22.03.17
Bevor
ich auf den Inhalt dieses Verfahrens zu sprechen komme, möchte ich
etwas zur Verschleppung Abdullah Öcalans am 15. Februar 1999 von Kenia
in die Türkei sagen. Seit 18 Jahren wird Abdullah Öcalan in
Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten. In dieser
Zeit hat er das Modell der demokratischen Autonomie vorgelegt, das eine
Lösung für alle bestehenden gesellschaftlichen Fragen umfasst. Mit
seiner politischen Auffassung steht er für eine friedliche und
demokratische Lösung der kurdischen Frage.
In diesem Zusammenhang verurteile ich das Komplott vom 15. Februar 1999 und alle daran beteiligten internationalen Kräfte.
Was diesen Prozess betrifft, möchte ich zunächst betonen, dass die
Anschuldigung des “Terrorismus” völlig realitätsfern ist. Den
Hauptcharakter des Verfahrens bildet die kurdische Frage, die immer noch
ein Problem darstellt, weil sie nicht gelöst wird. Der Grund dafür ist
die geostrategische und geopolitische Position Kurdistans im Mittleren
Osten. [...]
Bei der Gründung der Republik Türkei gehörten die Kurden zu den
Gründungsmitgliedern. In der Verfassung von 1925 ist diese Tatsache
eindeutig festgehalten. In den folgenden Jahren wurde jedoch deutlich,
dass die kurdische Realität gemäß der türkischen Staatsdoktrin einer
einzigen Sprache und Ethnie verleugnet wurde. Diese Auffassung entstand
allerdings nicht erst in der Gründungszeit der Republik, sondern lag
bereits dem osmanischen Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 sowie
der Vernichtung und Vertreibung sämtlicher Minderheiten in der Türkei
zugrunde.
Die Kurden stellten also eine Gefahr für den türkischen Staat dar.
Um die kurdische Bevölkerung zu unterdrücken, waren nach der Logik des
türkischen Staates Verleugnung und Völkermord die besten Methoden. [...]
Nach dem Völkermord in Dersim in den Jahren 1937 bis 1938 kam die
Methode der Assimilierung zur Anwendung. Auf die Vertreibung folgte die
Einrichtung von Internatsschulen in den kurdischen Städten, auf denen
die kurdischen Kinder assimiliert werden sollten. Die kurdischen Namen
von Städten und Dörfern wurden durch türkische Namen ersetzt. [...]
Im Verlauf dieses Verfahrens werde ich auf dieses Thema noch
ausführlicher eingehen. Ich möchte jedoch eine Tatsache unterstreichen.
In der fünfundneunzigjährigen Geschichte der Türkei waren die Kurden mit
einem ständigen Völkermord konfrontiert. Diese Gefahr besteht auch
heute noch. Die Massaker, die zuletzt 2015 in Cizre, Silopi, Nusaybin
und Sur stattgefunden haben, waren Bestandteil dieser Strategie.
Besonders schmerzhaft war dabei, dass die gesamte Welt zugesehen hat.
Zu dem Verfahren gegen mich möchte ich anmerken, dass die deutsche
Justiz sich nicht auf Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit beruft.
Vielmehr wurde dieser Prozess auf Direktive des türkischen Staates und
Erdogans eröffnet. Hauptgrund dafür sind die gemeinsamen
Wirtschaftsinteressen beider Staaten. Um diese Interessen zu bedienen,
werden kurdische AktivistInnen und Einrichtungen kriminalisiert und als
terroristisch abgestempelt. Daher glaube ich auch nicht daran, dass es
in diesem Prozess um Recht und Gerechtigkeit geht. Vielmehr gehe ich
davon aus, dass bereits hinter verschlossenen Türen alles festgelegt
worden ist.
In der Anklageschrift beschreibt die Bundesanwaltschaft seitenlang
die PKK. Diese Beschreibung ist fern der Realität. Es ist allgemein
bekannt, dass die PKK und Öcalan untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Gedanken Abdullah Öcalans stellen heute für alle unterdrückten
Menschen im Mittleren Osten eine Quelle der Hoffnung dar. Dass die
Kurden gemeinsam mit anderen Völkern in Rojava gegen den IS kämpfen, ist
der Gedankensystematik und dem Kampfmodell Öcalans zu verdanken. Das
gilt auch für die Befreiung der ezidischen Stadt Shengal, nachdem
Tausende ezidische Frauen vom IS auf Sklavenmärkten verkauft und
unzählige Menschen ermordet wurden.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist die PKK eine Bewegung, die erfolgreich gegen den IS-Terror kämpft. [...]
Wer fordert Rechenschaft für den Tod etlicher ZivilistInnen in
Frankreich, Belgien und zuletzt auch Berlin durch IS-Anschläge?
Rechenschaft wird nicht gefordert, indem man diese Anschläge verurteilt.
In der Praxis ist es allein die kurdische Bewegung, die den IS zur
Rechenschaft zieht.
Insofern sind die Anschuldigungen der PKK durch die Bundesanwaltschaft hinfällig.
In der Anklageschrift geht es nicht um mich als Einzelperson,
sondern um demokratische Aktivitäten der kurdischen Bevölkerung. Es
handelt sich ausschließlich um legale Tätigkeiten. [...] Wie jedes
andere Volk haben auch die Kurden das Recht, sich zu organisieren. [...]
Zu meiner Person
Um einen Menschen zu kennen, muss man zunächst den Ort seiner
Geburt und das kulturelle Umfeld begreifen, das ihn geprägt hat. Daher
möchte ich mich zunächst zu meinem Geburtsort Dersim äußern. [...]
Dersim bedeutet auf Kurdisch “Silbertor” (der = Tor, sim = Silber).
Vielleicht gilt es als “Silbertor Kurdistans”, weil es von hohen Bergen
umgeben und geeignet für Ackerbau und Viehzucht ist. Lange Zeit war der
Zoroastrismus die vorherrschende Glaubensrichtung in Dersim. [...] Mit
dem Einzug des Islam in Kurdistan wurden die Zarathustra-Gemeinden
verfolgt und die Bevölkerung zwangsislamisiert. In Dersim setzte sich
der Islam jedoch nicht durch. Aus Angst vor Verfolgung bekannten sich
die Menschen zu ihrem eigenen Schutz zum Alevitentum, lebten die
religiösen Glaubensformen des Zoroastrismus jedoch unverändert weiter.
Aus diesem Grund hat das Alevitentum in Dersim bis heute keinerlei
Glaubensformen des Islam übernommen. Die religiösen Motive des
Alevitentums und des ezidischen Glaubens ähneln einander, weil beide
Glaubensrichtungen ihren Ursprung im Zoroastrismus haben.
Im osmanischen Reich war Dersim der einzige Ort in Kurdistan, der
sich weigerte, den Osmanen Steuern zu zahlen und Soldaten zu stellen.
Alle osmanischen Feldzüge trafen auf Widerstand und wurden
zurückgeschlagen. Hierbei spielten natürlich auch die geographischen
Bedingungen, also die unzugänglichen Berge, eine Rolle. Bis zum
Völkermord von 1938 war Dersim somit die einzige autonome Region
Kurdistans. Diese Autonomie wurde auch nach der Gründung der Republik
Türkei bewahrt. Da die Autorität der Republik nicht anerkannt wurde,
wurde Dersim als gefährlicher Ort des Aufstands betrachtet.
Mustafa Kemal Atatürk bezeichnete Dersim in einer Parlamentsrede
als ein “Geschwür”, das ausgerottet werden müsse. Nach dieser Rede
begannen die Vorbereitungen auf eine Intervention in Dersim. Als erster
Schritt wurden Straßen in den Bergen gebaut. Die Menschen gingen damals
noch davon aus, dass der Bevölkerung damit ein Dienst erwiesen werden
solle. An die Vorbereitung eines Völkermords dachte niemand. Das hat
mein Großvater erzählt.
Mit der Begründung, Dersim übe Aufstand gegen die Republik, begann
1937 schließlich der Dersim-Feldzug. Es wurden schreckliche Methoden
angewendet. So wurden zum Beispiel Menschen massenweise in Höhlen
eingesperrt und vergast. Es kam auch zu Massenerschießungen. Sabiha
Gökçen, Adoptivtochter Atatürks und erste Kampfpilotin der Türkei,
bombardierte Dersim aus der Luft. Das Massaker dauerte bis 1938 und
kostete Zehntausenden Menschen das Leben.
Seyit Riza und eine Gruppe weiterer Menschen wurden als
Rädelsführer des Aufstands in Elazığ öffentlich hingerichtet. Seyit Riza
war 74 Jahre alt und genoss große Achtung in der Bevölkerung Dersims.
Da laut Gesetz eine Hinrichtung in seinem Alter nicht mehr vorgesehen
war, wurde sein Alter auf 60 korrigiert. Sein Sohn Reşik Hüseyin war
erst 16 Jahre alt, daher wurde sein Alter nach oben korrigiert. Er wurde
vor den Augen seines Vaters erhängt. Anschließend wurden Seyit Riza und
seine Freunde erhängt.
Die Republik Türkei erklärte anschließend, die Dersim-Operation sei
mit großem Erfolg abgeschlossen worden. Dersim wurde offiziell in
Tunceli umbenannt. Direkt danach kam die Politik der Vertreibung und
Assimilation zur Anwendung.
