Freitag, 31. Mai 2019

Hajo Funke über die Gefährdung der Demokratie und darüber, wie der Vormarsch der Rechten aufzuhalten ist

Glaubwürdig, sozial und sensibel

Vor den Wahlen zum Europaparlament prognostizierten Sie, dass über 20 Prozent der Stimmen an rechte Parteien oder Bewegungen gehen. Ihre Befürchtungen sind teils übertroffen worden. Sind Sie schockiert?
Problematisch ist insbesondere das Wahlergebnis in Ostdeutschland, in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Auf nationaler Ebene hat die AfD gerade mal zehn Prozent erhalten. Die Enttäuschung darüber konnten deren Repräsentanten nicht verbergen. Und gesamteuropäisch ist den rechtspopulistischen und rechtsextremen Formationen der Durchmarsch ebenfalls nicht gelungen. Ihr Vormarsch ist gebremst. Ihr in Mailand verkündetes Vorhaben »Wir rocken Europa« konnten sie nicht einlösen.

Hajo Funke

Hajo Funke, Jg. 1944, war im Jahr der Revolte 1968 Sprecher der studentischen Fachschaft des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin (FU) und später im Sozialistischen Büro (SB), einer Organisation der Neuen Linken, aktiv. Nach Anstellungen am Wissenschaftszentrum Berlin und an der  Sozialforschungsstelle Dortmund war er Associate Professor an der University of California, Berkeley, und ab 1993 Professor für Politische Wissenschaft an der FU. Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter für Holocaust Studies and Communication am Touro College Berlin. 
Funke forscht und publiziert vor allem über die NS-Zeit, über Rechtsextremismus und Antisemitismus. Er verfasste unter anderem ein Gutachten im Hauptverfahren gegen den Holocaustleugner David Irving. 
Mit dem Politikwissenschaftler sprach Karlen Vesper.
Besorgniserregend ist aber in der Tat die Entwicklung in Großbritannien und Italien, wo sich mehr als ein Drittel der Wähler für das rechtspopulistische, rechtsextreme Spektrum entschieden und die Politik dominieren. Das Beispiel Österreich, wo ÖVP und FPÖ fast gleich stark waren und eine Koalition, die nun zerbrochen ist, eingegangen sind, zeigt, um wie viel schwerer es ist, Strategien gegen die Usurpation der Gesellschaft von Rechts zu entwickeln, wenn diese Leute erst einmal in einem Kabinett sitzen.
Das Strache-Video hat die FPÖ aber immerhin einige Stimmen und Ministerposten gekostet.
Ja, die FPÖ war schon mal knapp unter 30 und ist jetzt auf 18 Prozent zurückgedrängt.
Sollte Österreich nicht eine Mahnung an alle Demokraten sein, auch in Deutschland, keinerlei Koalition, in welcher Situation auch immer, mit Rechtspopulisten und Rechtsextremen einzugehen?
Ja, das ist auch meine Meinung. Österreich bewies, wie demokratiefeindliche Kräfte, kaum an die Macht gelangt, den Rechtsstaat auszuhebeln und die Pressefreiheit - die bei unserem Nachbar ohnehin seit langem geschwächt ist - zu eliminieren versuchen, ob durch Übernahme der »Kronen-Zeitung« oder Angriffe auf den ORF. Der putschartige Übergriff unter dem rechtsextremen Innenminister Herbert Kickl auf den Verfassungsschutz - ein an sich schon sehr problematisches, eigentlich absurdes System - zeugt davon, dass die Rechten nicht vor einer Pervertierung des Rechtsstaates zurückschrecken.
Sie nennen das Verfassungsschutzsystem »absurd« - basiert diese Einschätzung auf Ihren Erfahrungen als Sachverständiger der Oppositionsfraktionen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags und der Maaßen-Affäre?
Nicht nur. Absurd ist das Verfassungsschutzsystem, weil seine fehlende Kontrolle sich gegen die Sicherheit der Bevölkerung wenden lässt. Die Absurdität wird getoppt, wenn man - wie Kickl es tat - die von Verfassungsschützern erfassten eigenen Leute warnen kann. Das kommt einer Implosion dieser Institution gleich, die ihre Funktion, den Schutz der Verfassung, dann überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann. Und wir wissen alle, was Björn Höcke vorhat, wenn er an der Macht ist. Das hat er in dem Buch »Nie zweimal in denselben Fluss« offen beschrieben. Der Hetze gegen Minderheiten und Migranten würde die Re-Migration von Millionen Menschen folgen. Und das wird zweifelsfrei von Gewalt begleitet, wie er selbst scheinheilig-bedauernd einräumt.
Sie haben gewiss seit Ihrer aktiven Zeit in der Studentenbewegung, im SDS, auch eine Verfassungsschutzakte?
