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»Erdogan wird noch schwächer dastehen«
Kurz nachdem die Hohe Wahlkommission der Türkei (YSK) am Montag in Istanbul das Wahlergebnis vom 31. März für ungültig erklärte, war eine Delegation der türkisch-kurdischen Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) im Rahmen einer bereits länger geplanten Reise in Berlin. Feleknas Uca (zu sehen in der Mitte des Bildes aus dem Jahr 2016) ist außenpolitische Ko-Sprecherin der Partei und seit 2015 Abgeordnete im türkischen Parlament. Zuvor war Uca Abgeordnete der LINKEN im Europaparlament.
Waren Sie überrascht von der am Montag gefällten Entscheidung der Hohen Wahlkommission YSK, die Wahlen in Istanbul zu annullieren?
Wir haben damit gerechnet, da die AKP in letzter Zeit vermehrt Druck auf die Wahlbehörde ausgeübt und immer wieder angekündigt hat, das Ergebnis anzufechten.
Wie bewerten Sie die Entscheidung?
Was wir hier erleben, ist ein ziviler Putsch gegen die Demokratie, gegen die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler. Deren Wille war die Wahl von Ekrem İmamoğlu, man hat ja gesehen, dass er breit unterstützt wurde. Ihm wurde sogar seine Wahlurkunde ausgestellt und er saß schon im Rathaus, als die Wahl plötzlich für ungültig erklärt wurde. Da kann man nicht von einer Demokratie sprechen.
Bei den Wahlen am 31. März hatte Ihre Partei, die HDP, in Istanbul und anderen Städten keine eigenen Kandidaten aufgestellt, sondern das CHP-Iyi-Parti-Bündnis unterstützt. Gibt es bereits eine Strategie für die Wahlwiederholung am 23. Juni?
Wir haben die Entscheidung ja erst am Montagabend erfahren. Unser Parteivorstand und die Parlamentsfraktion haben am Dienstag getagt. In den nächsten Tagen werden sich noch weitere Gremien beraten. Fest steht, dass wir erneut keinen eigenen Kandidaten in Istanbul aufstellen.
Allerdings: Bei unserer Strategie sprechen wir nicht davon, die CHP zu unterstützen, sondern wir unterstützen weiterhin den gesamten demokratischen Block.
Können Sie sich vorstellen, dass die AKP in den nächsten Wahlen tatsächlich Stimmen gewinnt?
Ich denke, die Wahlen am 31. März waren ein Denkzettel für Erdoğan für seine Kriegspolitik, für die Wirtschaftspolitik, den Ausnahmezustand, die Militärintervention in Afrin und die tagtäglichen Bedrohungen während des Wahlkampfs. Die Wähler haben sich bei der ersten Wahl bereits entschieden, und ich gehe davon aus, dass das Ergebnis bestätigt werden wird. Erdoğan wird noch schwächer dastehen, denn die Menschen merken, dass die AKP nicht bereit ist, ihre Entscheidung zu respektieren.
Wenn Erdoğan aber die ersten Wahlen schon nicht akzeptiert hat, wie kann man sicherstellen, dass er die nächsten dann anerkennt?
Gerade weil er sie nicht akzeptiert hat, ist es umso wichtiger, jetzt zu den Wahlen zu gehen und eine klare Entscheidung gegen das autoritäre System mitzutragen. Denn dieses Land wird in eine Krise geführt, was man nur mit einem Aufschrei verhindern kann, nicht indem die Bevölkerung zu Hause bleibt. Seit dem Putschversuch erlebt das ganze Land Repressionen, Diskriminierung und Massenentlassungen, deswegen werden die Leute noch einmal umso deutlicher sagen: »Jetzt reichts!«. Wenn wir die Türkei wirklich befreien wollen von dem sich ausbreitenden Staatsterror, wenn wir der Wirtschaft wirklich helfen wollen, dann muss Erdoğan geschwächt werden und das geht jetzt bei den Wahlen am 23. Juni.
Wenn er sie dann anerkennt ...
Ich glaube, dass die Menschen ihr Bestes tun, und auch Europa ist hier gefragt.
Inwiefern?
