Freitag, 5. Juli 2013

Der Presserechtsstaat (Anneliese Fikentscher/Andreas Neumann)

Im November 2011 war die Geburtsstunde der Bezeichnung »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Am 4.11.2011 waren zwei Menschen, die dem Neo-Nazi-Spektrum zugerechnet werden, auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen. Am gleichen Tag ging ein Haus, in dem sie gelebt haben sollen, in Flammen auf. Trotzdem sollen dort unversehrte DVDs mit einem Video gefunden worden sein, in dem der Name NSU das Licht der Welt erblickt. Obwohl das Video keinen konkreten Bezug zu den beiden Toten herstellt, wird es als deren Bekenntnis gewertet. Es war vorrangig der Spiegel, der die öffentliche Meinung in diese Richtung steuerte. Es soll demnach der »Nationalsozialistische Untergrund« gewesen sein, der die sogenannten Döner-Morde, das sogenannte Nagelbomben-Attentat in Köln und weitere Verbrechen begangen hat. Obwohl also die Frage der Täterschaft alles andere als geklärt angesehen werden kann und der so genannte NSU-Prozeß gerade erst begonnen hat, ist die Verurteilung durch große Teile der Medien längst vollzogen. Am 23.11.2012 haben wir vor diesem Hintergrund exemplarisch gegen vier Artikel Beschwerde beim Deutschen Presserat eingereicht. Fast drei Monate später wurde sie mit Schreiben von Referent Roman Portack zurückgewiesen. Unser danach erhobener Einspruch wurde vom Beschwerdeausschuß 2 unter Vorsitz von Ursula Ernst mit Schreiben vom April endgültig abgewiesen. Die Mitglieder des Beschwerdeausschusses 2 des Deutschen Presserats haben zehn Menschen ermordet. Darf das behauptet werden? Folgt man dem Presserat, heißt die Antwort: Ja! Die Namen der Mitglieder und der Vorsitzenden, Ursula Ernst, werden ja nicht genannt. Begründung: Es liegt »keine identifizierende Berichterstattung im Sinne des Pressekodex vor. Denn die Namen der mutmaßlichen Täter werden nicht erwähnt. Mangels Identifizierbarkeit ist in diesem Fall eine Vorverurteilung durch die Berichterstattung von vornherein ausgeschlossen.« Darf behauptet werden, die Bundeskanzlerin hat zehn Menschen ermordet? Folgt man der Argumentation des Presserats, lautet die Antwort: Ja! Ihr Name wird ja nicht erwähnt. Das ist eine zentrale Erkenntnis aus einer Beschwerdeabweisung des Deutschen Presserats. In einem taz-Artikel vom 5.11.2012 ist die Rede von »NSU-Mordserie«, »NSU-Ermordeten«, »NSU-Trio« und davon, »daß der ›Nationalsozialistische Untergrund‹ (NSU) zehn Morde begangen hat«. Und fast jeder weiß mittlerweile, welche Personen mit dem sogenannten NSU-Trio gemeint sind. Nur der Deutsche Presserat weiß es angeblich nicht und kann deshalb mit Datum vom 11.4.2013 schreiben: »Hinsichtlich des Artikels in der taz vom 5.11.2012 unter der Überschrift ›Protest ein Jahr nach Mord-Enthüllung‹ ist festzuhalten, daß bereits keine identifizierende Berichterstattung im Sinne von Ziffer 8 des Pressekodex vorliegt. Denn die Namen der mutmaßlichen Täter werden in dem Artikel nicht erwähnt. Mangels Identifizierbarkeit ist in diesem Fall eine Vorverurteilung durch die Berichterstattung von vornherein ausgeschlossen.« Und der Presserat kann die Augen davor verschließen, daß in anderen taz-Artikeln sehr wohl die Namen genannt werden – »Die netten Mörder ... Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe« in einem Artikel vom 6.4.2012 beispielsweise. Sich dumm zu stellen, will gelernt sein. Aber auch für weitere Artikel (in Spiegel, Kölner Stadt-Anzeiger und Sächsischer Zeitung), gegen die stellvertretend für viele andere Beschwerde erhoben war und in denen die Namen der drei Personen explizit genannt werden, findet der Beschwerdeausschuß des Presserats (zu dem laut Presserat-Website gemäß Stand vom 15.4.2013 übrigens eine Ressortleiterin der Sächsischen Zeitung gehört) einen Weg, die Verletzung des Pressekodex ungeahndet zu lassen. Dieser Weg läuft über die Aushebelung der Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung ist ein fundamentales Prinzip in einem Rechtsstaat. Dieser Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens findet sich in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: »Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.