Mittwoch, 17. Dezember 2014
Die Oligarchie und die geopolitische Orientierung der Ukraine
IMI-Analyse 2014/038 - in: AUSDRUCK (Dezember 2014)
von: Mirko Petersen | Veröffentlicht am: 8. Dezember 2014
Nach den ukrainischen Parlamentswahlen am 26. Oktober 2014 dankte Präsident Petro Poroschenko den WählerInnen, dass sie sich für eine „demokratische, reformerische, proukrainische und proeuropäische Mehrheit“ entschieden hätten,[1] d.h. in erster Linie für seinen „Block Petro Poroschenko“ und für die „Volksfront“ um Premierminister Arsenij Jazenjuk (jeweils ca. 22 % der Stimmen). Dass bei dieser Wahl, an der lediglich etwas mehr als 50 % der Bevölkerung teilnahm bzw. teilnehmen konnte, nicht nur eine Entscheidung über ein Parlament, sondern um eine geopolitische Ausrichtung der Ukraine gefällt worden sei, ließ sich auch in den deutschen Medien vernehmen: „Die ukrainische Wahlbevölkerung hat bei der Parlamentswahl am Sonntag freilich eindrucksvoll demonstriert, dass sie den Weg ins liberale demokratische Europa unbeirrt weiter gehen will“, ließ uns Richard Herzinger in der „Welt“ wissen.[2] Der Autor und Publizist Sergej Lagodinsky spricht sogar von einem historischen Einschnitt: „Nach Jahrhunderten des Zusammenlebens befinden sich Russland und die Ukraine in einer blitzartigen und hoch dramatischen Entfremdungsspirale. Diese Realität ist seit dem Wahlsonntag offiziell besiegelt. Die Ukraine hat sich am Sonntag gegen Russland entschieden.“[3]
Doch was bedeutet eine Entscheidung für Europa und gegen Russland oder vice versa eigentlich? Wem dient diese Polarisierung und welche Folgen hat sie? Zunächst soll mit einem kritischen Blick auf die Ereignisse in der Ukraine seit dem Beginn der Proteste gegen die ehemalige Regierung im November 2013 über diese Fragen reflektiert werden. Anschließend sollen die Problematiken einer verstärkten Blockbildung für die Ukraine aufgezeigt werden.
Ukraine: Pro-europäisch? Pro-russisch? Pro-oligarchisch!
Bei den ukrainischen Parlamentswahlen kam die offen faschistische Partei des „Pravij Sektors“ zwar nicht über 2,5 % der Stimmen hinaus, doch der rechtsnationale Charakter des Votums ist nicht außer Acht zu lassen. Während sich Präsident Poroschenko im Vorfeld der Wahlen eher staatstragend gab und im Verhältnis zu Russland vergleichsweise moderat agierte, fiel Premierminister Jazenjuk, in dessen Wahlbündnisse auch Rechtsnationalisten und Milizenführer integriert sind, hingegen mit kriegerischer und antirussischer Rhetorik auf.[4] Jazenjuk sei „in Tarnfleck-Uniform auf Panzern über die Bildschirme gerollt und hat gefordert, eine Mauer zu errichten“, betont der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, Stephan Meuser.[5] Wenn sich europäische Regierungen als Unterstützerinnen einer politischen Kraft inszenieren, die fordert, ein Land mit Hilfe einer Mauer zu trennen, muss dies zu denken geben.
Insbesondere angesichts des Erfolgs Jazenjuks, aber auch aufgrund des anti-russischen Tenors der meisten anderen ukrainischen Akteure, denen es im anhaltenden Kriegszustand möglich ist, politisch Einfluss zu nehmen, ist es sicherlich berechtigt, von einer anti-russischen und vagen pro-europäischen Ideologie in der ukrainischen Politik zu sprechen. Doch was heißt dies für die eigentlichen politischen Inhalte?
