Der prächtig grüne Rasen bedeckt den Bühnenboden auf Kampnagel in Hamburg. Ein Mann im braunen Anzug kommt mit einer Essschüssel, nimmt immer mal einen Löffel, schmatzt, sagt: »pour mamam, pour papa« und weiter so. Das ist der Anfang von »1980 – Ein Stück von Pina Bausch«. Es weist darauf hin, was der 2009 gestorbenen Choreografin hier wichtig war: die Erinnerung an die Kindheit. Dieses Essen-Müssen. Dann: Geburtstage. Eine Tänzerin im langen rosa Kleid erscheint, setzt sich, singt: »Happy birthday to me«, schnippt dazu mit dem Feuerzeug, bläst es aus, zählt. Das Gefühl, wenn keiner kommt. Eine im weißen Kleid legt sich bäuchlings auf das Gras, misst den Rasen mit den Lippen aus: »Dieses Stück Wiese ist zehn Küsse breit« – das Grün umarmen. Andere spielen Pferdchen, Huckepack-Tragen: »Abends, wenn ich müde war, hat er mich immer getragen.« Später läuft eine Tänzerin barfuß im Kreis herum, wedelt mit einem weißen Tüchlein, ruft immer nur: »Ich bin müde.« Dazu erklingt das Abendlied von Johannes Brahms. Ihr Rufen ist ein Appell. Ein Mann kommt, trägt sie. Bald stöhnt er, seine Kräfte lassen nach. Pina Bausch zeigt auch die Erinnerung nicht verklärt.
Das Kinderspiel: Reise nach Jerusalem – einer bleibt übrig. Dann ein Bild wie aus einem Fotoalbum: Sie legt ein Schaffell auf den Boden. Er kommt und zieht sich aus. Sie holt die Bühnenlampen und eine Babyklapper. Fotografiert das große nackte Kleinkind, das so traurig dreinblickt. Immer wieder mal ertönt ein Seemannslied: Hamburg und Liebe und Abschied. Kitsch darf nicht fehlen.
Den ganzen Abend lang, fast vier Stunden, steht ein Reh auf der Bühne und beobachtet alles, stumm und starr, unbeachtet. In seiner Nähe tanzt ein Mädchen im schwarzen kurzen Kleid, ohne Schuhe, mit aufgelösten Haaren. Auch sie bleibt unbemerkt von den anderen. Immer mal wieder Musik von John Dowland. Sie begleitet auch eine Szene des Abschieds. Alle sagen Tschüss, auf Wiedersehen, Adieu und aufmunternde Worte, Grüße an die Mutter, den Sohn, manche kurz und knapp, andere gewunden. Die Letzte umarmt sie nur und weint im Weggehen. Wer ist die, die gehen wird? Sie sagt kein Wort, steht nur da. Diese Sequenz wird sich wiederholen, aber ganz anders. In dem Jahr, das dem Stück den Titel gab, war Pina Bauschs Lebensgefährte, der Bühnenbildner Rolf Borzik, gestorben – fünf Monate vor der Uraufführung.
Komische Szenen, eingestreut zum Auflockern, manchmal albern. Wackelpudding-Attacken oder boshaft: Herren werden entkleidet, mit Lippenstift bemalt. Wenn die ganze Gruppe auf der Bühne erscheint – kein Gänsemarsch. Alles Individualisten. Die Polonaise durch die Zuschauerreihen, mit Armbewegungen wie von Eichhörnchen, dann weit ausgreifend pathetisch – einschlafen kann man dabei nicht.
Eine total Ausgeflippte ist die Slapstick-Queen – oder irre? Ihre Muttersprache ist Englisch, auch die Songs und Kinderlieder dazu. Ihr Ausruf schließlich: »I want to be alone« korrespondiert mit dem ständigen: »Ich möchte nach Hause«-Quengeln einer anderen, wie ein müdes Kind. Reaktionen auf Fragen, die Pina Bausch an ihre Truppe stellte über Kindheitsängste. Jeder soll sich erinnern: Dunkelheit, Gewitter. Die realen Ängste aus der Jetztzeit kommen später: in den Krieg gehen zu müssen, blind zu werden oder senil. Nicht Geschichten, Gesten wollte Bausch. Dieses merkwürdige Sich-ins-Gesicht-fassen wie ein Abwischen von Tränen.
Auf der Bühne steht ein altes Harmonium, der Herr mit der Schüssel spielt darauf, Jahrmarktsmusik. Entspannte Atmosphäre. Das Gras wird zur Liegewiese, die Gruppe zu Sonnenanbetern. Musik, nun eingespielt: »Somewhere over the rainbow« – das Lieblingslied eines zurücktretenden Bundespräsidenten: das wusste Pina Bausch noch nicht. Jeder zelebriert sein Sonnenglück anders, bis zur völligen Verhüllung. Oder der nackte Arsch – nur der – leuchtet aus den Tüchern. Ein männliches Hinterteil, klar. Absurdes Sonnentheater.