« So steht es ähnlich auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention. »Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.« So steht es sogar im Pressekodex des Deutschen Presserats. »Die Vermutung der Unschuld endet mit der Rechtskraft der Verurteilung.« So steht es bei Wikipedia. Das ist nun alles Schnee von gestern. Spätestens seit dem 11.4.2013 mißachtet der Presserat das Menschenrecht in einem zentralen Punkt. Spätestens seit dem 11.4.2013 mißachtet der Presserat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention. Spätestens seit dem 11.4.2013 mißachtet der Presserat das zentrale Prinzip eines Rechtsstaats. Denn er schreibt, kurz vor dem Beginn des NSU-Prozesses – hellseherisch dessen Ergebnis vorwegnehmend – mit Datum vom 11.4.2013: »Das Ermittlungsverfahren, welches gegen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt geführt wurde, betrifft eine Serie atypischer Straftaten mit politischem Hintergrund. Von üblichen Ermittlungsverfahren unterscheidet es sich u.a. dadurch, daß – auch aufgrund der intensiven gesellschaftlichen Debatte über die Taten und des hohen politischen Aufklärungsdruckes – die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt über ein Jahr lang mit besonders hoher Intensität Ermittlungen durchgeführt haben. Die Intensität der Ermittlungen hat zu einer Beweislage geführt, nach der begründete Zweifel an der Täterschaft der in den Artikeln genannten mutmaßlichen Täter nicht mehr bestehen und eine Bezeichnung als Täter daher aus presseethischer Sicht gerechtfertigt ist.« Es ist erstaunlich, was der Presserat alles beherrscht. Dazu gehört die Kunst des Springens auf der Zeitachse. Die Artikel, gegen die sich die Beschwerde richtet, sind zwischen dem 3. und 5.11.2012 erschienen – in einem Zeitraum, als noch nicht einmal Anklage erhoben war. Das geschah erst am 8.11.2012: »Die Bundesanwaltschaft hat heute vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München Anklage gegen das mutmaßliche Mitglied der terroristischen Vereinigung ›Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)‹ Beate Zschäpe sowie vier mutmaßliche Unterstützer und Gehilfen des ›NSU‹ erhoben«, teilt der Generalbundesanwalt mit und verwendet auffallend das Wort mutmaßlich. Der Presserat hingegen meint zur Legitimation des Fehlverhaltens etwas heranziehen zu können, was zum Zeitpunkt des Fehlverhaltens noch in der Zukunft lag. Aber das Entscheidende ist: Der Presserat hat sich mit dem Begriff »atypischer Straftaten« – vergleichbar dem des »übergesetzlichen Notstands« – ein Konstrukt geschaffen, mit dem er das Prinzip der Unschuldsvermutung meint aushebeln zu können. Er nimmt die rechtskräftige Verurteilung vorweg und erhebt sich damit über das Recht. Der Deutsche Presserat gibt sich und den Medien das Recht, Richter zu spielen. Nachbetrachtung: Der Presserat hat eine Beschwerde abgelehnt, die sich gegen einen fast flächendeckend praktizierten, gravierenden Mißstand richtet. Was würde geschehen, wenn er anders entschieden und den Mißstand gerügt hätte? Was würde den einzelnen Presseratsmitgliedern, die eine solche Entscheidung zu verantworten hätten, widerfahren? Sie hätten nicht nur fast all ihre Kollegen sondern auch den ganzen Medienapparat gegen sich. Sie könnten sich der Flut von Vorwürfen kaum erwehren. Sie würden gewissermaßen gesteinigt und müßten um ihre berufliche Zukunft fürchten. Das System funktioniert – perfekt.

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