Hierarchie der Not. Wer unten steht, leidet mehr: Die Corona-Krise verdeutlicht und verschärft die soziale Ungleichheit
Dossier
“Es
geht jetzt auch um die gesellschaftlichen Abwehrkräfte. Mit jeder
Verschärfung der Ausgangsregeln, die die Politik in diesen Tagen
beschließt, wird eine Zahl immer wichtiger, die mit darüber entscheidet,
wie schwer es für jeden Einzelnen wird: Die Quadratmeterzahl. Je größer
die eigene Wohnung, desto eher lässt es sich dort auf Dauer aushalten.
(…) Die Schwächeren tragen die größere Last und das größere Risiko. Das
gilt für beide Bevölkerungsteile: für jene, die nicht mehr normal
arbeiten können, und für jene, die jetzt erst recht arbeiten müssen. Je
weniger die ungleiche Verteilung des Leids abgefedert wird durch Politik
und private Solidarität und je länger die Ausnahmezustands dauert desto
eher kann daraus gesellschaftlicher Sprengstoff werden. (…) Selbst bei
den Kurzarbeitern gibt es Unterschiede: Wer bei VW oder BMW beschäftigt
ist, wo man eh schon besser verdient, bekommt bis zu 90 Prozent des
Lohns, weil die IG Metall aufstockt. Andere in Unternehmen ohne
Tarifbindung bekommen nur 60 bis 67 Prozent. (…) Ungleich sind auch die
Voraussetzungen für die Schüler. E-Learning geht leichter, wenn man
Tablet, Computer und am besten noch Eltern hat, die bei den Aufgaben
helfen können. Aber was ist beispielsweise mit jenen, die sich nicht mit
ihren Eltern aufs Abitur vorbereiten können, die dafür in Bibliotheken
oder zu Mitschülern gehen würden? Sie sind nun abgeschnitten…” Artikel von Lenz Jacobsen und Parvin Sadigh vom 21. März 2020 in der Zeit online . Siehe dazu:
- [HBS-Umfrage] Corona-Krise: 26 Prozent der Erwerbstätigen
haben bereits Einkommenseinbußen erlitten, soziale Ungleichheit
verschärft sich
“Die Corona-Krise in Deutschland verschärft auch nach der
weitgehenden Lockerung der Kontaktbeschränkungen bestehende
Ungleichheiten bei Einkommen und beruflichen Möglichkeiten.
Erwerbstätige mit ohnehin schon niedrigeren Einkommen haben deutlich
mehr unter negativen wirtschaftlichen Folgen zu leiden als Menschen mit
höheren Einkommen. Sie haben beispielsweise während der Pandemie spürbar
häufiger schon an Einkommen eingebüßt, bei Kurzarbeit erhalten sie
deutlich seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, und sie
fürchten etwa doppelt so häufig, als Folge der Pandemie ihren
Arbeitsplatz zu verlieren. Das zeigen erste Ergebnisse einer neuen
Online-Befragung, für die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zwischen
Mitte und Ende Juni 6.309 Erwerbstätige interviewt worden sind. Mütter
übernehmen weiterhin deutlich häufiger als Väter den Hauptteil der
anfallenden Betreuungsarbeit. Der Anteil der Männer scheint im Vergleich
zu einer Vorgängerbefragung vom April sogar leicht rückläufig zu sein.
Der Abstand zwischen den durchschnittlichen Arbeitszeiten von Vätern und
Müttern ist weiterhin deutlich größer als vor Beginn der Krise.
Generell bessere Perspektiven in der Krise haben Beschäftigte in
Unternehmen mit Tarifvertrag und/oder Mitbestimmung: So erhalten
beispielsweise im Fall von Kurzarbeit 54 Prozent der Befragten mit
Tarifvertrag eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, während es ohne
Tarifvertrag nur 31 Prozent sind. In Betrieben mit Betriebsrat
existieren deutlich häufiger feste Regeln für das Homeoffice als in
Betrieben ohne Mitbestimmung. Gibt es eine solche Vereinbarung,
empfinden Befragte die Arbeitssituation im Homeoffice als weniger
belastend. Zudem finden in Betrieben mit Betriebsrat in allen
Qualifikationsgruppen häufiger Weiterbildungen der Beschäftigten statt.
Schaut man auf alle Befragten, ist der Anteil derjenigen, die bereits
Einkommenseinbußen erlitten haben, zwischen April und Juni von 20 auf 26
Prozent gestiegen. Dagegen ist die Quote der Menschen, die sich Sorgen
um ihre wirtschaftliche Zukunft oder ihren Job machen, etwas
zurückgegangen. Erfolge bei der Eindämmung der Epidemie in Deutschland
und die Anti-Krisenpolitik von Bund und Ländern werden also
offensichtlich positiv wahrgenommen. Nach wie vor sind insgesamt rund
zwei Drittel der Befragten eher oder voll zufrieden mit dem
Krisenmanagement, allerdings sind auch hier die Unterschiede erheblich.
Die Zustimmungswerte steigen mit dem Einkommen und liegen zwischen 46
Prozent bei Erwerbstätigen mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen
unter 1500 Euro und 72 Prozent bei einem Haushaltsnetto über 3200 Euro.
Zudem können sich 39 Prozent aller Befragten auch vorstellen, dass die
Pandemie „benutzt wird, um die Interessen von Reichen und Mächtigen
durchzusetzen.“ Dieser Verdacht ist unter Menschen mit niedrigen
Einkommen ebenfalls überdurchschnittlich verbreitet: Hier stimmen 50
Prozent zu…” Mitteilung des Pressedienstes der Hans-Böckler-Stiftung vom 10. Juli 2020
- Wie die Pandemie die Ungleichheit verschärft: Atypische Beschäftigung und die Covid-19-Krise
“… Die Covid-19-Krise hat viele Regierungen dazu veranlasst,
beispiellose Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen, was zu
einem vorübergehenden Stillstand weiter Teile der Wirtschaft geführt
hat. Die am stärksten betroffenen Sektoren sind in erster Linie der
Dienstleistungssektor (z.B. Tourismus), Bereiche, in denen es zu
direktem Kontakten zwischen KundInnen und DienstleistungsanbieterInnen
kommt (z.B. Gastronomie und Unterhaltungsbranche), sowie der Bausektor.