Ich habe mich für meine Akte noch nie interessiert. Es wird eine geben. Ich war drei Semester relegiert. Die Relegation musste von der Universität dann durch Gerichtsbeschluss zurückgenommen werden.
Was ist gegen Rechts zu tun?
Es gibt Erfahrungen, dass man auch in schwierigen Konstellationen, auch in Ostdeutschland, auf Stadt-, kommunaler und Landesebene eine gute, bessere Politik machen kann. Worin besteht diese? Erstens in Glaubwürdigkeit. Die Menschen müssen erkennen, dass man das, was man sagt, auch ernst meint und umzusetzen versucht. Nur zuhören reicht nicht. Man muss etwas tun, handeln. Und das muss überprüfbar, transparent sein. Ein gutes Beispiel hierfür hat der Bürgermeister von Oranienburg geboten, der knapp 30 Jahre im Amt war. Hans-Joachim Laesicke, den ich gut kenne, fuhr mit seinem Fahrrad durch die Stadt und war jederzeit von jedermann ansprechbar. Einem jungen Mann, der sich vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht hatte, versprach er beispielsweise: »Ich kümmere mich darum.« Und er hat sich gekümmert. Das ist nur ein Beispiel. Dafür hat Laesicke 50, 60, 70 Prozent der Stimmen bekommen, ist immer wiedergewählt worden.
Zweitens sind die Probleme des Alltags, die sozialen, die kulturellen, die ökonomischen, die Sicherheitsprobleme konsequent anzugehen und zu beheben. Nicht nur darüber schwafeln. Man muss versuchen zu verstehen, warum Leute enttäuscht sind, es Unbehagen gibt. Eine politische Verwaltung und politische Repräsentation muss sich kundig machen, sich bewegen und praktisch antworten. Und zwar täglich.
Drittens muss man sehr klar sagen, welche Gefahren durch Rechtspopulisten und Rechtsextreme für ein gewaltarmes Zusammenleben drohen. Das ideologische Fundament von Höckes Re-Migrationsprojekt ist Rassismus. Die AfD und andere rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien wollen unsere soziale, kulturelle Landschaft zerstören. Es muss in aller Deutlichkeit betont werden, dass sie destruktiv, konfrontativ, aggressiv sind.
Über Mittel, gegen diese vorzugehen, müsste eine wehrhafte Demokratie verfügen?
Ich bin sehr dafür, Parteien, die eindeutig Rassismus pflegen, mit den Mitteln des Rechtsstaats zu begegnen, im Zweifel mit dem Verbot. Das ist leider im Fall der NPD nicht geschehen. Es geschieht nicht hinsichtlich der Kleinstparteien »Die Rechte« und »Der III. Weg«. Auch die Gruppierung um Höcke, der die AfD vor sich hertreibt, rückt immer weiter nach rechts, braucht eine Eindämmung.
In Ihrem neuen Buch »Der Kampf um die Erinnerung« gehen Sie auf die unbewältigte Vergangenheit bzw. den Streit um diese ein. Wäre es nicht notwendig, im Grundgesetz Antifaschismus als Staatsdoktrin zu kodifizieren?
De facto ist das Grundgesetz von einem antifaschistischen Konsens, mehr noch, einem antinationalsozialistischen Konsens durchzogen. Diesen zu stärken, in Verbindung mit dem Grundrecht der Menschenwürde, ist eine Herausforderung konkreter Politik. Alles, was die Würde von Menschen verletzt und einschränkt, ist konsequent zu ahnden. Das ist eine Lehre aus der Weimarer Republik. Damals konnten Antidemokraten ungestraft Verbrechen begehen, Recht verletzen und wurden immer stärker, bis es dann zu spät war, ihrer Herr zu werden. Sich dessen bewusst zu sein, dies im kollektiven Gedächtnis zu verankern, ist der Sinn historisch-politischer Erinnerung. Die Neuen Rechten beziehen sich auf Weimarer Nationalisten und Antidemokraten wie Ernst Jünger oder Carl Schmitt, der für das »Führerrecht« eingetreten ist. Sie bekennen ganz offen: »Das ist unsere Perspektive.« Das muss man sich mal vorstellen! Ungeheuerlich.
Haben wir wieder Weimarer Verhältnisse?
Bonn war nicht Weimar, Berlin ist nicht Weimar. Aber zweifellos: Die Rechtspopulisten und Rechtsextremen identifizieren sich mit den antidemokratischen Rechten der Weimarer Republik, mit den Wegbereitern des Nationalsozialismus. Der das vermittelt hat, der Apologet der »Konservativen Revolution«, der Schweizer Armin Mohler, wird gefeiert von der »Jungen Freiheit« von Karlheinz Weißmann, von Götz Kubitschek, von den Identitären. Die »konservativen Revolutionäre« seien angeblich die Trotzkisten des Nationalsozialismus gewesen, dabei waren sie Wegbereiter des Nationalsozialismus.
