Samstag, 11. Mai 2019

Die Wirtschaftsweisen aus dem Westen, die kritische Memorandum-Gruppe und die DDR Anfang 1990

»Es gibt nur ein Erfolgsmuster«

Das Dokument trägt das Datum 20. Januar 1990, auf der ersten Seite finden sich die Namen von fünf Männern. In dem Papier gingen diese der Frage nach, »wie und unter welchen Voraussetzungen die Bundesrepublik den wirtschaftlichen Reformprozess in der DDR unterstützen« könne. Die »Wirtschaftsweisen« der BRD formulierten in ihrem »Sondergutachten« nicht ohne politisches Wollen: Formen und Ausmaß der Unterstützung sah man »entscheidend vom wirtschaftspolitischen Kurs« abhängen, der in Ostberlin eingeschlagen würde.
»Noch sind die Weichen dort nicht gestellt«, befand der Sachverständigenrat - und notierte fordernd, wie dies seiner Ansicht nach zu geschehen habe: »Es gibt nur ein Erfolgsmuster für die Wirtschaftsreform: die offene marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Absicherung«. Was als alternative Reformoptionen in der DDR diskutiert werde, sei teilweise »Uneinsichtigkeit« geschuldet, werde »schlimme Folgen« haben und garantiere einen »Misserfolg«.