Wie bereits bei den Präsidentenwahlen am 25. Mai 2014, ist es in erster Linie illusorisch, von einem nachhaltigen Wandel in der ukrainischen Politik zu sprechen. Häufig wird bei den Gründen für die sogenannte Maidan-Revolution lediglich der Abbruch der Verhandlungen zu einem EU-Assoziierungsabkommen durch den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch genannt. Dies mag ein zentraler Auslöser gewesen sein, doch wenn wir einen Schritt zurücktreten und nach den eigentlichen Ursachen der sogenannten Maidan-Revolution fragen, ist ein Blick auf eine landesweite Umfrage vom Dezember 2013 – also kurz nachdem die Proteste gegen Janukowitsch begannen – aufschlussreich. Als die drängendsten politischen Probleme wurden Inflation, Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und das marode Gesundheitssystem genannt. 74 % der Befragten äußerten Misstrauen gegen die politischen Institutionen und zwei Drittel gegenüber den PoliterInnen – nicht nur Präsident Janukowitsch, sondern auch Oppositionelle wie Julia Tymoschenko oder Arsenij Jazenjuk waren damit gemeint. Die geopolitische Ausrichtung stellte zu diesem Zeitpunkt nicht die Antriebskraft für Proteste dar: gerade einmal 14 % sahen das Verhältnis zu Russland und 4 % das Verhältnis zur Eurasischen Union als problematisch an. 34 % sprachen sich für eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland aus, 35 % wollten eine engere Anbindung an die EU und 17 % sahen keinen Widerspruch in den beiden genannten Tendenzen.[6] Zweifelsohne wird Europa für viele Menschen weltweit, nicht anders in der Ukraine, immer noch mit Wohlstand und Freiheit in Verbindung gebracht. Doch in Anbetracht einer solchen Umfrage retrospektiv zu behaupten, dass „[…] auf dem Maidan […] zum ersten Mal Menschen für Europa gestorben“[7] sind, wie es der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer tat, wird den eigentlichen Motiven des Protests nicht gerecht.
Die de facto als dringend empfundenen Probleme waren genau die, die nach der „Maidan-Revolution“ nicht von der Politik aufgegriffen wurden. Vielmehr hat sich, wie der Politikwissenschaftler Klaus Müller hervorhebt, „an den realen Machtverhältnissen und den politischen Institutionen der Ukraine genauso wenig verändert […] wie an den wirtschaftlichen Strukturen. […] Die gewaltsame Räumung der Kiewer Protestzone Anfang August erfolgte nicht, weil die Forderungen des Maidan nach einem Ende der Korruption und eines von Oligarchen vereinnahmten Staates erfüllt worden wären. Sie sollte vielmehr die Kontinuität des politischen Geschäfts demonstrieren und gewährleisten.“[8]
Das geopolitische Taktieren der Oligarchie
Die oligarchischen Clans sowie die von ihnen deutlich dominierten politischen und ökonomischen Strukturen bildeten sich im Übergang von der sowjetischen zur postsowjetischen Phase (wie auch in Russland)[9] heraus.[10] Die ukrainischen OligarchInnen zeichnen sich durch verschiedene Arten von Einflussnahmen aus, u.a. sind sie (Mit-) BesitzerInnen von großen Firmen, Medienorganen, Fußballklubs und Kulturgütern. Einige von ihnen vertreten ihre Interessen selbst als ParlamentarierInnen. Die jüngeren Auseinandersetzungen in der Ukraine lassen sich als ein Duell des Clans um Rinat Achmetov, der hinter der Partei der Regionen und Janukowitsch stand, mit dem Clan um Victor Pintschuk, der sich für die Wahl Poroschenkos zum Präsidenten und Witali Klitschkos zum Kiewer Bürgermeister einsetzte, beschreiben.