Mit der möglichen Ausnahme des Baugewerbes handelt es sich dabei um
Branchen, in denen die wirtschaftliche Aktivität voraussichtlich noch
einige Zeit beeinträchtigt bleiben wird, auch wenn sich die
Volkswirtschaften langsam von den weit verbreiteten Stilllegungen
erholen. Der Schutz der ArbeitnehmerInnen in den betroffenen Sektoren,
insbesondere derjenigen, die am stärksten von Einkommensverlusten
betroffen sind, und die nur begrenzt sozial abgesichert sind, wäre ein
wichtiger Schritt zur Vermeidung zunehmender negativer
Verteilungseffekte infolge der Covid-19-Krise. Dies ist umso wichtiger
vor dem Hintergrund, dass der Wandel der modernen Arbeitswelt mit einer
allmählichen Zunahme neuer, nicht dem Standard entsprechender
Beschäftigungsformen einhergeht. Diese Entwicklung stellt die Fähigkeit
der derzeitigen sozialen Sicherungssysteme in Frage, diejenigen zu
erreichen, welche wahrscheinlich am stärksten auf Unterstützung
angewiesen sind. Eine neue Untersuchung der OECD- liefert Schätzungen
des Anteils der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, die besonders
anfällig für Einkommens- oder Arbeitsplatzverluste infolge von Störungen
des Arbeitsmarktes durch Covid-19 sind. Dabei wird erörtert, welche
politischen Massnahmen die Regierungen bisher ergriffen haben sowie was
darüber hinaus getan werden sollte, um gefährdete Beschäftigte zu
unterstützen und eine integrative Erholung des Arbeitsmarktes zu fördern
sowie was darüber hinaus getan werden sollte (z.B. Stabile et al. 2020,
Dingel und Neiman 2020). Im Rahmen dieser Analyse zählen zu atypischen
Beschäftigten Teilzeitbeschäftigte, Selbständige und ArbeitnehmerInnen
mit befristeten Verträgen. Um es vorwegzunehmen: Im Durchschnitt der
OECD-Länder machen Branchen, die Schätzungen zufolge am stärksten von
den Covid-19-Eindämmungsmassnahmen betroffen sind, rund 40% der
Gesamtbeschäftigung aus. (…) Viele OECD-Länder haben die Kranken-,
Gesundheits- und Arbeitslosenunterstützung vorübergehend auf atypische
Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet. Es sollte in Erwägung gezogen
werden, nach der Krise dauerhaftere Sozialversicherungssysteme für diese
Beschäftigten einzuführen, welche die Versicherten über verschiedene
Arten von Arbeitsverhältnissen hinweg begleitet. Ein gleichberechtigter
Zugang zu sozialem Schutz für verschiedene Kategorien von Beschäftigten
würde die Arbeitsplatzqualität erhöhen und zur Verringerung der
Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Reformen in diesem
Bereich würden ebenso zu Effizienz- und Gerechtigkeitsgewinnen führen.” Beitrag von Orsetta Causa und Maria Chiara Cavalleri vom 7. Juli 2020 bei der Ökonomenstimme.org
- Klasse Virus – Während in Fleischfabriken Hunderte
erkranken, bleiben Privilegierte in Freibädern unter sich: Corona legt
Milieugrenzen brutal offen
“… Wer ins Freibad will, muss sich das Ticket jetzt Tage vorher
kaufen – online. Mit Kreditkarte, oder per Paypal. Das Prinzenbad in
Berlin-Kreuzberg galt immer als Treffpunkt aller Milieus. Jetzt nicht
mehr. Jetzt schwimmen hier an einem Sommertag nur noch: weiße Körper.
Coronafrei. Dabei kam das Virus in Deutschland einmal genau über diese
Einfallstür. Es befiel weiße Akademikerkörper, die im Februar natürlich
nicht schwammen, sondern Ski fuhren, in Ischgl. Jetzt vollzieht Corona
eine Klassenwanderung. Wenn der R-Wert in Deutschland über zwei liegt,
dann löst das nur deshalb keine Panik aus, weil der Infektionsausbruch
stark begrenzt ist. Auf einen Häuserblock in Berlin-Neukölln, zwei
Häuser in Göttingen, die Mitarbeiter von Tönnies. Noch relevanter als
die lokale Begrenzung scheint die soziale. Die Träger des Virus haben
derart wenig Kontakt zu anderen Milieus, dass diese sich kaum vor einer
Ansteckung sorgen müssen. (…) Brutalität an prekären Körpern ist keine
Erfindung der Pandemie. Im Gegenteil: Weil insbesondere das viel
reisende bürgerliche Milieu als erstes von dem Virus betroffen war, ist
die Identifizierung mit Opfern von Covid-19 hoch. Noch. Denn die Sprache
verschiebt sich. Von Familienfeiern zum Ende des Ramadan ist die Rede,
von Wochenendausflügen nach Rumänien. Alles Begriffe, die eines anzeigen
sollen: Es sind die anderen, die sich anstecken, weil sie anders sind.
Weil sie Rumänen sind, halten sie sich nicht an Regeln. Weil sie Muslime
sind, leben sie in Großfamilien eng zusammen. Diese Form der
Kulturalisierung der Ansteckungswege ist für die verantwortliche Politik
gemütlich, denn was, wenn es gar nicht an den Menschen läge? Sondern an
ihren Wohn-, Lebens-, und Arbeitsverhältnissen? Was, wenn Politik es
ändern könnte, dass Fleischarbeiter tausendfach krank werden, dass
Hartz-IV-Beziehende früher sterben? Wenn Politik für Leben und Tod der
Bevölkerung verantwortlich wäre? Was, wenn die Körper von
Tönnies-Arbeitern ebenso betrauerbar werden wie jene von
Ischgl-Skifahrenden? Doch das sind sie nicht. Sie sind die anderen…” Artikel von Elsa Koester vom 26. Juni 2020 bei ‘Der Freitag’ Ausgabe 26/2020
- Ein Virus spaltet die Gesellschaft
“Die Corona-Pandemie trifft arme und benachteiligte Menschen
besonders hart: Sie haben ein höheres Risiko, schwer zu erkranken – und
sie leiden stärker unter den Folgen der Krise. (…) Nun aber wird immer
deutlicher sichtbar, dass die Krise sehr wohl eine soziale Dimension
hat. Besonders eindrucksvoll zeigen das die jüngsten großen Ausbrüche.
