Mittwoch, 29. Mai 2019

Zufallsinferno (Ralph Hartmann)


In der nordamerikanischen Universitätsstadt Lawrence ging alles seinen friedlichen alltäglichen Gang. Bis zu dem Moment, an dem über der nahe gelegenen Metropole Kansas City Atomsprengköpfe explodierten. Das Inferno dauert nur wenige Minuten, dann ist die Großstadt in einem gigantischen Feuersturm ausgelöscht. Zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion ist ein kurzer infernalischer Kernwaffenkrieg ausgebrochen. Verlauf und grauenhafte Folgen zeigte der 1983 auf dem Kanal der Fernsehgesellschaft ABC ausgestrahlte Film »The Day After« (Der Tag danach). Trotz aller Schrecken gibt es in dem Fernsehfilm Überlebende, die unter katastrophalen Bedingungen dahinvegetieren. Ihnen spendet der US-Präsident im Radio Trost: »Amerika hat überlebt, wir haben uns nicht ergeben, lasst uns diese große Nation wiederaufbauen.« Ein wohl aussichtsloses Unterfangen.

Das weiß man auch in den Vereinigten Staaten. Ebenfalls 1983 haben renommierte US-Wissenschaftler, darunter Biologen, Atmosphärenforscher und Radiologen, eine Studie zu den Folgen eines Nuklearkrieges veröffentlicht. Darin kamen sie zu dem Schluss, dass nicht nur Hunderte von Millionen Menschen sofort getötet und zumindest ebenso viele Schwerstverletzte in den Wochen danach sterben würden. Riesige Wolken von Staub und Trümmerteilen würden die Sonne lange Zeit verdunkeln und die Temperatur selbst im Sommer unter die Nullgradgrenze drücken. Die Folge wäre eine Klimakatastrophe, in der die Photosynthese unmöglich wird, die Pflanzen sterben und die überlebenden Menschen verhungern.

Angesichts der nicht zu leugnenden Gefahr für die Existenz der Menschheit gab es in der nachfolgenden Zeit zahlreiche Versuche, die nukleare Aufrüstung zu beenden. Dazu zählte auch die von den nichtpaktgebundenen Staaten 2013 in der UNO eingebrachte Resolution 68/32 über die humanitären Folgen eines Kernwaffenkrieges. Darin wird die Genfer Abrüstungskonferenz aufgefordert, unverzüglich multilaterale nukleare Abrüstungsverhandlungen aufzunehmen. Während 137 Delegationen die Resolution unterstützten, stimmte die Bundesrepublik gemeinsam mit den Nuklearmächten Frankreich, Großbritannien, Russland, USA und anderen NATO-Staaten dagegen.

Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass auch ein falscher Alarm enorme Risiken in sich birgt. Bereits 1958 hat Albert Schweitzer eindrücklich vor dieser Gefahr gewarnt: »Die durch das Aufkommen von atomaren Raketenwaffen gesteigerte Kriegsgefahr wird größer noch dadurch, dass der Atomkrieg wohl kaum auf Grund einer Kriegserklärung von Seiten einer Atommacht statthaben, sondern durch irgendein Vorkommnis zufällig zum Ausbruch kommen wird … So fühlt man sich hüben und drüben genötigt, des Überfalls täglich und stündlich gewärtig zu sein, um ihn durch eine augenblicklich erfolgte kraftvolle Abwehr so viel wie möglich zu vereiteln. Diese Nötigung schnellster Abwehr ist es, welche die große Gefahr des zufälligen Ausbruchs eines Atomkrieges in sich trägt. Bei der Schnelligkeit, mit der entschieden werden muß, was das auf dem Radarschirm sichtbar Werdende bedeutet, ist die Möglichkeit eines verhängnisvollen Irrtums gegeben, der unter Umständen den Ausbruch eines Atomkrieges zur Folge haben kann.«

Wie real Schweitzers Warnung war, zeigte sich unter anderem am 25. September 1983 in einer strenggeheimen Frühwarnzentrale bei Moskau. Hier arbeitete ein 300 Tonnen schweres Radargerät, das von sowjetischen Spionagesatelliten mit unzähligen Daten gefüttert wurde. Seine Aufgabe war es, einen möglichen Start von US-Raketen zu beobachten. In einem Großcomputer wurden die gewonnenen Daten verarbeitet, um die Koordinaten feindlicher Raketen umgehend festzustellen. Am besagten Tag gegen Mitternacht geschah es. Die Alarmsirenen heulten auf, und in roten Buchstaben flackerte auf einem wandgroßen Bildschirm: START. Das Frühwarnsystem hatte den Abschuss einer Atomrakete von einer US-Basis registriert. Der diensthabende Oberstleutnant der Luftverteidigung Stanislaw Petrow stand vor einer schweren Entscheidung: Sollte er den Alarm an die sowjetische Führung weitergeben, die in der aufs Äußerste angespannten internationalen Situation selbst einen US-amerikanischen Erstschlag nicht ausschloss und folglich die eigenen Raketen einsatzbereit hielt, oder sollte er die Alarmmeldung noch einmal überprüfen? Er entschloss sich zu Letzterem, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass die USA einen nuklearen Angriff mit nur einer Rakete beginnen würden. So informierte er seinen militärischen Vorgesetzten, dass es sich um einen Fehlalarm handele. Hätte er anders gehandelt, wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem verheerenden Nuklearkrieg gekommen. Der Weltfrieden hing an einem seidenen Faden, und Oberstleutnant Petrow, so jedenfalls viele Zeitzeugen und Historiker, hatte ihn gerettet. Aber auch in den USA gab es ähnliche falsche Alarmmeldungen. Selbst den Flug von Vogelscharen meldeten ihre Frühwarnsysteme als heranfliegende Atomraketen Moskaus, worauf sie ihre ballistischen Raketen in Gefechtsbereitschaft versetzten.

Angesichts der gewaltigen Kernwaffenpotentiale Russlands und der USA, der wachsenden Zahl von über Atomwaffen verfügenden Staaten, des Einsatzes von künstlicher Intelligenz und vollautomatischen Systemen in den Raketenstellungen und Frühwarnsystemen ist die Gefahr versehentlicher, falscher Alarme gewachsen. Das ist der Grund weshalb der Kreml im Oktober 2018 der US-Regierung einen Dokumententwurf übergab, in dem vorgeschlagen wird, alle notwendigen Maßnahmen zu vereinbaren, die nicht nur einen bewussten sondern auch einen versehentlichen Atomwaffeneinsatz verhindern sollen. Auch nach sieben Monaten wartet Moskau noch immer auf eine Antwort. Auch das lange Telefongespräch zwischen den Präsidenten Trump und Putin vom 3. Mai diesen Jahres hat allem Anschein nach daran nichts geändert. Im Weißem Haus und im State Department denkt man offenbar: Kommt Zeit, kommt Rat. Bis es zu spät ist, und dann kann niemand mehr einen Film »The Day After« drehen.

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