Bei Rinat Achmetov handelt sich um den reichsten Ukrainer mit einem geschätzten Besitz von 15,4 Milliarden Dollar. Unter der Präsidentschaft von Leonid Kutschma (im Amt von 1994-2005) stieg er zu einem bedeutenden Strippenzieher in der Kohle- und Metallindustrie im ukrainischen Osten auf. Seinen Aufstieg verdankte er seinen Beziehungen zu Janukowitsch, der damals zum Gouverneur der Region Donezk ernannt wurde. Der endgültige Schritt zu nationalem Einfluss gelang Achmetov dann ab 2002, als Janukowitsch Premierminister des Landes wurde. Als die Kräfte der sogenannten Orangenen Revolution ab 2005 die Regierung übernahmen, büßte Achmetov leicht an Macht ein, nur um ab 2010, als Janukowitsch Präsident wurde, noch einmal kräftig zu expandieren.[11] Sein Konkurrent Victor Pintschuk ist der zweitreichste Mann der Ukraine. Seine Firma Interpipe stellt Stahlrohre für Erdgas- und Erdölpipelines her und zudem besitzt Pintschuk Anteile an zwei Fernsehsendern und kontrolliert die Zeitung „Fakty“. Dieser Oligarch unterhält enge Kontakte zu westlichen EntscheidungsträgerInnen aus Wirtschaft und Politik und hat sich die Westbindung der Ukraine und die damit verbundenen Geschäfte in Europa zum Ziel gesetzt.[12]
Was in der Ukraine also vor allem stattfand, war ein „Oligarchenwechsel“.[13] Die jeweilige geographisch-politische Orientierung ergibt sich dabei nicht aus ideologischen Motiven, sondern aus ökonomischen Kalkulationen der jeweiligen Akteure. Die „politische Orientierung“ der ukrainischen Oligarchen ist also sehr instrumentell und deshalb auch gegebenenfalls von Zeit zu Zeit erheblichen Wandlungen unterworfen. Das zeigt sich etwa an Pintschuks vor diesem Hintergrund nur vermeintlich paradoxem Werdegang: Er, der nun die Einbindung der Ukraine in EU und NATO fordert, erlangte seinen Zugang zu den höchsten Kreisen der Macht durch seine Beziehung zur Tochter des Präsidenten Leonid Kutschma, der die Ukraine in enge Beziehungen zu Russland führte.[14] Doch dies ist nur ein Anhaltspunkt, der davor warnt, pro-europäische OligarchInnen mit Attributen wie „liberal“ und „demokratisch“ zu versehen und sie „autoritär-korrupten“ pro-russischen GegenspielerInnen gegenüberzustellen, denn „[…] die meisten Oligarchen in der Ukraine [haben] immer zwischen dem prowestlichen und dem prorussischen Lager taktiert“[15], wie der Journalist André Eichhofer konstatiert.
Ein mindestens ebenso eindringliches Beispiel wie Pintschuk, der selbst nicht mehr direkt als Politiker aktiv ist, stellt der jetzige Präsident Petro Poroschenko dar, dessen Wahl (ebenso wie die Wahl Klitschkos zum Kiewer Bürgermeister) von Pintschuk unterstützt wurde. Poroschenko gelang in der Umbruchzeit nach dem Ende der UdSSR eine steile Karriere. Er wurde Besitzer ehemaliger Staatsbetriebe, zunächst einer Schiffs- und Rüstungsfabrik und später einer Schokoladenfirma. Zudem kontrolliert er eine Mediengruppe mit TV- und Radiosendern. Er war Mitgründer der Partei der Regionen, die Ex-Präsident Kutschma nahestand und später zum Wahlbündnis für Victor Janukowitsch wurde. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, zu Beginn der Regierungszeit der „Orangenen Revolution“ Vorsitzender des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats zu werden (Poroschenko wurde sogar als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt gehandelt). Den damaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko kennt er persönlich sehr gut – er ist Patenonkel eines seiner Kinder. Aufgrund von Korruptionsvorwürfen musste Poroschenko nach kurzer Zeit aus seinem neuen Amt zurücktreten, wurde jedoch im Oktober 2009 noch einmal für ein halbes Jahr Außenminister. Auch unter Janukowitsch konnte er einen Posten bekleiden: er war ab März 2012 für ein dreiviertel Jahr Wirtschaftsminister. Danach distanzierte er sich jedoch von der Regierung und seine Medien berichteten zunehmend negativ über sie. Den Maidan-Protestierenden empfahl er sich durch ausführliche Berichterstattung in seinen Medien und brachte sich damit erfolgreich als Präsidentschaftskandidat in Stellung. Wie das Beispiel Poroschenko zeigt, spiegelt sich das Manövrieren der Oligarchie zwischen verschiedenen Bündnissen auch im ukrainischen Parteienspektrum wider. So folgert Klaus Müller: „Angesichts des vorherrschenden Opportunismus wäre es also trügerisch, die parteipolitische Szenerie der Ukraine in starre innen- und geopolitische Lager einzuteilen.“[16]