Nach der Pause kommen nur die Herren, lassen ihre Hosen runter – alles nur von hinten zu sehen. Eine Dame schreitet die Reihe ab. Getragene Musik. Dann etwas Überraschendes, damals schon eine Casting-Show? Ein Ansager: »Héléna Picon aus Frankreich.« Und der Befehl: »Umdrehen, bitte«. Sie folgt gehorsam. Alle tun, was er will. Jede(r) anders. Das Publikum lacht. Alle sollen hochspringen, Bein zeigen. Die Truppe ist international. Das Land ihrer Herkunft – sie sollen es charakterisieren, so wie es wahrgenommen wird. Nicht Gesten: Worte – Klischees. Zu Deutschland: »Schrebergarten, Bockwurst, Faust«, auch »Adenauer, Beckenbauer« und so. Hinten turnt ein echter Sportler am Barren – neben dem Reh. Noch einmal das Bein. Ein Anpreisen der Schenkel: »Das Bein versteht acht Sprachen«, muss es auch in dieser Truppe. Oder: »Das ist ein deutsches Bein, aus Mecklenburg-Vorpommern kommt es.«
Zu schneller Wechsel. Ein Mann am Boden wird mit weißem Tuch zugedeckt, nichts bleibt von ihm. Eine Frau klagt: »Was soll ich denn machen? Ist denn keiner da?« Dann alte Schlager und Rotwein aus der Flasche. Alles leicht und locker – »in einer kleinen Konditorei …« Und dahinein die Frage: »Wie viele Narben haben Sie und wo?« Jeder zählt auf, wo überall und wie es passierte. Von Kinderspielen zu OP-Narben. Alle haben welche. Sichtbare.
Dann ein Wettbewerb: Wem geht es am schlechtesten? Die Teilnehmerinnen bekommen einen Pokal als Preis. Eine sagt ganz lapidar: keine Wohnung, kein Geld, aber dafür Krebs. »Bitte Applaus«, der Conférencier. In meiner Reihe gehen zwei Leute. Wissen sie, dass Bauschs Lebensgefährte an Leukämie starb?
Noch kein Schluss. Komische Szenen, unterlegt mit »Wenn der weiße Flieder wieder blüht«. Oder er mit dem deutschen Bein singt ein Lied in Plattdeutsch – Seemannslied? Es wird immer wilder, bis es laut und fast brutal erschlägt. Er verneigt sich. Der traurige Lange kommt und beginnt, mit dem Stuhl zu sprechen. »Du lieber Stuhl, bist nicht nur formschön und praktisch…«, ein ganz gewöhnlicher Stuhl. »Du bist einfach schön. Ich habe einmal auf dir gesessen, gib mir doch ein kleines Zeichen.« Nichts geschieht. Alles geht in Lachen unter, auch er lacht, zwanghaft – verletzt?
Dann wilder Tanz zu Dixieland. Wir müssen sitzen bleiben. Schließlich ruhige Töne und langsames Tanzen der Paare. Alle versammeln sich. Hinter ihnen der Tanz der Einsamen – ungesehen. Die Truppe steht vorn, ihnen gegenüber die eine Abschied-Nehmende. Alle stehen stumm mit hängenden Armen da, keine letzten Worte. Leise Musik von Dowland – Stille. Ein Abschied für wen?
Das Kinderspiel: Reise nach Jerusalem – einer bleibt übrig. Dann ein Bild wie aus einem Fotoalbum: Sie legt ein Schaffell auf den Boden. Er kommt und zieht sich aus. Sie holt die Bühnenlampen und eine Babyklapper. Fotografiert das große nackte Kleinkind, das so traurig dreinblickt. Immer wieder mal ertönt ein Seemannslied: Hamburg und Liebe und Abschied. Kitsch darf nicht fehlen.
Den ganzen Abend lang, fast vier Stunden, steht ein Reh auf der Bühne und beobachtet alles, stumm und starr, unbeachtet. In seiner Nähe tanzt ein Mädchen im schwarzen kurzen Kleid, ohne Schuhe, mit aufgelösten Haaren. Auch sie bleibt unbemerkt von den anderen. Immer mal wieder Musik von John Dowland. Sie begleitet auch eine Szene des Abschieds. Alle sagen Tschüss, auf Wiedersehen, Adieu und aufmunternde Worte, Grüße an die Mutter, den Sohn, manche kurz und knapp, andere gewunden. Die Letzte umarmt sie nur und weint im Weggehen. Wer ist die, die gehen wird? Sie sagt kein Wort, steht nur da. Diese Sequenz wird sich wiederholen, aber ganz anders. In dem Jahr, das dem Stück den Titel gab, war Pina Bauschs Lebensgefährte, der Bühnenbildner Rolf Borzik, gestorben – fünf Monate vor der Uraufführung.
