Mittwoch, 17. Dezember 2014

Umbruchszeiten

german-foreign-policy vom 10.12.201 – Ohne Erfolg drängen EU und USA ihnen nahestehende Staaten zur Beteiligung an ihren Russland-Sanktionen. Die Türkei werde die Maßnahmen nicht unterstützen, heißt es in Ankara nach einem Besuch der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini am Montag; vielmehr werde sie ihre Kooperation mit Moskau fortsetzen. Auch in Indien ist vor dem heute beginnenden Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu hören, man werde weiter kooperieren, da man gemeinsame Interessen habe – etwa die Entschärfung der aktuellen, dem Kalten Krieg stark ähnelnden Spannungen. Hintergrund ist in Indien, aber auch in anderen dem Westen ursprünglich recht nahestehenden Staaten wie Südafrika und Brasilien eine differenzierte Sicht auf den Ukraine-Konflikt, die die westliche Rolle darin nicht ausklammert. So wird etwa in der indischen Debatte „das Argument, Russland habe völkerrechtliche Grenzen in Europa verändert“, nicht ernstgenommen – schließlich habe der Westen bei der Zerschlagung Jugoslawiens dasselbe getan, heißt es in einem Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU). Ein norwegischer Think-Tank verweist darauf, dass Außenpolitiker in Brasilien nicht mehr bereit seien, zu westlichen Menschenrechtsverletzungen zu schweigen, andere aber lautstark zu kritisieren. Beobachter urteilen, die vom Westen dominierte „Ordnung“ der Welt gerate ins Bröckeln. Ohne Erfolg Ohne Erfolg drängen die EU und die USA ihnen nahestehende Staaten, sich an ihren Sanktionen gegen Russland zu beteiligen. Vergeblich hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Montag bei Arbeitsgesprächen mit der türkischen Regierungsspitze versucht, Ankara auf einen Kurswechsel gegenüber Moskau zu verpflichten. Die Türkei werde auch weiterhin mit Russland zusammenarbeiten, werden türkische Regierungskreise zitiert. Brüssel bemüht sich auch deshalb um die Einbeziehung Ankaras in die Sanktionen, weil Russlands Präsident Wladimir Putin in der vergangen Woche angekündigt hat, den Bau der Pipeline „South Stream“ in die EU zu stoppen und das für sie eingeplante Erdgas in die Türkei zu leiten (german-foreign-policy.com berichtete [1]) – eine herbe Niederlage für Berlin und Brüssel. Ebenfalls eine Beteiligung an den Sanktionen explizit abgelehnt hat am letzten Freitag auch Indien. Dort hatte vor allem Washington Druck gemacht – in Vorbereitung einer Indien-Reise von US-Präsident Barack Obama im Januar. New Delhi und Moskau hätten „ähnliche Ansichten über wichtige globale Themen, darunter die Bedrohungen durch Terrorismus …und die Notwendigkeit, die dem Kalten Krieg ähnlichen Spannungen zu entschärfen, die sich zunehmend in den globalen Beziehungen manifestieren“, erklärt ein hochrangiger Beamter aus dem indischen Außenministerium. Ihm zufolge werden Indien und Russland bei einem heute beginnenden Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin ihre „gemeinsame Vision für ihre Beziehungen in den nächsten zehn Jahren“ skizzieren.[2] Doppelte Standards Weshalb die westlichen Sanktionen gegen Russland in Indien weitgehend auf Ablehnung stoßen, lässt sich einer aktuellen Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) entnehmen. Demnach empfinden „die meisten sicherheitspolitischen Experten in Indien … die Rechtfertigungen für die Sanktionen des Westens als inkonsistent“.[3] Die westliche „Unterstützung von Regimewandel in der arabischen Welt“ – gemeint sind vor allem die NATO-Intervention in Libyen sowie die Unterstützung für die Aufständischen in Syrien – zwinge zu der Frage, auf welcher Grundlage der Westen eigentlich russische Aktivitäten in der Ukraine kritisiere; dasselbe müsse man mit Blick auf den „Einsatz[...] militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Demokratie“ durch westliche Staaten tun – gemeint ist etwa der Krieg gegen den Irak. „Das Argument, Russland habe völkerrechtliche Grenzen in Europa verändert“, werde in Indien „vor dem Hintergrund z.B. des Jugoslawien-Konflikts kritisch gesehen“, schreibt die Adenauer-Stiftung, die indische Kritik an den doppelten Standards des Westens, der die Grenzen Jugoslawiens bekanntlich per Angriffskrieg verschob, höflich umschreibend. Ignoranz Darüber hinaus könne man in Indien nicht begreifen, berichtet die Adenauer-Stiftung, weshalb die EU ihre „Östliche Partnerschaft“ nicht mit Russland koordiniert habe, dessen Interessen ganz offensichtlich stark betroffen gewesen seien. Dies sei „aus indischer Sicht ein strategischer Fehler“ gewesen, zumal Russlands Präsident schon seit 2007 „wiederholt“ die „Nichtberücksichtigung der Interessen“ seines Landes moniert habe, „ohne dass davon im Westen ernsthaft Notiz genommen worden sei“. Die Reaktion Moskaus „auf die Ereignisse in der Ukraine“ sei nach der jahrelangen Missachtung bedeutender russischer Interessen klar „zu erwarten gewesen“. Die „aus Sicht Indiens voreingenommene Haltung Europas gegenüber Russland sei nicht zuletzt auch deshalb schwer zu verstehen“, heißt es weiter, „weil Russland kaum eine Bedrohung für das transatlantische Bündnis darstelle“. Sollte der Westen sich wirklich gefährdet sehen, dann hätte „für eine Annäherung und einen Aussöhnungsprozess mit Russland … aus indischer Sicht mehr getan werden können“ – und zwar auf friedlichem Weg.