Die Westbindung und die Zerschlagung der Brücken
In Bezug auf die schwierige Situation in der Ukraine war es erstaunlicherweise der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, der treffende Worte bezüglich des geopolitischen Zerrens um dieses Land fand: „Die Ukraine-Frage wird viel zu oft als ein Showdown dargestellt: Geht die Ukraine an den Westen oder an den Osten? Aber um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandens Vorposten sein. Vielmehr sollte sie eine Brücke zwischen beiden Seiten darstellen.“[17] Zum einen ist für diesen Ausgleich nötig, die Ukraine nicht ausschließlich in ein westliches oder russisches Bündnissystem zu drängen.[18] Darüber hinaus ist jedoch wichtig zu betonen, dass eine progressive Entwicklung der Ukraine nur durch wirkliche Selbstbestimmung und Demokratisierung erreicht werden kann. Diesen Zielen steht jedoch die OligarchInnenherrschaft im Weg, die immer wieder von außen stabilisiert wird. Denn solange Russland auf der einen sowie die EU und die USA auf der anderen Seite mit Hilfe der dominanten Kräfte versuchen, die Ukraine komplett für sich zu gewinnen, behalten die oligarchischen Clans die Schlüsselpositionen in dieser Auseinandersetzung.[19]
Der Pintschuk-Clan möchte keine Zeit auf dem Weg Richtung Westen verlieren. Bereits einen Monat vor den Parlamentswahlen kündigte Poroschenko Reformen an, die es der Ukraine bis 2020 ermöglichen sollen, einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft zu stellen. Wie der Journalist Benjamin Bidder hervorhebt, hätten „[d]ie Reaktionen […] in Europas Hauptstädten verhaltener kaum sein können.“[20] Zwar ist die EU gewillt, die Ukraine fest an sich zu binden, doch nur mit einem Partnerschafts- bzw. Assoziierungsabkommen und nicht mit einer festen Mitgliedschaft, denn in den Augen vieler EU-Eliten ist das Land zu bevölkerungsreich (zu viele Stimmen im Rat der EU), zu chaotisch (zu schwer kalkulierbarer innerer Konflikt) und würde eine große Angriffsfläche für rechtsnationalistische und rechtsradikale EU-KritikerInnen bieten (speziell im Themenfeld Migration).[21] Doch abgesehen von der anzuzweifelnden Realisierbarkeit der EU-Mitgliedschaft, sollte ein Blick auf die periphere Eingliederung anderer (mittel-) osteuropäischer Staaten in die EU ohnehin die Frage aufwerfen, ob der Beitritt zur Union in ihrem jetzigen Zustand erstrebenswert ist.[22] Schon die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds verlangt der Ukraine eine Austeritätspolitik ab, die längerfristig die Maßnahmen Griechenlands seit dessen Schuldenkrise noch deutlich in den Schatten stellen könnte.[23]
Über diese wirtschaftlichen Aspekte hinaus wirft die Außenorientierung der Ukraine die Frage darüber auf, was zukünftig unter diesem Staatsgebilde überhaupt noch fassbar sein wird. Es erfordert schon einen kühnen Optimismus, sich die Ukraine noch einmal als funktionierenden Staat vorzustellen. Neben einer deeskalierenden Politik Moskaus im Osten der Ukraine wäre eine der elementarsten Voraussetzungen für eine „Utopie regionalen Ausgleichs“ (Claus Leggewie),[24] dass Kiew nicht auf eine ausschließliche Westbindung des Landes setzt. Anders ließe sich keine Verhandlungsbasis mit den abtrünnigen Gebieten im Osten herstellen. Auch EU und NATO müssten Kiew zu einem Programm des Ausgleichs ermuntern und nicht, wie momentan, immer mehr Öl ins Feuer gießen.