Wir gehören zum Stamm der Haydaran. Es war einer der Stämme, die
den Widerstand nicht aufgaben. Nach dem Völkermord hieß es, dass der
Staat auch für die Stämme, die die Waffen nicht niedergelegt hatten,
eine Amnestie ausprechen werde. Im Glauben daran kamen viele aus den
Bergen zurück. Der Staat hielt jedoch sein Wort nicht und begann mit
Zwangsumsiedelungen.
Auch die Familie meines Großvaters wurde wegen Beteiligung am
Aufstand nach Bolu in die Westtürkei umgesiedelt. Acht Jahre später
wurde mein Vater dort geboren. Als er acht Jahre alt war, wurde ein
neues Gesetz erlassen, das die Rückkehr der Familie nach Dersim
ermöglichte.
[...] Mit dem Völkermord von Dersim wurde ganz Kurdistan
signalisiert, dass das Beharren auf Muttersprache und Kultur auch in
allen anderen kurdischen Orten zu ähnlichen Massakern führen werde. Die
anschließend eingesetzte Politik der Assmilation greift bis heute.
Ich kam am 18. Juni 1980 als Kind einer Familie, deren Sprache,
Kultur und Land für nichtig erklärt worden waren, in einem Dorf in
Dersim zur Welt. Wir sind fünf Geschwister, ich bin das dritte Kind
meiner Eltern. Meine Familie zählt zur Mittelschicht. In der Zeit nach
meiner Geburt entwickelte sich die kurdische Befreiungsbewegung und
meine Familie wurde 1988 zum zweiten Mal vertrieben. Wie überall in
Kurdistan wurden auch in Dersim Dörfer niedergebrannt. Auch unser Dorf
wurde zerstört und wir mussten nach Istanbul ziehen.
Der Umzug war der Beginn einer sehr schweren Zeit für uns. Wir
waren plötzlich in einer fremden Stadt, deren Sprache und Kultur wir
kaum kannten. Für mich war es schwierig, die Sprache zu lernen und mich
der Lebenskultur anzupassen. Draußen sprachen wir Türkisch, zu Hause in
unserer Muttersprache Zazaki. Im Geflecht dieser Widersprüche wurde ich
eingeschult. Aus Dersim zu stammen, Kurde und Alevite zu sein, bedeutete
eine ständige Diskriminierung. Unter diesem Druck schloss ich in
Istanbul Grundschule, Mittelstufe und Gymnasium ab.
Wie alle anderen Kurden auch beeinflusste mich in den neunziger
Jahren der sich entwickelnde kurdische Befreiungskampf. 1998 begann ich,
für die HADEP, die in jener Zeit als politische Partei der Kurden galt,
zu arbeiten. Damals wie heute kam diese politische Arbeit einer
Mitgliedschaft in der PKK gleich. Nach der Verschleppung Abdullah
Öcalans in die Türkei wurde ich im Mai 1999 wegen Teilnahme an Aktionen
festgenommen. Knapp zwanzig Tage wurde ich schwer gefoltert.
Anschließend wurde ich verhaftet und ins Gefängnis verlegt. Mein Prozess
dauerte ungefähr dreieinhalb Jahre. Ich wurde zu zwölfeinhalb Jahren
verurteilt und schließlich vorzeitig aus der Haft entlassen. [...] Die
HADEP wurde als “verlängerter Arm der PKK” verboten und viele Mitglieder
verbrachten lange Jahre im Gefängnis.
Nach meiner Haftentlassung hätte ich Militärdienst leisten müssen.
Der Staat übte ständig Druck aus. 2003 wurde dann die Revision meines
Verfahrens zurückgewiesen und meine Strafe rechtskräftig. Es gab keine
Möglichkeit mehr für mich, in der Türkei zu leben. Daher entschied ich
mich, die Türkei zu verlassen.
Nach einem sehr langen Weg kam ich 2007 in die Schweiz und beantragte Asyl. 2009 wurde ich als asylberechtigt anerkannt.
Letztendlich bin ich Angehöriger eines Volkes, gegen das ein
Völkermord verübt wird. Ich bin ein Mensch, dessen Sprache, Kultur und
Land verleugnet werden und der nicht das Glück hat, in seiner Heimat
leben zu können. Als ich nach Europa kam, war ich davon überzeugt, meine
eigene Sprache sprechen und meine Kultur ausleben zu können. Leider bin
ich auch hier als Terrorist angeklagt. Den demokratischen Kampf der
Kurden habe ich auch in Europa keinen Moment aufgegeben.
Abschließend möchte ich folgendes betonen: Ich bin stolz und
glücklich, dem kurdischen Volk anzugehören – einem Volk, das seit
vierzig Jahren gegen Unrecht und Vernichtung kämpft.
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