Die Tönnies-Fleischfabrik in Gütersloh, die Wohnblöcke in
Berlin-Neukölln: Hotspots entstehen dort, wo Menschen unter schwierigen
Bedingungen wohnen und arbeiten. Wo große Familien in kleinen Wohnungen
leben, wo Schlachthofarbeiter zu nah nebeneinander am Zerlegeband stehen
und in Gruppenunterkünften schlafen. Hinzu kommt die enge, feuchte und
kühle Umgebung im Schlachthof, die das Risiko einer Ansteckung
möglicherweise erhöht. Neu ist all das natürlich nicht. Es ist bekannt,
dass Menschen mit geringem sozio-ökonomischen Status stärker und
häufiger erkranken. (…) Für Deutschland liefern erste Untersuchungen
deutliche Hinweise, dass auch hierzulande die Gesundheit armer Menschen
unter der Pandemie besonders leidet. (…) Um die gesellschaftlichen
Auswirkungen der Pandemie methodisch zu untersuchen, hat sich das
Kompetenznetz Public Health zu Covid-19 gegründet, ein Zusammenschluss
von mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In einer
ersten Stellungnahme schreiben sie, es sei davon auszugehen, dass
sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen häufiger mit dem
Virus in Kontakt kämen, häufiger schwer erkrankten und dass sie
verstärkt unter dem Infektionsschutz litten – etwa durch
Arbeitslosigkeit, Isolation oder fehlende Bildungsmöglichkeiten…” Artikel von Felix Hütten, München, und Henrike Roßbach, Berlin, vom 20. Juni 2020 in der Süddeutschen Zeitung online
- [“Risikofaktor Arbeitslosigkeit”] Wissenschaftliche Analyse: Corona trifft sozial Benachteiligte härter
“Sozial benachteiligte Menschen haben ein deutlich höheres Risiko,
wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Das zeigt eine
Analyse der Uniklinik Düsseldorf und der Krankenkasse AOK, die das
ARD-Mittagsmagazin initiiert hat. (…) Seit einigen Wochen kommen immer
weniger Verdachtsfälle ins Klinikum nach Darmstadt. Und die, die kommen,
sind vielfach andere Patienten als früher, sagt [Oberarzt Cihan] Celik.
Zu Beginn der Pandemie sei die Zusammensetzung der Patienten für eine
Lungenstation sehr untypisch gewesen: Studenten, Geschäftsreisende oder
Urlaubsrückkehrer. Doch das habe sich verändert. Die Patienten kommen
zunehmend aus einkommensschwachen Verhältnissen. Schlechte
Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, wenig Platz zum Wohnen. All das
erhöhe das Infektionsrisiko, sagt Celik. (…) Eine gemeinsame Analyse des
Instituts für Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums
Düsseldorf und der AOK Rheinland/Hamburg belegt nun: Bei sozial
benachteiligten Menschen ist das Risiko, aufgrund von Covid-19 ins
Krankenhaus zu kommen, deutlich erhöht. Demnach liegt das Risiko für
ALG-II-Empfänger im Vergleich zu erwerbstätig Versicherten um 84,1
Prozent höher, für ALG-I-Empfänger um 17,5 Prozent. Für die Analyse
haben die Forschenden die Daten von knapp 1,3 Millionen Versicherten
daraufhin untersucht, ob Menschen in Arbeitslosigkeit (ALG I und ALG II)
häufiger mit einer Corona-Infektion in einem Krankenhaus behandelt
werden mussten als erwerbstätige Versicherte (Untersuchungszeitraum 01.
Januar bis 04. Juni 2020). (…) Forscher Dragano von der Uniklinik
Düsseldorf kritisiert dagegen, das erhöhte Risiko sei bisher nicht
ausreichend beachtet worden. Um sozial benachteiligte Menschen gezielt
vor dem erhöhten Risiko zu schützen, fordert er ein umfassendes Konzept,
das neben dem Gesundheitssystem auch die Sozial- und Bildungspolitik
mit einschließt. (…) Für Celik besteht auch ein eindeutiger Zusammenhang
zwischen Infektionsgefahr und sozialem Status: “Angefangen bei der Art
der Arbeit, die man macht, ob man stärker exponiert ist, ob man etwa
kein Homeoffice machen konnte, sondern weiter an der Supermarktkasse
oder im öffentlichen Nahverkehr arbeiten musste. Das betrifft natürlich
eher niedrig bezahlte Jobs stärker”, sagt der Oberarzt.” Bericht von Stefanie Delfs und Kaveh Kooroshy vom 15. Juni 2020 beim ARD-Mittagsmagazin und die Pressemitteilung des Instituts für Medizinische Soziologie der Uniklinik Düsseldorf zur Studie “Risikofaktor Arbeitslosigkeit”
- Coronakrise: Risikofaktor Ungleichheit / Die Coronakrise
sorgt für eine weiter wachsende Konzentration bei Vermögen und
Einkommen
- Coronakrise: Risikofaktor Ungleichheit
“Hohes Alter, Vorerkrankungen – damit steigt bekanntermaßen
das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Doch weltweit
könnte es noch einen weiteren Gefahrenherd geben. Mehr als 1,8 Millionen
Infizierte in den USA, mehr als eine halbe Million in Brasilien, eine
gute Viertelmillion in Großbritannien: In vielen Teilen der Welt sind
die Covid-19-Fallzahlen in jenen Ländern am höchsten, in denen die Kluft
zwischen Arm und Reich am größten ist. Nach Recherchen des SPIEGEL
zeichnet sich damit immer deutlicher ein weiterer Risikofaktor für die
Ausbreitung der Pandemie ab: soziale Ungleichheit. Ein Team von
SPIEGEL-Dokumentaren hat in den vergangenen Wochen den Zusammenhang
zwischen dem Arm-Reich-Gefälle einzelner Länder und den dortigen
Covid-19-Fallzahlen untersucht – mit zum Teil verblüffenden Ergebnissen.
(…) Überraschend sei der Zusammenhang nicht, sagt der britische
Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson dem SPIEGEL. In seinem Buch
“The Spirit Level” hätten er und seine Kollegin Kate Pickett bereits
vor zehn Jahren festgestellt, dass ungleiche Gesellschaften ungesunde
Gesellschaften seien. Je ungleicher Einkommen und Vermögen verteilt
seien, desto heftiger litten die Menschen in betroffenen Gesellschaften –
quer durch alle Schichten – an Problemen wie Depression,
Drogenabhängigkeit und hohen Suizidraten. Auch seien in den
entsprechenden Ländern sehr viel mehr Menschen übergewichtig und durch
Atemwegserkrankungen geschwächt – Risikofaktoren, die in der jetzigen
Pandemie eine entscheidende Rolle spielen. (…) In der Pandemie hat die
Ungleichheit fatale Folgen: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien
starben in den vergangenen Monaten bei Weitem mehr People of Color an
Covid-19 als Weiße.” Artikel von Jörg Schindler, London, vom 03.06.2020 beim Spiegel online
- Verschärfte soziale Ungleichheit. Die Coronakrise sorgt für eine weiter wachsende Konzentration bei Vermögen und Einkommen
“Corona macht den Unterschied bei Einkommen und Vermögen in
Deutschland. Der Lockdown und die Verunsicherung über die Entwicklung
der Pandemie hinterlassen längst ihre Spuren. (…) Für soziale Unwucht
sorgen weiterhin Immobilien. Eigentümer profitieren, zumindest in den
Städten und in günstigen Lagen auf dem Land, schon seit einiger Zeit von
enormen Wertzuwächsen. So sind die Preise für Wohnimmobilien seit 2010
laut Bundesbank um rund 70 Prozent gestiegen, in Großstädten sogar um
mehr als 100 Prozent. Insgesamt bleibt der Kreis der Wohlhabenden
überschaubar. Nach der Bafin-Umfrage sparen lediglich elf Prozent der
Befragten 500 Euro im Monat oder mehr. Ganz unten auf der Skala finden
sich dagegen 15 Prozent, die gar nicht sparen. Fast alle, weil sie zu
wenig Geld dafür haben. Corona verschärft solche langfristigen Trends
noch, wie eine Studie der Postbank, deren Kunden meist aus der
Mittelschicht kommen, jetzt ergab. (…) Die soziale Unwucht beginnt
bereits beim Einkommen. Mehrere Millionen Menschen sind in Kurzarbeit.