1998 schrieben Sie über den »aufhaltsamen Marsch« der Neuen Rechten. Man hat den Eindruck, mittlerweile Zeuge eines unaufhaltsamen Marsches zu sein.
Der Marsch der Neuen Rechten ist aufhaltsam. Sie sind mit ihren Stimmen abgesackt, kommen auf Bundesebene nicht über zehn Prozent hinaus. In einigen Kommunen und vor allem in einigen ostdeutschen Ländern erhalten sie leider aber 25 , teils 30 Prozent.
Kann man eigentlich noch von »Protestwählern« reden wie vor einigen Jahren?
Nein, in einem Teil der Bevölkerung hat sich die antidemokratische Haltung verfestigt. Und je länger man entgeistert zuschaut und nichts tut, desto weiter verfestigt sich diese, wird der Wunsch nach einem autoritären, illiberalen, Minoritäten und Migranten verjagenden Staat größer. Andererseits gibt es die sogenannten Wutbürger oder - wie sich die Bremerhavener Gruppe nennt - »Bürger in Wut«. Sie tragen eine politisierte Wut vor sich her, hegen Ressentiments gegenüber Anderen, gegenüber Westlern, gegenüber Städtern, gegenüber vordefinierten Minderheiten, die zu Sündenböcken gemacht werden. Durch das Entfesseln von Ressentiments wird der gesellschaftliche Resonanzboden gefährlich ins Schwingen gebracht und könnte ein Umkippen der Zustände bewirken. Deswegen ist es so entscheidend, dass die Rechten nicht das Gefühl erhalten, Oberwasser zu haben. Sie dürfen nicht triumphieren. Es war interessant zu erleben, wie Guido Reil, der ehemalige Sozialdemokrat, der nunmehr für die AfD ins Europaparlament einzieht, sich fuchsteufelswild gebärdete, weil das Wahlergebnis unter seinen Erwartungen lag. Auch Alexander Gauland und Jörg Meuthen, der Hooligan der Talkshows, war die Enttäuschung anzumerken. Man muss und kann sie stoppen.
In Italien, Frankreich, Großbritannien sind die Rechten als die stärksten Parteien aus der EU-Wahl hervorgegangen.
In Italien ist es sehr schwierig. Das Parteien- und Politiksystem ist dort anfälliger, die Ökonomie schwächer als bei uns und die Herausforderungen bei der Bewältigung der Migrantenströme sind enorm. Sie haben auch eine nach rechts ziemlich weit offene Mobilisierungstradition. Matteo Salvini kann direkt an Mussolini anknüpfen. In Deutschland ist eine Bezugnahme auf Hitler nicht so leicht möglich. Der Erfolg von Nigel Farages neuer »Brexit-Partei« erklärt sich aus dem Brexit-Drama; das braucht man nicht weiter zu kommentieren. In Frankreich haben wir seit Jahrzehnten die Formation um Marine Le Pen, einen Block von sozial Abgehängten sowie seit jeher nationalistischen, autoritären, sich aggressiv gegenüber den Migranten aus den ehemaligen Kolonien verhaltenden Bürgern. In Österreich hat es nie eine wirklich ernsthafte und wirksame Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegeben. Als ich 1986 in Wien war, um gegen den Antisemitismus im Wahlkampf des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim zu protestieren, seine NS-Vergangenheit und die Kriegsverbrechen seiner Einheit anzuprangern, wurde ich verhaftet. Die »Kronen-Zeitung« hat übrigens damals Waldheim zu seinem Sieg verholfen, die gleiche Zeitung, die heute beinahe Opfer eines korrupten, übermütigen Rechtspopulisten geworden wäre. So sind die österreichischen Verhältnisse.
Die Anfälligkeit für rechtes Gedankengut ist meines Erachtens auch in mangelnder Bildung begründet, womit ich nicht nur die Aufklärung über die Verbrechen der Nazis meine, sondern Allgemeinbildung. Wir lasen in der Schule Herders »Stimmen der Völker in Liedern«, Lessings »Nathan der Weise«, Heines »Deutschland, ein Wintermärchen«.
Bildung ist natürlich wichtig. Aber ebenso wichtig ist das Gespräch mit jenen, die beispielsweise bei Pegida-Demonstrationen mitmarschieren. Da erfährt man, dass sie qualifizierte Facharbeiter waren und jetzt von Hartz IV leben müssen. Deshalb wiederhole ich: Man muss vor Ort gute, soziale und sensible Politik machen und sich um Glaubwürdigkeit bemühen. Man muss kämpfen. Demokratie hat immer mit Kampf um Ideen und Köpfe zu tun. Demokratie bedeutet die Anerkennung der Anderen und ihrer Verschiedenheit. Und Demokratie existiert nicht, wenn sie nicht zugleich eine soziale ist. Das ist eine Erkenntnis meiner politikwissenschaftlichen Ahnherren aus dem Nationalsozialismus.
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