Zur Person

Tom Strohschneider, Jahrgang 1974, studierte Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Er arbeitete als Redakteur bei »neues deutschland«, »Freitag« und »taz«, ist heute freier Autor und verantwortlich für die monatliche Wirtschaftszeitung »Oxi«. Der hier dokumentierte Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der dieser Tage auf www.oxiblog.de erschien.
Der 20. Januar 1990 war ein Samstag, kein normales Wochenende, ein solches hatte es seit dem Wendeherbst 1989 ohnehin nicht mehr gegeben. In Ostberlin wurde auf dem Platz der Akademie für freie und unabhängige Gewerkschaften demonstriert, ein paar hundert Meter weiter auf dem Alexanderplatz legte eine Bürgerinitiative »Deutsche Einheit« Unterschriftenlisten aus. In Leipzig gründete sich an diesem 20. Januar im »Gasthaus zur goldenen Krone« die rechtskonservative DSU. In Neubrandenburg demonstrierten Bauern aus Angst um ihre Existenz.
An jenem 20. Januar 1990 wurden auch die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage veröffentlicht, laut denen die Noch-DDR-Bürger den Ministerpräsidenten Hans Modrow mit Abstand als »wichtigsten Politiker« ansahen, auf Platz zwei der Umfrageliste rangierte Wirtschaftsministerin Christa Luft. Die Ökonomin hatte im späten Wendeherbst das wirtschaftspolitische Ruder übernommen und im November 1989 eine »Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform beim Ministerrat der DDR« eingerichtet. Der Leiter war Wolfram Krause, vormaliger Vizechef der Staatlichen Plankommission und in den späten 1970er Jahren aus politischen Gründen »in die Bezirksleitung der Berliner SED abgeschoben« - er knüpfte an NÖS-Reformüberlegungen der 1960er Jahre an. Zusammen mit Wolfgang Heinrichs, dem Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften, hatte er bereits am 3. November eine grundlegende Skizze im »Neuen Deutschland« veröffentlicht - es ging um ein »Element der Erneuerung des Sozialismus«.
Die Dynamik der Ereignisse donnerte in jener Zeit freilich über alles und jeden hinweg. Anfang Dezember 1989 war der Runde Tisch erstmals zusammengetreten, eine Art erweiterte Regierung, hier fanden sich nun auch wichtige Kräfte der Bürgerbewegung und der Opposition im Gespräch mit einer aus SED-Reformern rekrutierten Administration, die die ständige Veränderung zu steuern suchte - oft vergeblich.
Mit der Grenzöffnung Anfang November 1989 hatten sich auch maßgebliche Rahmenbedingungen für die Volkswirtschaft radikal verändert; die D-Mark wurde zur faktischen Zweitwährung, die ökonomischen Beziehungen zu den früheren Partnern im RGW geriet unter Druck, die Ausreisewelle hielt an, im Westen wurde über Zuzugsbegrenzungen diskutiert. »Chaos in der DDR«, titelte Anfang Februar 1990 der »Spiegel« - die Schlagzeile: »Flucht in die Einheit«.
Das war einerseits nicht falsch, das bisherige Geflecht der Wirtschaftsbeziehungen der DDR-Ökonomie drohte in jener Zeit zu zerreißen. 250 000 Arbeitsstellen waren nach Informationen am Runden Tisch nicht besetzt; Rohstoffe und Vorprodukte fehlten, an wirtschaftspolitische Gestaltung war kaum noch zu denken. Andererseits war »Flucht in die Einheit« für viele im Osten nicht das Ziel, alternative Wirtschaftskonzepte wurden diskutiert, die Hoffnung auf »dritte Wege« war noch nicht implodiert, noch wurde hier und da an die Möglichkeit etwa marktsozialistischer Modelle mit gemischten Eigentumsformen geglaubt, bei denen das der Gemeinschaft im Vordergrund stehen sollte.
Doch wie sollte das unter diesen Bedingungen umgesetzt werden? Auf die Frage, was in dieser Situation noch möglich sei, zitierte der »Spiegel« einen »erfahrenen Wirtschaftsplaner« aus der DDR mit den Worten: »Wir könnten Verhandlungen aufnehmen über unsere bedingungslose Kapitulation.«
Mit Datum vom 20. Januar 1990 hatten die »Wirtschaftsweisen« im Westen diese Option sozusagen von der anderen Seite her formuliert: Sollte das Ziel deutsche Einheit bestehen, solle alles in Bewegung gesetzt werden, »in geeigneten Institutionen den Übergang zur Einheit von Staats- und Wirtschaftsraum vorzubereiten«.
»Einen energischen Tonfall« hat der Historiker Marcus Böick bei den Wirtschaftsweisen» rückblickend ausgemacht. Die Zeit der Zurückhaltung mit eigenen wirtschaftlichen Reformvorschlägen in Richtung DDR war im Westen mit ihrem Plädoyer vorbei, so Böick. «In fast dozierendem Tonfall» habe der Sachverständigenrat auf seinem Modell der Reformen beharrt, das Marktprinzip wurde «als universelles, alternativloses wie erfolgreiches ökonomisches Organisations- und (Selbst-)Steuerungsprinzip» gemalt, als «ein idealer Endzustand».