Vor allem Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben müssen mit 60
Prozent (mit Kind: 67 Prozent) des Nettolohns auskommen. Die von der
Bundesregierung beschlossene Erhöhung auf 70/77 Prozent wird erst ab dem
vierten Monat greifen. Zahlreiche Großkonzerne hingegen stocken das
Kurzarbeitergeld ihrer ohnehin überdurchschnittlich bezahlten
Beschäftigten auf 100 Prozent auf. Ganzen mittelständisch
geprägten Berufszweigen wie der Gastronomie, den Volkshochschulen oder
dem Friseurhandwerk brachen im Lockdown komplett die Einnahmen weg.
Millionen Kinder müssen wegen Schließung der Kindertagesstätten und
Schulen von ihren oft berufstätigen Eltern betreut werden, was offenbar
häufig mit herben Einkommensverlusten verbunden ist. Laut der
Postbank-Studie traf die Krise Familien finanziell besonders hart. (…)
Corona vergrößert zugleich die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern.
Schätzungsweise doppelt so viele Frauen haben ihre Arbeitszeit
reduziert, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten. »Da die ökonomischen
Folgen der Krise noch lange spürbar sein werden, wird eine Rückkehr zur
vorherigen Arbeitszeit wahrscheinlich nicht für alle möglich sein«,
befürchtet der DGB. Frauen mit geringerem Einkommen werden davon noch
stärker getroffen als alle anderen…” Artikel von Hermannus Pfeiffer vom 02.06.2020 im ND online
- Covid-19-Arzt im Interview: „Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit“
“… zum anderen kommen bei uns auf der Normalstation sozial komplexe
Umstände dazu. Wohnungslosigkeit zum Beispiel oder andere Situationen,
in denen keine Heimisolation möglich ist. Wir haben einen Lkw-Fahrer
behandelt, der in seinem Führerhaus wohnt. Insgesamt sehen wir nach zwei
Monaten Behandlung von Covid-19-Patienten, dass es eine sehr starke
soziale Komponente bei dieser Krankheit gibt. Gerade Patienten, die zu
Minderheiten gehören und sozial schwach sind, sind bei der Morbidität
und der Mortalität am stärksten betroffen. Sie werden also
verhältnismäßig öfter krank und sterben öfter an der Krankheit. Das
haben Studien in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und
Norwegen gezeigt und das sieht man auch im Mikrokosmos Krankenhaus.
[Woran liegt das?] Viele sozioökonomische Faktoren tragen dazu bei, ob
man diese Krankheit bekommt und wie schwer sie verläuft. Fettleibigkeit
kann zu einem schweren Verlauf führen, das ist vor allem in sozial
schwachen Schichten ein Problem, genau wie ein Mangel an
gesundheitlicher Aufklärung, an gesunder Ernährung, an Sport. Symptome
werden außerdem oft erst später erkannt oder ernst genommen. Ärmere
Menschen sind weniger gut an Ärzte angebunden, Migranten können
teilweise ihre Beschwerden nicht so gut auf Deutsch schildern. Die
Menschen leben auf engerem Raum und arbeiten in Berufen, in denen sie
vielen Kontakten ausgesetzt sind. Armut macht krank, das ist bei vielen
Krankheiten ein Problem…” Interview von Sebastian Eder mit Cihan Çelik vom 17.05.2020 in der FAZ online
- Warum die Coronakrise Ungleichheit verstärkt: Die Krise
trifft Geringverdiener hart, von denen viele ihren Job verlieren. Auch
die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nimmt zu
“… Wie weit die Kluft in der Gesellschaft auseinandergeht, zeichnen
Forscher der Universität Mannheim nach. Sie befragen jede Woche 3500
Menschen dazu, wie sich ihr Leben durch die Pandemie verändert. Ein
erstes Ergebnis: Je niedriger der Schulabschluss, desto seltener können
Angestellte ins Homeoffice wechseln. So haben zuletzt 40 Prozent der
Deutschen mit einem hohen Schulabschluss von Zuhause aus gearbeitet,
während das unter denjenigen mit einem niedrigen Abschluss gerade einmal
sechs Prozent möglich war. Das lege den Schluss nahe, dass die
Coronakrise die soziale Ungleichheit im Land weiter verstärkt, schreiben
die Forscher. Folgen hat das sowohl für die Gesundheit als auch für die
finanzielle Situation der Menschen. „Die Risiken der Pandemie sind
ungleich verteilt“, schreiben die Wissenschaftler. „Untere
Einkommensgruppen haben aufgrund ihrer Arbeit vor Ort vermutlich ein
größeres Risiko sich mit dem Coronavirus anzustecken.“ (…) Der
Sozialwissenschaftler Stefan Sell spricht deshalb von einer „Hierarchie
der Not“. Verstärkt wird diese dadurch, dass gerade in den Branchen, die
besonders unter dem Shutdown leiden, die Löhne sehr niedrig sind: in
der Gastronomie oder im Einzelhandel. (…) Wie groß das Problem ist,
zeigen Zahlen, die das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) für
Schleswig-Holstein erhoben hat. Dort arbeiten 240 000 Menschen in
Betrieben, die vom Shutdown betroffen sind – 80 000 von ihnen sind
Geringverdiener. Dramatisch ist dabei die Lage der Minijobber, also
jener, die nur auf 450-Euro-Basis arbeiten. Denn Unternehmen können sie
gar nicht erst in Kurzarbeit schicken, sodass oft nur die Kündigung
bleibt. „Gerade Geringverdienern droht der Stellenverlust und damit der
Wegfall ihres Einkommens“, sagt IfW-Experte Klaus Schrader. (…) Dabei
gibt es auch bei der Kurzarbeit Unterschiede: Während Industriebetriebe
das Kurzarbeitergeld nämlich meist freiwillig aufstocken, ist das vielen
Dienstleistern nicht möglich. Sie sind schon froh, wenn sie die Jobs
erhalten können, die Mitarbeiter nicht entlassen müssen. Auch das trifft
vor allem Geringverdiener. (…) Verlässliche Zahlen, ob die Coronakrise
die Ungleichheit bei den Vermögen vergrößert, wird es erst in der
Rückschau in ein paar Jahren geben. (…) Miriam Rehm, die an der
Universität Duisburg-Essen zur Ungleichheit forscht, glaubt zudem, dass
der Crash am Aktienmarkt nur wenig Auswirkungen auf das Gesamtbild haben
dürfte. „Entscheidend ist die Höhe der Ungleichheit bei den Vermögen“,
sagt sie. „In Deutschland sind die Vermögen so ungleich verteilt, dass
die Krise die Vermögen der Reichsten extrem stark treffen müsste, um die
Vermögensungleichheit nachhaltig zu reduzieren.“ (…) Gleichzeitig aber
haben sich für viele Menschen die Lebensumstände verändert. Rehm sieht
dabei vor allem die Frauen im Nachteil, die zusätzlich zum Job nun
vielfach auch noch die Kinderbetreuung und das Homeschooling übernehmen.