Die Entwicklungen in der Ukraine haben auch in vielen anderen Ländern, besonders in (Mittel-) Osteuropa, zu einer verstärkten Reflektion über die Beziehungen zu Russland geführt. Doch neben den Rufen nach verstärkter NATO-Präsenz, speziell aus dem Baltikum und aus Polen, ließ sich auch Kritik an dem westlichen Vorgehen gegen Russland vernehmen. Besonders der slowakische Premierminister Robert Fico kritisierte die westlichen Sanktionen gegen Russland und warnte die Ukraine vor vorbehaltlosen Schritten nach Westen: „Ich glaube, dass es der Ukraine schwer fallen wird, mit den Herausforderungen fertig zu werden, die mit dem EU-Beitritt zusammenhängen, da sie vor einem absoluten Zerfall steht. Ich lehne die Vorstellung davon ab, dass die Ukraine irgendwann Nato-Mitglied werden könnte, denn dies würde die Sicherheit in der Region stören“.[25] Bezeichnend für die verstärkte Blockbildung infolge der Auseinandersetzungen in der Ukraine ist ein Kommentar zu den Äußerungen Ficos in der Washington Post. In einem Artikel des Journalisten Jackson Diehl mit dem Titel „Osteuropäer beugen sich Putins Macht“ werden diese und andere heterogene, aus (Mittel-) Osteuropa stammende Kritiken am Westen gemeinsam als Indikatoren dafür angeführt, dass US-Präsident Barack Obama die Kontrolle über die osteuropäischen NATO-Mitglieder verloren hätte: [..] ein großes Stück der NATO-Allianz hat leise begonnen sich Moskau zuzuneigen. […] Die ‚Russophoben‘ einer expandierten NATO wurden in mehr als ein paar Hauptstädten durch Putin-Appeasers ersetzt.“[26] Auch ukrainischen PolitikerInnen könnten zukünftig kleinste Widerworte als Wille zur Wiederannäherung an Russland ausgelegt werden.
Eine Monroe-Doktrin für Osteuropa?
Ein besonders radikaler Vorschlag für den zukünftigen Umgang mit der Ukraine legte der US-Journalist James Kirchick in einem Artikel im Wall Street Journal vor, dessen deutsche Übersetzung die Frankfurter Allgemeine Zeitung publizierte. Kirchick stellt sich die Frage, wie Staaten, die (noch?) nicht in der NATO sind, vor russischem Einfluss geschützt werden können – in erster Linie geht es hier um die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau. Seine Antwort ist die Ausrufung einer „Monroe-Doktrin“ für die NATO. Diese 1823 unter der Präsidentschaft von James Monroe entstandene Doktrin erklärte ganz Lateinamerika zur Einflusssphäre der Vereinigten Staaten, offiziell um die gerade unabhängig gewordenen Staaten vor den ehemaligen europäischen Kolonialmächten zu schützen, de facto ebenfalls um ein eigenes Imperium südlich seiner Grenzen zu errichten. Kirchick begegnet der Kritik an der Monroe-Doktrin folgendermaßen: „Seit Monroe diese Doktrin […] verkündete, haben Historiker und linke lateinamerikanische Politiker sie als ideologische Essenz des Yankee-Imperialismus in den Dreck gezogen. Doch indem sich die Vereinigten Staaten zur Hegemonialmacht über die westliche Hemisphäre ausriefen, taten sie genau das Gegenteil: Sie schufen einen Raum für die lateinamerikanischen Nationen, in dem diese über ihr eigenes Schicksal entscheiden konnten, frei von ausländischer Intervention. Und die Doktrin funktionierte: die Aggression der Kolonialstaaten in Lateinamerika nahm ab.