Mittwoch, 29. Mai 2019

Bloß nicht langweilen – Zur Dialektik von Integration und Widerstand und zum Zwiespalt zwischen Hoffnung und Erfahrung angesichts elender Verhältnisse


Kapitalismuskritik“… Sobald ich das Haus verlasse, treffe ich auf digitale Lemminge und junge Männer, die in Autos steigen, die über einen eingebauten Soundgenerator und künstliche Fehlzündungen verfügen. Anschließend rasen sie mit denen röhrend durch die Stadt. Rasend schnell nach Nirgendwo. Dieser Lebensstil birgt den Vorteil, nicht denken zu müssen. Wer es eilig hat, kann nicht denken. Jede kleinste Unterbrechung, jedes Zögern birgt die Gefahr, dass man zu denken anfängt, und das könnte dazu führen, dass einem der Wahnsinn der ganzen leeren Betriebsamkeit aufgeht. (…) Die Entfremdung schreitet voran. Sie wird zum bestimmenden Merkmal aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Warenform wird universell, erfasst Alltagsleben und Intimität. Kälte und Indifferenz breiten sich immer weiter aus. (…) Keiner nimmt auf niemand Rücksicht, niemand hält einem die Tür auf, schon Blickkontakt ist eine Seltenheit. Unter 30jährige wischen beinahe ständig auf ihren Smartphones herum oder sprechen in sie hinein. Selbst auf dem Fahrrad wird telefoniert. Die Leute erleiden ihre Totalüberwachung nicht, sondern zelebrieren sie als Freiheit. Die unterworfenen Subjekte sind sich ihrer Unterwerfung nicht einmal bewusst. Diesen Zustand hat der französische Soziologe Henri Lefebvre als »Entfremdung zweiten Grades« bezeichnet. Mit solchen Menschen ist einstweilen nichts zu machen, jedenfalls keine Revolution. Wenn unsere Zukunft ein digitaler Kapitalismus ist, fragt sich, wie Leute, die mit ihren Geräten verwachsen sind, dagegen Widerstand leisten sollen? Sollen sie gegen sich selbst rebellieren? Sie sind bestens integriert und erleben die Funktionsimperative des Systems als ihre intimste Leidenschaften. Sie wollen, was sie wollen sollen. Nicht einmal der drohende ökologische Kollaps veranlasst sie, ihre Lebensweise in Frage zu stellen und zu ändern. Unter solchen Bedingungen über eine neue und qualitativ andere, solidarische Gesellschaft nachzudenken, ist müßig. (…) Als Theoretiker bin ich pessimistisch, aber als Mensch kann ich nicht aufhören zu hoffen, dass es irgendwann anders wird. So wird aus einem Text, recht eindimensional pessimistisch begonnen, doch noch ein dialektischer, der meine eigene Zerrissenheit spiegelt. Dialektik bedeutet, etwas salopp ausgedrückt: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr! Solange wir es mit lebenden Menschen und nicht mit Cyborgs zu tun haben, ist ein glücklicher Ausgang des geschichtlichen Prozesses und eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausgeschlossen. Geschichtlich möglich ist diese längst, es hängt vom Bewusstsein und Willen der Menschen ab, ob aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird. Noch ist alles in der Schwebe…” Artikel von Götz Eisenberg in der jungen Welt vom 28. Mai 2019 externer Link

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