(…) Ebenso groß sind die Unterschiede bei den Unternehmern. Während die
einen auf Hilfskredite angewiesen sind, machen andere das große
Geschäft. Ein Extrem-Beispiel ist dabei Jeff Bezos, Chef des
Onlineversandhändlers Amazon: Er ist durch die Coronakrise seit
Jahresbeginn um 23,6 Milliarden Dollar reicher geworden. (…)
DIW-Forscher Stefan Bach regt deshalb eine einmalige Vermögensabgabe an.
Dabei würde einmal festgestellt, wer wie viel leisten muss – abbezahlen
könnten die Vermögenden sie dann über einen längeren Zeitraum. „Nach
dem Zweiten Weltkrieg hat man mit einer solchen Vermögensabgabe gute
Erfahrungen gemacht“, sagt Bach. Er schlägt vor, dass diese Abgabe das
reichste Prozent der Deutschen zahlen sollte…” Artikel von Carla Neuhaus vom 10. Mai 2020 beim Tagesspiegel online
- Die Krise rückt die Klassengesellschaft in den Fokus.
Expert*innen und Beamt*innen machen die Ideologie unsichtbar. Aber die
Verantwortung trägt die Politik
“In Not erkennt man seine Freunde, sagt das Sprichwort. Ein
Ausdruck, der davon ausgeht, dass wir erst in der Not wissen, wes
Geistes Kind jemand wirklich ist. In guten Zeiten ist es leicht, Freund
zu sein, aber in schlechten Zeiten trennt sich die Spreu vom Weizen. Das
kann natürlich leicht auf die gesellschaftliche Ebene übertragen
werden: In der Krise wird das System auf die Probe gestellt. Das heißt,
wenn es nicht in Bewegung ist, dann sehen wir am deutlichsten die wahre
Natur der Gesellschaft; welche Werte vor anderen geschützt werden und
wessen Interessen an erste Stelle gesetzt werden. Wir müssen uns jedoch
bewusst sein, dass dies vielleicht vor allem ein systemkritischer,
sozialistischer Blick auf die Gesellschaft ist. Für ein allgemeineres
politisches Bewusstsein ist die Ausnahme einfach nur eine Ausnahme.
Deshalb schreit die Rechte derzeit mit einer Stimme: „Wenn die Krise
vorbei ist, wird alles wieder so weitergehen wie vorher!“ Die meisten
Menschen denken in erster Linie daran, wie schön es wäre, Menschen
wiederzusehen und das Leben wieder aufzunehmen. Politisch bedeutet es
etwas völlig anderes, dass wir alles, was wir jetzt lernen, ebenso
schnell wieder vergessen sollen. Alle Maßnahmen, die notwendig sind, um
auf die Krise zu reagieren, sollen so schnell wie möglich aufgehoben
werden, und alles soll zu der Ordnung zurückkehren, die vorher bestand.
Das sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Dinge, aber überall und
immer werden sie zu einem zusammengebacken. Das nennt man Ideologie. Am
stärksten wirkt die Ideologie, wenn sie überhaupt nicht erwähnt wird, in
angeblich unpolitischer Rhetorik. Wie bei der Veröffentlichung von
Zahlen, die zeigen, wie stark überrepräsentiert im Ausland geborene
Menschen unter den Corona-Infizierten in offiziellen Statistiken sind,
und der Antwort der Gesundheitsbehörde, man könne die betroffenen
Gruppen nicht mit Informationen erreichen. Wie amtlich und unpolitisch
das klingt! Das schafft Platz für wilde Spekulationen über „kulturelle
Besonderheiten“, „geringes Vertrauen in den Staat“, „mangelnde
Fähigkeit, sich Wissen anzueignen“, „Familienstrukturen, die von der
schwedischen Norm abweichen“. Alles klingt so objektiv und
unideologisch, dass wir Stopp rufen und das Band zurückspulen müssen, um
Zeit zu haben darüber nachzudenken, was wirklich gesagt wird…” Leitartikel aus der schwedischen Zeitung “Internationalen” am 16. April 2020, dokumentiert in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020)(Übersetzung aus dem Schwedischen: Björn Mertens)
- [HBS] Drei Monate durchhalten – Pandemie vergrößert Ungleichheiten
“Die Corona-Krise in Deutschland macht sehr deutlich, wie
unterschiedlich Beschäftigte in beruflich und wirtschaftlich schwierigen
Situationen abgesichert sind oder auf unterstützende Regeln vertrauen
können. Das gilt beispielsweise bei der Höhe des Kurzarbeitergeldes oder
der Organisation von mobiler Arbeit und Homeoffice. Durch die Pandemie
können sich bestehende Ungleichheiten am deutschen Arbeitsmarkt
verschärfen – etwa zwischen höher und niedriger bezahlten
Beschäftigtengruppen, aber auch zwischen den Geschlechtern. Generell
sind Beschäftigte mit niedrigeren Einkommen, in Betrieben ohne
Tarifvertrag oder Betriebsrat sowie Frauen derzeit überproportional
belastet. Das zeigen erste Ergebnisse einer neuen Online-Befragung, für
die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 7.677 Erwerbstätige interviewt
wurden. Die von Kantar Deutschland durchgeführte Befragung bildet die
Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht,
Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab. 94 Prozent der Befragten
unterstützen die Forderung nach besserer Bezahlung und besseren
Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in „systemrelevanten“ Berufen wie
Pflege oder Einzelhandel. „Bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind vor
den Auswirkungen der Krise schlechter geschützt als andere. Das kann
langfristig negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt in der
Gesellschaft haben“, warnt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. Die Soziologin
an der Universität Paderborn und designierte Wissenschaftliche
Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI)
der Hans-Böckler-Stiftung hat die neue Befragung ausgewertet. 74
Prozent der Befragten äußern Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in
Deutschland, 70 Prozent sorgen sich um ihre eigene wirtschaftliche
Situation. Diese Sorgen sind in den unteren Einkommensgruppen stärker
ausgeprägt. (…) 14 Prozent der zwischen dem 3. und dem 14. April
Befragten in abhängiger Beschäftigung gaben an, momentan in Kurzarbeit
zu sein. Rechnet man diese Zahl auf die Gesamtzahl der Beschäftigten
hoch, entspräche dies ca. 4 Millionen Beschäftigter, die momentan in
Kurzarbeit sind. Beschäftigte in niedrigeren Einkommensgruppen sind
häufiger in Kurzarbeit als Arbeitnehmer mit höherem Einkommen, zeigt die
Auswertung der Befragungsdaten durch Bettina Kohlrausch. Von den
Befragten in Kurzarbeit erklärt rund ein Drittel (32 Prozent), dass ihr
Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld aufstocke, gut die Hälfte (52 Prozent)
berichtet hingegen, es gebe in ihrem Betrieb keine Aufstockung, der Rest
konnte das (noch) nicht sagen. Personen, die in einem Unternehmen mit
Tarifvertrag arbeiten, erhalten nach der Umfrage mehr als doppelt so
häufig (45 Prozent) eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes wie
Personen, die nicht nach einem Tarifvertrag bezahlt werden (19 Prozent).