“[27] Zu behaupten, lateinamerikanische Staaten wären seit der Monroe-Doktrin in der Lage gewesen, sich frei zu entwickeln, ist nicht mehr als Hohn und Spott für die zahlreichen Opfer wirtschaftlicher Strangulierungen und menschenrechtverletzender Militärdiktaturen. „Die kreative Umdeutung der Monroe-Doktrin erstaunt nicht zuletzt mit Blick auf die bis in die Gegenwart anhaltende direkte Einmischung der USA in Lateinamerika, die bis zur Unterstützung von Putschen (etwas in Honduras 2009) und Putschversuchen (etwa in Venezuela 2002) gegen demokratisch gewählte Regierungen reicht und nicht vom Respekt für die Entscheidung der dortigen Bevölkerungen über ihr ‚eigenes Schicksal‘ motiviert.“[28] Dass diese osteuropäische Monroe-Doktrin einer NATO-Mitgliedschaft der entsprechenden postsowjetischen Staaten dem in nicht vielen nachstehen würde, lässt sich den weiteren Ausführungen Kirchicks entnehmen: „Für die europäischen Staaten, die durch einen geografischen Nachteil außerhalb der Nato-Allianz liegen, deren Bestand als souveräne, freie und friedliche Staaten für den Kontinent aber essentiell sind, sollte die Nato deshalb etwas anwenden, das der Monroe Doktrin gleicht. Zum einen könnte dieses Prinzip so formuliert werden, dass Versuche einer außenstehenden Macht, die Souveränität dieser Staaten zu untergraben, als ‚Manifestation einer unfreundlichen Disposition‘ – um es in Monroes Worten zu sagen – gegen die westliche Allianz gewertet werden. In der Praxis käme dies allem gleich, was knapp an der Verpflichtung nach Artikel 5 vorbeigeht, Nato-Truppen in das Land zu schicken, um es gegen einen Angriff zu verteidigen.“[29]
Wir mögen diese Ausführungen Kirchicks als Gedankenspiele eines Hardliners verbuchen, die vielleicht in dieser Form nicht direkten Einzug in die Politik finden werden. Doch ob so etwas wie eine neue Monroe-Doktrin ausgerufen wird oder nicht, der Verweis auf dieselbe ist im Falle der Ukraine passender als je zuvor, denn er deutet auf verschiedene Aspekte, die Lateinamerika über lange Zeit bzw. häufig bis in seine aktuelle Situation hinein prägen und die sich auch in der jetzigen Ausrichtung der Ukraine zeigen: 1. Zuschnitt als Primärgüterproduzent für einige wenige, in diesem Fall europäische, Märkte; 2. „Strukturanpassungsmaßnahmen“, d.h. von der EU und dem IWF verordnete Austeritätspolitik ohne Rücksicht auf soziale Verluste; 3. Militärstrategische Absicherung dieses Entwicklungspfades. Dies sind die Kennzeichnen einer sich als proeuropäisch ausrichtenden Ukraine.
Anmerkungen
[1] Zitiert nach Spiegel Online (26.10.2014): Proeuropäische Kräfte gewinnen deutlich.
[2] Herzinger, Richard: Moskaus langer Arm (welt.de, 28.10.2014).
[3] Lagodinsky, Sergej: Ukraine-Wahl: Warum der Ausgang uns alle betrifft (carta.info, 26.10.2014).
[4] Vgl.: Roetzer, Florian: Ukraine nach der Wahl: Irgendwie proeuropäisch und stark rechtsnationalistisch (Telepolis, 27.10.2014).
[5] IPG (27.10.2014): Wahlen in der Ukraine: „In Tarnfleck-Uniform auf Panzern über Bildschirme gerollt“. Sechs Fragen an Stephan Meuser in Kiew.
[6] Vgl.: Müller, Klaus: Die Clans der Ukraine. Machtverhältnisse in einer Demokratie, die nie existiert hat, in: Le Monde Diplomatique (Deutsche Ausgabe), Oktober 2014, S. 8-9.
[7] Joschka Fischer im Interview mit Pohl, Ines/Reeh, Martin: „In Syrien nicht zu intervenieren, war ein Fehler“, in: taz am Wochenende, 1./2.11.2014, S. 4-5, hier: S. 5.