Komische Szenen, eingestreut zum Auflockern, manchmal albern. Wackelpudding-Attacken oder boshaft: Herren werden entkleidet, mit Lippenstift bemalt. Wenn die ganze Gruppe auf der Bühne erscheint – kein Gänsemarsch. Alles Individualisten. Die Polonaise durch die Zuschauerreihen, mit Armbewegungen wie von Eichhörnchen, dann weit ausgreifend pathetisch – einschlafen kann man dabei nicht.
Eine total Ausgeflippte ist die Slapstick-Queen – oder irre? Ihre Muttersprache ist Englisch, auch die Songs und Kinderlieder dazu. Ihr Ausruf schließlich: »I want to be alone« korrespondiert mit dem ständigen: »Ich möchte nach Hause«-Quengeln einer anderen, wie ein müdes Kind. Reaktionen auf Fragen, die Pina Bausch an ihre Truppe stellte über Kindheitsängste. Jeder soll sich erinnern: Dunkelheit, Gewitter. Die realen Ängste aus der Jetztzeit kommen später: in den Krieg gehen zu müssen, blind zu werden oder senil. Nicht Geschichten, Gesten wollte Bausch. Dieses merkwürdige Sich-ins-Gesicht-fassen wie ein Abwischen von Tränen.
Auf der Bühne steht ein altes Harmonium, der Herr mit der Schüssel spielt darauf, Jahrmarktsmusik. Entspannte Atmosphäre. Das Gras wird zur Liegewiese, die Gruppe zu Sonnenanbetern. Musik, nun eingespielt: »Somewhere over the rainbow« – das Lieblingslied eines zurücktretenden Bundespräsidenten: das wusste Pina Bausch noch nicht. Jeder zelebriert sein Sonnenglück anders, bis zur völligen Verhüllung. Oder der nackte Arsch – nur der – leuchtet aus den Tüchern. Ein männliches Hinterteil, klar. Absurdes Sonnentheater.
Nach der Pause kommen nur die Herren, lassen ihre Hosen runter – alles nur von hinten zu sehen. Eine Dame schreitet die Reihe ab. Getragene Musik. Dann etwas Überraschendes, damals schon eine Casting-Show? Ein Ansager: »Héléna Picon aus Frankreich.« Und der Befehl: »Umdrehen, bitte«. Sie folgt gehorsam. Alle tun, was er will. Jede(r) anders. Das Publikum lacht. Alle sollen hochspringen, Bein zeigen. Die Truppe ist international. Das Land ihrer Herkunft – sie sollen es charakterisieren, so wie es wahrgenommen wird. Nicht Gesten: Worte – Klischees. Zu Deutschland: »Schrebergarten, Bockwurst, Faust«, auch »Adenauer, Beckenbauer« und so. Hinten turnt ein echter Sportler am Barren – neben dem Reh. Noch einmal das Bein. Ein Anpreisen der Schenkel: »Das Bein versteht acht Sprachen«, muss es auch in dieser Truppe. Oder: »Das ist ein deutsches Bein, aus Mecklenburg-Vorpommern kommt es.«
Zu schneller Wechsel. Ein Mann am Boden wird mit weißem Tuch zugedeckt, nichts bleibt von ihm. Eine Frau klagt: »Was soll ich denn machen? Ist denn keiner da?« Dann alte Schlager und Rotwein aus der Flasche. Alles leicht und locker – »in einer kleinen Konditorei …« Und dahinein die Frage: »Wie viele Narben haben Sie und wo?« Jeder zählt auf, wo überall und wie es passierte. Von Kinderspielen zu OP-Narben. Alle haben welche. Sichtbare.
Dann ein Wettbewerb: Wem geht es am schlechtesten? Die Teilnehmerinnen bekommen einen Pokal als Preis. Eine sagt ganz lapidar: keine Wohnung, kein Geld, aber dafür Krebs. »Bitte Applaus«, der Conférencier. In meiner Reihe gehen zwei Leute. Wissen sie, dass Bauschs Lebensgefährte an Leukämie starb?
Noch kein Schluss. Komische Szenen, unterlegt mit »Wenn der weiße Flieder wieder blüht«. Oder er mit dem deutschen Bein singt ein Lied in Plattdeutsch – Seemannslied? Es wird immer wilder, bis es laut und fast brutal erschlägt. Er verneigt sich. Der traurige Lange kommt und beginnt, mit dem Stuhl zu sprechen. »Du lieber Stuhl, bist nicht nur formschön und praktisch…«, ein ganz gewöhnlicher Stuhl. »Du bist einfach schön. Ich habe einmal auf dir gesessen, gib mir doch ein kleines Zeichen.« Nichts geschieht. Alles geht in Lachen unter, auch er lacht, zwanghaft – verletzt?
Dann wilder Tanz zu Dixieland. Wir müssen sitzen bleiben. Schließlich ruhige Töne und langsames Tanzen der Paare. Alle versammeln sich. Hinter ihnen der Tanz der Einsamen – ungesehen. Die Truppe steht vorn, ihnen gegenüber die eine Abschied-Nehmende. Alle stehen stumm mit hängenden Armen da, keine letzten Worte. Leise Musik von Dowland – Stille. Ein Abschied für wen?
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