Eine aktuelle Übersicht des WSI zeigt, dass die DGB-Gewerkschaften
derzeit in knapp zwei Dutzend Branchen und Großbetrieben
tarifvertraglich Aufstockungszahlungen vereinbart haben…” HBS-Pressemitteilung vom 21.04.2020 , siehe zum Hintergrund auch unser Dossier: Wenn
Arbeitgeber nach mehr Staat rufen: Mit Kurzarbeit wertvolle
Arbeitskräfte in viralen Zeiten hamstern und die Unternehmen auch bei
den Sozialbeiträgen entlasten?
- Das dünne Eis: Die Corona-Krise zeigt, dass die meisten
Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft von der Hand in den Mund
leben
“… So kennen wir die Gewerkschaft: Selbstverständlich geht das mit
der Kurzarbeit in Ordnung – bei der Alternative Entlassung. Wenn die
Unternehmen weniger Geschäfte machen, müssen die Arbeitnehmer halt die
Gürtel enger schnallen. Sie dürfen froh sein, dass ihnen noch nicht
gekündigt wird. Dieser Zusammenhang, diese Abhängigkeit der Existenz der
Gewerkschaftsmitglieder von der Firmenbilanz ist doch klar wie
Kloßbrühe. Wer daran zweifelt, versteht nichts von “Wirtschaft”, da gibt
es keinen Dissens zwischen Unternehmern und Vertretern der
Arbeiterinteressen. Menschen zu bezahlen, die weniger oder sogar keinen
Gewinn erwirtschaften, geht nun einmal nicht. Leistung in der
Marktwirtschaft wird nur dann entlohnt, wenn sie sich lohnt – für den
Arbeitgeber. (…) Die Frage nach einem Einkommen, das dem abhängig
Beschäftigten eine komfortable Existenz sichert, kommt in diesem
Verhältnis nicht vor. Logisch: Ein Arbeitnehmer kann sich weder seinen
Job einteilen noch gut davon leben. Was er zu leisten hat, bestimmt die
Firma. Und wie viel Geld er dafür bekommt, ist Gegenstand ständiger
Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber – ob mit oder ohne Gewerkschaft.
Denn für den Betrieb sind die Personal-Ausgaben Abzug vom Gewinn. Je
geringer sie ausfallen, desto besser sieht die Bilanz aus. Das steht
natürlich unmittelbar im Gegensatz zum Interesse des Arbeitnehmers an
einem auskömmlichen Gehalt. Aber was heißt schon “auskömmlich”? In
normalen Zeiten kämpfen sie schon damit, die alltäglichen und
notwendigen Ausgaben zu finanzieren. Diese Kosten laufen
selbstverständlich weiter auch bei einem Kurzarbeitergeld von nur noch
60 bzw. 67 Prozent des Gehalts. Entsprechend ungemütlich wird die Lage,
von Tag zu Tag mehr. (…) Wie dünn dieses Eis ist, auf dem der normal
abhängig Beschäftigte in Deutschland wandelt, zeigt sich deshalb nicht
erst seit der wegen der Corona-Pandemie verordneten wirtschaftlichen
Auszeit. Monat für Monat müssen die Arbeitnehmer hoffen, ihr Gehalt zu
bekommen – sonst ist ihre ökonomische Lage in kürzester Zeit prekär.
Rücklagen können sie kaum bilden, laufende Kredite und Mieten sowie
natürlich alle anderen notwendigen Ausgaben für die Lebenshaltung müssen
bezahlt werden. (…) Auf die verschärfte Notlage der Arbeitnehmer wegen
“Corona” weist die IG Metall zu Recht hin. Nur was folgt für sie daraus?
Es sollten beim Kurzarbeitergeld schon 80 Prozent des letzten
Nettolohns sein. Wie sie errechnet hat, dass dieser Prozentsatz zum
Leben reicht, bleibt rätselhaft. Die Vermutung liegt nahe: eher gar
nicht. Denn sie begründet die “Forderung” mit der Ungerechtigkeit, dass
die Unternehmen auch die Sozialbeiträge ihrer Beschäftigten erstattet
bekommen. Also nicht: Unsere Mitglieder brauchen mindestens die 80
Prozent, um ihre Kosten bezahlen zu können! Sondern: Die paar Euros mehr
sind nur zu gerecht! Und das ist leider etwas anderes, als das
materielle Interesse von Arbeitnehmern an einer nicht unmittelbar
gefährdeten Existenz gegen die Seite der Arbeitgeber durchzusetzen. So
bleibt es bei dieser folgenlosen Beschwerde und der Wohltätigkeit
einzelner Unternehmen vorbehalten, das Kurzarbeitergeld aufzustocken.