[8] Müller: Die Clans der Ukraine, s.o., S. 8.
[9] Zur Transformation in Russland und den dabei entscheidenden Akteuren vgl.: Jaitner, Felix: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin, Hamburg: VSA Verlag, 2014.
[10] Auf die Frage nach den Konsequenzen der Parlamentswahl für den Einfluss der Oligarchie auf die Politik, meint Stephan Meuser von der Friedrich-Ebert-Stiftung Kiew gegenüber dem IPG Journal: „Die Wahl dürfte hieran erst einmal nichts ändern. Bei jeder einzelnen Partei ist weiterhin nachweisbar, dass Politik und Oligarchen eng miteinander verbunden sind. Positiv ist aber, dass etwa 25 der Aktivisten vom Maidan ein Abgeordnetenmandat errungen haben – in ganz verschiedenen Parteien“ (IPG: Wahlen in der Ukraine, s.o.).
[11] Leshchenko, Sergii: Hinter den Kulissen. Eine Typologie der ukrainischen Oligarchen (eurozine.com, 15.5.2014).
[12] Vgl.: Eichhofer, André: Der Oligarch, der das Land vorm Zerfall retten soll (welt.de, 16.9.2014).
[13] Dérens, Jean-Arnault/Geslin, Laurent: Schwergewichte aus Donezk, in: Le Monde Diplomatique (Deutsche Ausgabe), April 2014, S. 11.
[14] Vgl.: Leshchenko: Hinter den Kulissen, s.o.
[15] Eichhofer: Der Oligarch, der das Land vorm Zerfall retten soll, s.o.
[16] Müller: Die Clans der Ukraine, s.o., S. 8.
[17] Kissinger, Henry A.: Eine Dämonisierung Putins ist keine Politik. Vier Vorschläge für eine ausbalancierte Unzufriedenheit (IPG, 6.3.2014).
[18] Auch Kissinger plädiert dafür, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen (vgl.: ebd.).
[19] Für eine Analyse darüber, wie die USA Julia Tymoschenko und die EU versuchte Vitali Klitschko als ihre jeweiligen PräsidentschaftskandidatInnen der Ukraine zu etablieren, vgl.: Wagner, Jürgen: Ukraine: Ringen um die Machtgeometrie. Neoliberales Assoziationsabkommen und europäisch-russische Machtkonflikte, IMI-Studie 2c/2014, 21.07.2014, S. 10-12.
[20] Bidder, Benjamin: Die Ukraine gehört in die EU (Spiegel Online, 24.10.2014). Der Autor spricht sich für eine „ernstgemeinte Perspektive für einen Beitritt“ der Ukraine aus; die offizielle Pressemitteilung der Ankündigung von Präsident Poroschenko in der englischen Übersetzung lässt sich hier nachlesen: http://www.president.gov.ua/en/news/31289.html.
[21] Vgl.: Cormack, Tara: The EU: an accidental warmonger (spiked, 30.10.2014).
[22] Für einen kritischen Blick auf die EU-Osterweiterung vgl.: Rowlands, Carl: Europe’s Periphery (eurozine.com, 25.1.2011).
[23] Genauer zu den bereits getroffenen Maßnahmen vgl: Wagner, Jürgen: Die Ukraine nach der „Wahl“. Wirtschaftliche Demontage, Sozialkahlschlag und Bürgerkrieg, in: IMI Ausdruck 3/2014, S. 15-18.
[24] Leggewie, Claus: Utopischer Realismus (taz.de, 14.10.2014).
[25] Zitiert nach RIA Novosti (14.9.2014): Premier der Slowakei: Ukraine steht vor absolutem Zerfall.
[26] Diehl, Jackson: Eastern Europeans are bowing to Putin’s power (washingtonpost.com, 12.10.2014).
[27] Kirchick, James: Eine Monroe-Doktrin für die Nato (faz.net, 3.11.2014).
[28] German Foreign Policy (4.11.2014): Eine Monroe-Doktrin für Osteuropa.
[29] Kirchick: Eine Monroe-Doktrin für die Nato, s.o.
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