine Begebenheit überliefert, die sich im Juni 1984 – also wenige Wochen vor jenem Zusammenstoß im Kreml – am Rande einer RGW-Gipfelkonferenz in Moskau zugetragen hatte. Marschall Ustinow habe ihn zu einem Glas Tee gebeten und ihm eröffnet, dass er im SED-Politbüro der Jüngste sei und wohl »das Erbe« übernehmen werde. »Sehen Sie nicht, dass Ihr Chef schon alles verspielt?« Und dann noch deutlicher: »Meinen Sie nicht, dass die Zeit Ihres Generalsekretärs abgelaufen ist? Wollen Sie dies nicht in Ihrem Politbüro besprechen?« Krenz will diplomatisch ausweichend reagiert haben, womit er nicht nur Ustinow sichtlich enttäuschte. Honeckers Autorität sei beachtlich, sagte Krenz, er sehe niemanden, der ihm das Vertrauen entzöge.

Am Rande des XI. Parteitages der SED 1986 konferierten Gorbatschow, seit einem Jahr Generalsekretär, und Honecker erneut. Moskau meine, »es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, die Beziehungen zur Bundesrepublik zu verbessern«, begründete er die »Bitte«, dass Honecker auch in diesem Jahr nicht reise. »Erich, wie soll ich es meinem Volk erklären, wenn du in dieser Situation die Bundesrepublik besuchst?« Worauf Honecker mit gleicher Münze zahlte: »Und was sagen wir unserem Volk, das in tiefer Sorge um den Frieden ist und deshalb will, dass ich endlich fahre?«

Dann fuhr er im September 1987. Ohne Gorbatschows Segen, aber mit dessen Missfallen. Gorbatschow reiste nämlich erst im Juni 1989, also nach Honecker, und nachdem Gras über Kohls unsäglichen Goebbels-Vergleich vom Oktober 1986 gewachsen war.

Dies alles hätte, wenn denn Erich Honecker nach seiner Bonn-Visite hingeschieden wäre, möglicherweise Einfluss auf die Größe der sowjetischen Delegation gehabt, die nach Berlin zu den Trauerfeierlichkeiten gekommen wäre.

Honeckers Reisen nach Österreich (1980), Japan (1981), Finnland (1984), Italien (1985), Griechenland (1985), Schweden (1986), Belgien (1987), in die Niederlande (1987) und nach Spanien (1988) waren Ausdruck ernsthafter Entspannungsanstrengungen der DDR. Honecker wollte insbesondere nach NATO-Nachrüstung und Moskaus Rückzug von allen Abrüstungsgesprächen und dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan eine weitere Zuspitzung der Blockkonfrontation, der Spannungen und des Wettrüstens verhindern und setzte dabei sein eigenes politisches Schicksal aufs Spiel. Er wäre nicht der erste Parteichef im Ostblock gewesen, den Moskau aufs Schafott oder in die Wüste geschickt hätte. Mit seiner konsequenten Haltung erwarb sich Honecker weltweit Achtung und Anerkennung. Wenn im fünfköpfigen norwegischen Komitee nicht der Antikommunismus vorgeherrscht hätte, wäre er ein würdiger Kandidat für den Friedensnobelpreis gewesen. Selbst postum.

Aber Honecker »überlebte«. Und das war sein Malheur. Nicht die – durchaus verständliche und begründete – Distanz zu Gorbatschow erwies sich in der Folgezeit als Problem, sondern seine Unfähigkeit, ja sein Unwille, auf die Veränderungen in der Gesellschaft, auf dem Kontinent, in der Welt angemessen zu reagieren. Jahrelange Schmeicheleien hatten Spuren hinterlassen. Er war erkennbar überfordert, hinzu kamen Alter und Krankheit, die ebenfalls ihren Tribut forderten. Die Entwicklung rollte über ihn hinweg, ohne dass er dies wahrnahm oder gar Schlüsse für sich zog. Trotzig ließ er auf der ersten Seite des Neuen Deutschland am 3. Dezember 1988 in großen Lettern verkünden: »XII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands einberufen«. Der sollte im Mai 1990 stattfinden. »Berichterstatter: Genosse Erich Honecker.«

Er überlebte dieses Datum, nicht aber in seiner Funktion. Der Parteitag fand nicht statt und die DDR löste sich auf.

Jahre später, Honecker war bereits am 28. Mai 1994 im chilenischen Exil verstorben, hatte ich Autoprobleme in Portugal. Die Mietwagenfirma schickte einen Reparateur, der, als ich die Frage nach meiner Herkunft mit »Berlin« beantwortete, präziser wurde: »East or West?« Die feine Unterscheidung verwunderte mich an diesem Ort durchaus, und als ich wahrheitsgemäß Auskunft gab, wurde das Gesicht des Portugiesen noch eine Spur freundlicher. Er reckte den Daumen der rechten Hand in die Höhe und sagte: »Erich Honecker – great leader.« Nun war mein Englisch so miserabel wie das seinige, und eine andere Möglichkeit der Kommunikation bestand nicht, um ihm meine etwas komplexere Sicht auf EH mitzuteilen, weshalb ich mich darauf beschränkte, meinen Daumen zu heben und zu erklären: »Álvaro Cunhal – great leader.«

Im Nachgang gab ich dem Portugiesen jedoch in gewisser Weise Recht. Ein großer Führer war Honecker zwar nicht gewesen, aber er hatte in einer angespannten Zeit als Friedenspolitiker politisch Vernünftiges und Notwendiges getan, wofür ihn die Nachwelt durchaus rühmen kann und sollte.

Selbst wenn er vielleicht zu spät von uns gegangen war.

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