(…) Angesichts der katastrophalen Wirkungen des gesellschaftlichen
“Lockdowns” binnen relativ kurzer Zeit erscheint die Situation davor
seltsam rosig. Doch da sollte man sich nicht täuschen: Die
grundsätzliche Armut der besitzlosen Menschen und ihre damit ständig
prekäre Lage gibt es, seit es Marktwirtschaft gibt. “Corona” macht für
sie alles nur noch viel schlimmer.” Beitrag von Björn Hendrig vom 12. April 2020 bei Telepolis
- Wie durch ein Brennglas – Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse vor und während der COVID-19-Pandemie
“… Die COVID-19-Pandemie führt derzeit die grundlegende
Verletzbarkeit und Unsicherheit allen Lebens vor Augen. (…) Prekäre
Beschäftigung (und mehr noch Arbeitslosigkeit) haben aber nicht nur
große ökonomische Ungleichheitsfolgen, zumal sie in der Regel mit
geringen Einkommen verbunden sind, sondern bringen auch
Anerkennungsdefizite in weiteren Bereichen mit sich. Prekäre
Beschäftigung wirkt sich auch auf das Soziale aus: „Es löchert die
Gesellschaft von innen raus auf“, so eine unserer Befragten.
Prekarisierung betraf darüber hinaus auch schon vor COVID-19 das gesamte
Leben: Soziale Beziehungen, Familie, Freundschaften, Paarbeziehungen,
Liebe können prekär werden, die Sorge für sich und andere, die
Gesundheit, soziale Teilhabe, Wohnraum, Sinn, die Zukunftsperspektiven
und anderes mehr. Doch wie hängen Nahbeziehungen, Sorge und das gesamte
Leben mit Ungleichheiten, Prekarität und Anerkennung zusammen? (…)Unsere
Gesellschaft ist strukturell hetero- und paarnormativ. Das Leben in
einer (heterosexuellen) Paarbeziehung wird gesellschaftlich als das
‚richtige‘ und ‚glückliche Leben‘ vermittelt. Wie unsere Forschung
zeigt, konnten für manche der Befragten Anerkennungsdefizite aus einer
prekären Beschäftigung im Paar teilweise aufgefangen werden und traten
so etwas in den Hintergrund. Oft bergen heterosexuelle Paarbeziehungen
aber große Geschlechterungleichheiten und ungleiche Arbeitsteilungen.
Sorgearbeit wird in der Regel Frauen zugewiesen, ist unsichtbar und wird
kaum anerkannt. Viele der befragten Frauen litten emotional und
körperlich unter der Mehrfachbelastung aus prekärer Beschäftigung, der
nahezu alleinigen Sorgeverantwortung und der Hausarbeit. Im Paar
entstanden Konflikte, und mehrere Frauen waren wegen Depression,
Erschöpfung und Burn-out in Behandlung. Wer nicht in einer Paarbeziehung
lebt, ist zwar von Geschlechterungleichheiten im Paar kaum betroffen.
Allerdings hat ein Leben ohne Partner*in in einer paarnormativen
Gesellschaft oft große Ungleichheitsfolgen, vor allem, wenn Kinder im
Spiel sind. Alleinerziehende etwa haben das höchste Armutsrisiko. In
unserer Studie deuteten es einige der Befragten als ihr Scheitern, dass
sie keine Partnerschaft etablieren und keine Familie gründen konnten.
Andere wiederum fanden zur romantischen Liebesbeziehung ansatzweise
alternative Anerkennungs- und Sinnquellen, etwa in Freundschaften oder
einer Orientierung an Familie und Kindern. Was wir aber nicht fanden,
waren zur Erwerbsarbeit alternative Anerkennungsquellen. Während (die
befragten) Frauen weiterhin die Hauptverantwortung für Sorge und
Haushalt trugen, wurde von Männern – im Paar, in der Erwerbssphäre,
sozialstaatlich – weiter erwartet, dass sie die Rolle des
Familienernährers ausfüllen. Auch wenn Väter sich stärker um ihre Kinder
kümmern wollten, erhielten sie dafür auf den verschiedenen Ebenen nur
sehr begrenzt Anerkennung. Für sie bestehen ähnliche
Vereinbarkeitskonflikte und Hürden wie für Mütter; alleinerziehende
Väter stießen angesichts ihrer Sorgeorientierung etwa bei der an
Vollzeit orientierten Arbeitsvermittlung auf größere Schwierigkeiten.
(…) Wie durch ein Brennglas verschärfen sich also derzeit
Ungleichheiten, die auch schon vor der Pandemie bekannt waren, und neue
entstehen. Wir sollten ihnen mit umfassenden Politiken der
Ent_Prekarisierung begegnen (…). Diese nehmen in der Verletzbarkeit des
Lebens ihren Ausgangspunkt. Sie dezentrieren Erwerbsarbeit und stellen –
so eine alte, doch ungebrochen aktuelle feministische Forderung – Sorge
und den gesamten Lebenszusammenhang ins Zentrum. Wir plädieren für eine
Entprekarisierung von Beschäftigung, eine Orientierung an Guter Arbeit,
für eine 32- oder 35-Wochenstunden-Vollzeitvorstellung und die
Etablierung von kreativen Lebensarbeitszeitenmodellen…” Beitrag von Christine Wimbauer und Mona Motake vom 9. April 2020 beim Genderblog
(Christine Wimbauer und Mona Motake veröffentlichten im April “Prekäre
Arbeit, prekäre Liebe – Über Anerkennung und unsichere
Lebensverhältnisse” beim Campus Verlag (420 Seiten)
- Corona und das Krisenprekariat – Die Corona-Pandemie bringt
es schlagartig an den Tag: die Konkurrenzökonomie erzeugt massenhaft
prekäre Existenzen und soziale Unsicherheit
“… Eine dem Individualisierungszwang verfallene Gesellschaft wird
durch die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden notwendigen
Schutz- und Isolierungsmaßnahmen einem Belastungstest unterzogen, wie er
bisher nicht denkbar war. Mit einem Mal kursiert ein Begriff in der
Öffentlichkeit und wird insbesondere von Politikern auf geradezu
inflationäre Art und Weise vor sich her getragen, der in “normalen”
Zeiten eher als Kampfbegriff der Linken sein Unwesen treibt und deshalb
auf generell wenig öffentliche Gegenliebe stößt: “Solidarität” soll
jetzt geübt werden – mit Nachbarn, insbesondere Alten und Hilflosen, mit
jetzt schlagartig in ihrer Existenz gefährdeten Unternehmern,
Soloselbständigen und überhaupt allen, denen mit dem ökonomischen
Shutdown die Geschäftsgrundlage wegzubrechen droht. Dass es sich bei der
geforderten “Solidarität” nicht um eine mit linken Erwartungen
angereicherte Form der wechselseitigen Unterstützung und Hilfe unter
emanzipatorischen Vorzeichen handelt, wird daran erkennbar, da es
hierbei nicht um die Durchsetzung eines egalitären Gesellschaftsmodells
gehen soll, sondern um den Erhalt der lebensnotwendigen Grundlagen des
bestehenden, die herrschende ökonomische und politische Rang- und
Hackordnung natürlich mit inbegriffen. Die Wirtschaft in erster Linie
soll vor einem die eigene Konkurrenzfähigkeit massiv schädigenden
Niedergang bewahrt werden. Die Gesundheit der Bevölkerung spielt darin
insofern eine Rolle, als einerseits deren Arbeits- und somit ökonomische
Verfügungsfähigkeit erhalten werden soll und andererseits eine
staatliche und grundgesetzlich vorgeschriebene Fürsorgepflicht besteht,
aus deren mehr oder weniger gelingenden Erfüllungskriterien sich
politisches Kapital erster Güte schlagen lässt. Die Staatsbürger
erwarten Führungsstärke, und die Politiker bemühen sich redlich, diesem
Bedürfnis zu entsprechen, denn sie sehen darin eine Chance, ihren
Ermächtigungsauftrag in einen Zugewinn an politischer Macht umzumünzen.