[4] Propaganda Ähnlich kritische Positionen gegenüber dem Westen sind bereits im Sommer in einem Überblick über die Ukraine-Debatte in Südafrika vermerkt worden. Dies sei erstaunlich, weil Südafrika Grenzverschiebungen eigentlich strikt ablehne und viele im Westen deshalb mit südafrikanischem Protest gegen die Übernahme der Krim durch Russland gerechnet hätten, hieß es in einem „Policy Brief“ des Norwegian Peacebuilding Resource Centre.[5] Allerdings habe Pretoria in den vergangenen Jahren westliche Interventionen, etwa im Irak und in Libyen, scharf angeprangert und sich stets gegen US- und EU-Einmischung zwecks „regime change“ unter dem Deckmantel von „Demokratieförderung“ gewandt; es habe daher keine Veranlassung gesehen, den Westen nun bei seinem Vorgehen gegen Russland zu unterstützen. Wie es in dem Bericht weiter hieß, wiesen zivilgesellschaftliche Organisationen in Südafrika immer wieder darauf hin, dass der Westen das Prinzip der Nichteinmischung mit seiner Unterstützung für die Majdan-Proteste zuerst gebrochen habe. Außerdem werde massive Kritik an den westlichen Mainstream-Medien laut sowie an südafrikanischen Medien, die deren Berichterstattung oft übernähmen. Die westliche Berichterstattung werde offen als „Propaganda“ eingestuft. Die größte Bedrohung Wiederum Vergleichbares ist auch aus Brasilien berichtet worden. Dort erinnere man sich deutlich „an die hochgradig selektive Unterstützung des Westens für Demonstrationen und Staatsstreiche in anderen Ländern“, hieß es im Mai ebenfalls in einem „Policy Brief“ des Norwegian Peacebuilding Resource Centre.[6] Verwiesen werde zum Beispiel darauf, dass der Westen – „trotz seiner prinzipientreuen Rhetorik“ – illegitime Putschregime in Venezuela (2002), Honduras (2009) und Ägypten (2013) rasch anerkannt und zudem „repressive Regierungen aktiv unterstützt habe, wenn sie Gewalt gegen Protestbewegungen anwandten, beispielsweise in Bahrain“. Brasilianische Beobachter fragten, weshalb nach dem völkerrechtswidrigen Überfall auf den Irak niemand verlangt habe, die USA von den G8-Treffen auszuschließen; weshalb Iran als „internationaler Paria“ behandelt werde, während Indien oder Israel umstandslos als Nuklearmächte toleriert würden; und weshalb systematische Menschenrechtsverletzungen oder Demokratiedefizite „in Ländern akzeptiert würden, die die USA unterstützen, aber nicht in anderen“. „Kommentatoren in Brasilien argumentieren, dass diese Inkonsistenzen und doppelten Standards in ihrer Gesamtheit der internationalen Ordnung einen weitaus größeren Schaden zufügten als jegliche russische Politik“, hieß es in dem „Policy Brief“ aus Norwegen: „Wenn sie gefragt würden, welches Land die größte Bedrohung für die internationale Stabilität sei, würden die meisten brasilianischen Außenpolitiker und Beobachter nicht Russland, Iran und Nordkorea nennen, sondern die USA.“ Kampf um die „Ordnung“ „Es scheint zunehmend, dass die westlich dominierte Ära nach dem Kalten Krieg vorbei ist“, urteilte bereits im Frühjahr das bekannte, in Tokio erscheinende Magazin „The Diplomat“: „Aber bislang gibt es noch keine Ordnung, die sie ersetzen könnte.“[7] Die aktuellen Aggressionen von EU und NATO sind der Versuch, die alte „Ordnung“ zu retten oder eine neue in ihrem Sinne zu gestalten. Aus den Ängsten, ihre altgewohnte Dominanz zu verlieren erklärt sich ihre außerordentliche Aggressivität. [1] S. dazu Die geplatzte Pipeline. [2] India will not back sanctions against Russia. timesofindia.indiatimes.com 07.12.2014. [3], [4] Lars Peter Schmidt, Kanwal Sibal: Indien. In: Russlands Annexion der Krim. Eine Auswahl internationaler Wahrnehmungen und Auswirkungen. Konrad-Adenauer-Stiftung 2014. [5] Elizabeth Sidiropoulos: South Africa’s response to the Ukrainian crisis. Norwegian Peacebuilding Resource Centre Policy Brief, June 2014. [6] Oliver Stuenkel: Why Brazil has not criticised Russia over Crimea. Norwegian Peacebuilding Resource Centre Policy Brief, May 2014. [7] Zachary Keck: Why Did BRICS Back Russia on Crimea? thediplomat.com 31.03.2014.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen