Freitag, 31. Mai 2019

Dem Regime in Algerien fehlt es an Kandidaten für seine Wahlfarce – aber nicht an Todesopfern…


Eine Demonstration in Algier am 26.2.2019 - nicht nur an den Freitagen wird gegen das "5. Mandat" für Bouteflika protestiert...„… Stell dir vor, es gibt Wahlen und keiner geht hin: In Algerien wird diese Anarcho-Fantasie wohl wahr. Doch nicht die Wähler bleiben aus (die Wahlbeteiligung muss in dem nordafrikanischen Land von jeher vom Regime retuschiert werden), nein, es fehlt an Kandidaten. Für die am 4. Juli geplante Präsidentschaftswahl haben lediglich zwei völlig unbekannte Algerier ihr Dossier eingereicht. Es handelt sich um den Tierarzt und Unternehmer Abdelhakim Hamadi sowie den Pharmavertreter Hamid Touahri, der auch im Bausektor tätig ist. Der Verfassungsrat muss jetzt prüfen, ob die beiden alle Bedingungen für eine Kandidatur erfüllen. Nationalität und Wohnsitz in Algerien dürfte kein Problem sein. Doch die Presse bezweifelt, dass sie die Bürgschaft von 600 gewählten Volksvertretern oder die Unterschrift von 60.000 Bürgern aus mehr als der Hälfte der 48 Provinzen des Landes vorweisen können. Das Fehlen von Kandidaten ist der vorläufige Höhepunkt in einem seit dem 22. Februar anhaltenden Konflikt zwischen der Bevölkerung und dem Regime. An jenem Freitag gingen Zehntausende für einen Regimewechsel auf die Straße. Sie wollten verhindern, dass der schwerkranke Präsident Abdelaziz Bouteflika nach 20 Jahren an der Macht erneut kandiert. Bouteflika zog sich tatsächlich zurück, doch die Proteste gehen weiter. Die Demonstranten wollen vorerst keine Wahlen, sondern einen Übergang zu einem demokratischen Algerien. Die Parteien, die einst Bouteflika stützten, halten zwar am Wahltermin im Juli fest, wollten unter dem Druck der Straße aber keine Kandidaten aufstellen…“ – aus dem Bericht „Taktieren vor umstrittener Wahl“ von Reiner Wandler am 30. Mai 2019 in der taz online externer Link, worin zusammenfassend darauf verwiesen wird, dass eine nötige Wahlverschiebung bedeuten würde, erstmals einen Schritt über die geltende Verfassung hinaus zu gehen. Was das zweite Treffen oppositioneller Gruppierungen nach Angaben des Sprechers der unabhängigen Lehrergewerkschaft Cnapeste bei allen Differenzen auch so gesehen habe… Siehe dazu einen weiteren Beitrag zur „Wahlsituation“, zwei Beiträge zum Tod eines hungerstreikenden Aktivisten im Gefängnis, sowie einen Beitrag zur möglichen transnationalen Bedeutung der Massenproteste –  und den Hinweis auf die Solidaritätskampagne mit Louisa Hanoune, die wegen ihrer Kritik an der Wahlfarce ins Gefängnis geworfen wurde:
  • „Algerien steht vor einer umstrittenen Präsidentenwahl“ von Ulrich Schmid am 28. Mai 2019 in der NZZ online externer Link, worin unter anderem darauf verwiesen wird: „… Das algerische Volk allerdings will weder die Übergangsfiguren noch die auffallend hastige Wahl. Seit Februar demonstrieren riesige Menschenmengen im ganzen Land für eine neue, transparentere und demokratischere Republik und sagen, eine Wahl unter der Ägide der alten Elite könne keine faire und gerechte sein. Am Wochenende gingen in Algier und anderen Städten wieder Zehntausende auf die Strasse und forderten friedlich wie immer eine Verschiebung der Wahl, die sofortige Entfernung Bensalahs und Bedouis, eine umfassende personelle Erneuerung des Verwaltungsapparats sowie den Rücktritt des Generalstabschefs Ahmed Gaid Salah. Seit 14 Wochen bereits versammeln sich die meist jungen, urbanen und säkularen Menschen, doch von Ermüdung ist bis heute nichts zu spüren. «Nein zu Wahlen der Schande! Erst müssen Bensalah and Bedoui weg», war auf Transparenten in Algier zu lesen. Doch Salah, die entscheidende Figur in der Armeeführung, will eine algerische Transition nach seinem Gusto und in eigener Regie. Die Präsidentenwahl sei nötig, um denen in die Parade zu fahren, die mit ihren sinisteren Machenschaften die Krise im Land verlängerten, sagte er vor einigen Tagen auf einer Reise im Süden Algeriens. Die Wahl müsse am 4. Juli stattfinden, so, wie es die Verfassung vorschreibe. Die Forderungen der Demonstranten nach einer breiten Umbesetzung in der Staatsspitze nannte Salah «unvernünftig». Ob es dem General gelingt, den Patriotismus und die guten Absichten der Unzufriedenen auf diese Weise zu diskreditieren, ist allerdings fraglich…“
  • „Algeriens Ausstrahlungskraft und der Dschihadismus in der Sahara“ am 30. Mai 2019 bei FFM online externer Link ist die kommentierte Dokumentation eines (übersetzten) Interviews aus Le Monde über die internationale Dimension der Proteste (insbesondere) in Algerien und dem Sudan, worin der Genfer Professor Jean-François Bayart auf die Fragen von Coumba Kane und Joan Tilouine unter anderem antwortet: „… In Algerien und im Sudan bleibt das Geschehen sehr offen. Man darf weder die politsche Intelligenz, die Gewalt, den Zynismus noch die soziale Basis der autoritären Regimes vergessen, die durch die demokratische Mobilisierung erschüttert werden. Ausserdem kommt aus dem Ausland [für die Protestbewegungen] keine Unterstützung. Angesichts der „Bedrohung“ durch Dschihadist*Innen und Migrant*Innen werden die westlichen Länder wieder die Karte der Ordnung spielen, auch mit dem Preis der Repression. […] Falls die Revolutioin das alte politisch-militärische System hinwegfegt, wird es eine Schockwelle geben. Marokko hat große Angst vor einem Flüchtlingszustrom, und vielleicht auch davor, seinen alten Komplementär-Feind zu verlieren, der für die Legitimierung der marokkanischen Sahara-Politik so nützlich ist. Algier hat immer den Traum gehabt, der Hegemon Afrikas zu sein, aber seine Bestrebungen kollidieren mit denen Marokkos und Ägyptens. Außerdem ist die algerische Haltung zum Dschihadismus ambivalent gewesen. Algier hat nach dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre seine eigenen Dschihadisten in den Sahel externalisiert. Algerien ist für Westafrika ein wenig das, was Pakistan für Südasien ist. Wenn eine echte demokratische Revolution das militärisch-politische Regime stürzt, das seit der Unabhängigkeit besteht, kann Algerien aufs Neue ein Pol der Soft-Power mit kontinentaler Bedeutung werden, so wie es ein revolutionärer Drittwelt-Pol in den Jahren 1960-1970 gewesen ist…“

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