Drei Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens, Anfang Februar 1990, schlug die Bundesregierung der DDR-Regierung «den unverzüglichen Beginn von Verhandlungen zu einer ›Währungsunion mit Wirtschaftsreform‹ vor». Etwa zur selben Zeit bogen in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Diskussionen um die Endfassung ihres «Memorandums 1990» auf die Zielgerade.
«Nie zuvor seit Ende der vierziger Jahre waren die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven der Bundesrepublik so unübersichtlich wie im Frühjahr 1990», heißt es in der Druckfassung. «Mehr Risiken oder mehr Chancen?», so lautete die Frage, mit welcher der Teil über die Folgen der Wende im Osten überschrieben war. Die alternativen Ökonom*innen gaben eine eher pessimistische Antwort: Die Politik der Bundesregierung und der großen Parteien habe die Krise im Osten «dazu instrumentalisiert, einen enormen Druck für die schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu den Bedingungen der Bundesrepublik zu entfalten». Wirtschaftliche Hilfe «diene als Hebel zur Erzwingung von Systemreformen. Diese lassen kaum Spielraum für Selbstbestimmung und Eigenständigkeit».
Die damals schon traditionelle Wortmeldung kritischer Ökonom*innen und Gewerkschafter*innen wurden Anfang 1990 von über 800 Expert*innen unterstützt. Für die Autor*innen des «Memorandums 1990» waren die «Risiken unübersehbar, die mit dem starken Produktivitäts- und Lohngefälle gegenüber der BRD sowie der mangelnden Währungskonvertibilität verbunden sind und durch einen unter Zeitdruck durchgeführten ökonomischen Umbau vervielfacht würden. Der Preis hierfür in Form massiver Einkommenseinbußen und Arbeitslosigkeit wäre sehr hoch.»
Eine schnell umgesetzte Währungsunion «würde darüber hinaus - und das mag ihre Attraktivität von Seiten mancher Kräfte in der BRD ausmachen - einen Akt der Übernahme der DDR darstellen, da bundesdeutsche Unternehmen sich im Windschatten der Währungsunion schnell und billig die besten Stücke des Produktivkapitals in der DDR aufkaufen könnten».
Im März 1990 bereits konnte man die «Memoranden» und darüber hinausgehende Veröffentlichungen der Gruppe erstmals auch im Osten kaufen - für DDR-Mark. Im Mai 1990 erschien das Zirkular der Arbeitsgruppe, das «Memo-Forum» mit einem «Sondermemorandum», in dem ein «Sozial-ökologisches Sofortprogramm» vorgeschlagen wurde, mit dem die «Risiken der deutsch-deutschen Währungsunion aufgefangen» werden sollten. Die Überlegungen waren bereits Ende April zusammen mit dem «Memorandum 1990» in Bonn der Presse vorgestellt worden.
Der Dokumentation im «Memo-Forum» war darüber hinaus der Bericht einer Tagung in der DDR beigestellt worden, aus dem ein «Arbeitskreis: Perspektiven alternativer Wirtschafts- und Sozialpolitik» hervorging. Anfang März 1990 hatten sich in Berlin Ökonom*innen über «die Perspektive und künftige Profilierung» unter «radikal veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen» verständigt. Die Bilanz des Wendeherbstes und der Debatten fiel in dieser Runde ernüchternd aus.
«Von der Möglichkeit einer sozialistischen Alternative der DDR zur BRD, ja selbst von der Chance einer selbstbestimmten, marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsordnung in der DDR kann seit spätestens Ende Dezember 1989 keine Rede mehr sein», hieß es da. Enttäuschung sprach aus dem Hinweis, dass «die ›führenden‹ Wirtschaftswissenschaftler unseres Landes» nun so taten, als hätten sie «es schon immer gewusst, die Marktwirtschaft» sei «das Allheilmittel für die wirtschaftliche und politische Krise der DDR.» Der Arbeitskreis wollte stattdessen «eine an den Interessen der abhängig Beschäftigten orientierte Wirtschaftspolitik» wissenschaftlich voranbringen. «Ähnlichkeiten mit den Zielstellungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind nicht zufällig sondern beabsichtigt, eine enge Zusammenarbeit wird angestrebt», so hieß es.
In ihrem Ende April 1990 vorgestellten Sondermemorandum hatte die Memo-Gruppe alles darauf hindeuten gesehen, «dass der ökonomisch schlechtere, teurere und sozial gefährlichere Weg der wirtschaftlichen Vereinigung beschritten worden ist. Dabei kommt die Einführung der DM in die DDR einer Beendigung der wirtschaftlichen Souveränität der DDR gleich. Eine strukturell schwache, im wesentlichen noch planwirtschaftlich geprägte Wirtschaft wird mit einer Hartwährung ausgestattet und damit der uneingeschränkten Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt», hieß es da. Und: «Abrupt werden durch diesen Weg Zukunftsplanungen von Menschen durchkreuzt, Qualifikationen entwertet und eine, wenngleich oft nur bescheidene, soziale Sicherheit zerstört. Die Unterschiede im Lebensstandard zwischen der BRD und der DDR werden sich für weite Teile der Bevölkerung eher vertiefen.» Dies erwies sich dann später als recht treffende Prognose.
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