Wir haben als HDP immer wieder den Dialog mit europäischen Institutionen gesucht und auf die politische Situation in der Türkei hingewiesen. Aber wir haben auch erlebt, dass unter anderem wegen des Flüchtlingsdeals immer wieder die Augen verschlossen wurden: vor der Besatzung von Afrin, aber auch bei der Zerstörung der kurdischen Städte in der Türkei wie Sur oder Nusaybin. Es tut weh, zu sehen, dass zum Beispiel 70 Jahre Europarat gefeiert werden, aber Werte wie Demokratie und Menschenwürde anscheinend an der europäischen Grenze aufhören. Die Doppelzüngigkeit und das Stillschweigen Europas hat Erdoğan überhaupt erst soweit gebracht. Europa, allen voran Deutschland, muss sich jetzt klar entscheiden: Stehen wir zu Erdoğan oder wollen wir eine demokratische Türkei?
Glauben Sie, dass es Zufall war, dass ebenfalls am Montag die überraschende Nachricht kam, dass Abdullah Öcalan mit seinen Anwälten sprechen konnte?
Ich würde keinen Zusammenhang mit der Entscheidung der Wahlbehörde herstellen. Herr Öcalan durfte seit 2011 keinen Besuch von seinen Anwälten empfangen, obwohl dies jedem Gefangenen nach türkischem Recht zusteht. Die Frage ist, warum musste es erst dazu kommen, dass Tausende in einen Hungerstreik getreten, ja einige sogar zum Todesfasten übergegangen sind, um dies zu erreichen.
Es machen ja nun Verschwörungstheorien die Runde, denen zufolge es einen »Deal« zwischen HDP und AKP gegeben hätte und deshalb zeitgleich am dem Tag der Wahlannullierung auch die Erklärung Öcalans verlesen wurde ...
Das stimmt überhaupt gar nicht! Wir werden weiterhin das demokratische Bündnis unterstützen.
Wie haben die Hungerstreikenden denn auf ihren Erfolg, dass die Anwälte Öcalan besuchen durften, reagiert?
Am Dienstag gab es eine Erklärung von Leyla Güven und drei weiteren Abgeordneten der HDP, in der der Justizminister aufgerufen wird, zu versichern, dass die Isolation tatsächlich aufgehoben wird und regelmäßige Besuche von Anwälten und Familie bei Öcalan stattfinden können. Es möchte keiner den Tod, auch nicht die Hungerstreikenden. Sie haben das Mittel gewählt, um für etwas zu kämpfen, was wir nicht umsetzen können: die Rechtsstaatlichkeit. Und die Rechtsstaatlichkeit sollte für alle gelten und nicht nur für die eine oder andere Person.
Glauben Sie, dass Hungerstreik das richtige Mittel ist?
Die Hungerstreikenden haben von sich aus damit angefangen, es gab keinen Beschluss von der HDP oder von irgendeiner Organisation. Ich denke, jeder muss für sich selbst entscheiden, aber ich muss diese Entscheidung auch akzeptieren. Die Hungerstreikenden sitzen im Gefängnis, sie haben keine andere Möglichkeit des Protests. Und wenn wir als Europa unsere Grundrechte und Grundwerte umgesetzt hätten, wenn die Isolationshaft Öcalans nicht seit Jahren anhalten würde, dann würde es auch diesen Hungerstreik nicht geben.
Nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 hat Ihre Partei selbst Erfahrung damit gemacht, was es bedeutet, wenn Erdoğan ein Wahlergebnis nicht akzeptiert. Was würden Sie der CHP heute raten?
Wir haben immer wieder gesagt: Wenn die Angriffe auf uns fortgeführt werden und ihr stillschweigend nur zuschaut, dann seid ihr irgendwann selbst mal dran. Die CHP muss sich jetzt entscheiden: Will sie die demokratische Türkei, oder lässt sie sich wieder seitens der Regierung einschüchtern? Wenn die CHP jetzt Widerstand zeigt, dann wird auch die gesamte Türkei siegen. Unsere Forderung lautet: Wählen gehen. Aufpassen, dass keine Wahlfälschung stattfindet. Und wenn wir am Wahltag Standhaftigkeit zeigen, dann gewinnen wir auch, dann gewinnt die Demokratie.
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