(…) Artikel 14, Absatz 1 des Grundgesetzes lautet: “Das Erbrecht und das
Eigentum werden gewährleistet. …” Diese höchst hoheitliche
Eigentumsgewährung, so kurz und bündig sie auch formuliert ist, hat es
in sich: garantiert wird nicht nur ein bestimmtes Eigentum, sondern
Eigentum schlechthin. Das mag einleuchtend klingen, dennoch stellt sich
hierbei die vielleicht nicht ganz unberechtigte Frage, weshalb der Staat
es für nötig hält, Riesenvermögen und Armutseigentum gleichermaßen
unter Schutz zu stellen. Oder anders gefragt: Weshalb ist dem
Gesetzgeber ein milliardenschweres Vermögen gleich viel wert wie die
Schachtel Zigaretten, die sich ein Hartz 4-Bezieher von seinem schmalen
Überlebensbudget leisten kann? Wenn der Staat, wie in GG Artikel 3,
Absatz 1 ausgeführt, verspricht: “Alle Menschen sind vor dem Gesetz
gleich.” Wieso garantiert der Staat seinen Bürgern dann nicht auch einen
gleichen und konkret bezifferbaren Anteil am gesellschaftlichen
Eigentum? Eine Antwort auf letztere Frage rückt näher, wenn wir uns GG
Artikel 2, Absatz 1 anschauen: “Jeder hat das Recĥt auf die freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.” Hier lässt sich bereits ein aufschlussreicher
Bezug zum Eigentumsartikel herstellen: Es verstößt demnach nicht gegen
das Sittengesetz, dass der Staat Eigentum unabhängig von seiner Größe
und Art unter seinen Schutz stellt und damit so tut, als gäbe es
überhaupt keinen praktischen Unterschied zwischen einem Geldvermögen und
einer Zahnbürste…” Beitrag von Richard Winterstein vom 3. April 2020 bei Telepolis
- Vor Corona sind nicht alle gleich
“Die Ausbreitung des Corona-Virus beeinflusst derzeit unser aller
Leben und unseren Alltag enorm. Dennoch sind wir in der Pandemie-Krise
nicht alle gleich. Ob Geringverdiener*innen, Hartz IV-Bezieher*innen
oder Wohnungslose – diejenigen, die es vorher schon schwer hatten, sind
von den Auswirkungen am massivsten betroffen. Sie führen nun umso mehr
einen Kampf um ihre ohnehin schon prekäre Existenz. Viele von ihnen sind
auf Notversorgungsangebote wie die Tafeln angewiesen, welche derzeit
nach und nach wegfallen. Durch die grassierenden Hamsterkäufe
preiswerter Nahrungsmittel stehen oftmals (wenn überhaupt) nur noch die
teuren Varianten im Supermarktregal, die sich Empfänger*innen von
Sozialleistungen bei einem Bedarfssatz von zurzeit 150€ für Lebensmittel
und Getränke schlicht nicht leisten können. Und die Schließung von
Wohnungslosenunterkünften bringt Menschen ohne festen Wohnsitz in den
immer noch bitterkalten Nächten in große Gefahr. Während für die
Großkonzerne in Eilverfahren milliardenschwere Rettungspakete geschnürt
und inzwischen auch für kleinere und mittelständische Unternehmen
Schutzschirme gespannt werden, bleibt eine Antwort der bürgerlichen
Politik auf die Frage, wie den ärmsten Bevölkerungsgruppen geholfen
werden soll, bisher aus. An unterschiedlichen Stellen regt sich deshalb
Widerstand. re:volt-Redakteurin Mona Lorenz hat darüber mit der
Erwerbsloseninitiative Basta! Berlin gesprochen…” Interview von Mona Lorenz mit der Erwerbsloseninitiative Basta! vom 26. März 2020 im re:volt magazine und darin: “… Die
Einschränkungen treffen alle Lohnarbeitenden und abhängig
Beschäftigten. Besonders betroffen sind momentan all jene, die ihre
Arbeitsplätze wegen der Pandemieverlieren, aber zum Beispiel auch
Menschen mit Behinderungen oder Sexarbeiter*innen, also Menschen, die
sonst öfter mal in Arbeitskämpfen übersehen werden. Dazu kommen
Freiberufler*innen, Künstler*innen, Honorarkräfte und so weiter. All
jene bräuchten unbürokratische Entschädigungszahlungen. Eine andere
Risikogruppe sind Immigrierte aus EU-Staaten, die gerade von Jobcentern
in subalterne und schmutzige Berufsbranchen verwiesen wurden. Diese Jobs
in der Gastronomie, dem Sicherheitsgewerbe, der Tourismusbranche, auf
dem Bau oder in den Schlachtfabriken sind ungesicherter als
vergleichbare Arbeiten und zudem mies bezahlt. Es ist damit zu rechnen,
dass in den nächsten Tagen und Wochen zigtausend Leiharbeiter*innen,
Beschäftigte in der Probezeit oder Angestellte in sogenannten
Subunternehmen ihre Jobs verlieren, Aufträge beziehungsweise gleich auch
Verträge gecancelt werden und viele dann ohne Geld zur Finanzierung
ihrer Lebenshaltungskosten dastehen. (…) Wir sollten strikt gegen eine
komplette Ausgangssperre, beziehungsweise die Verhängung des Notstands
handeln und argumentieren, ebenso wie gegen die Abschottung der Länder
voneinander. Ein Widerstand dagegen ist auch deshalb wichtig, weil es
viele Menschen auf besonders harte Art und Weise trifft – Menschen ohne
Wohnsitz, ohne Meldeadresse und so weiter. Sie sind durch diese
Restriktionen noch stärkeren Gefährdungen ausgesetzt. Das bedeutet
nicht, sich gegen physische Distanzierung und gegenseitige Inschutznahme
zu stellen, im Gegenteil: Es richtet sich gegen die
menschenverachtenden Auswüchse davon, gegen die Vereinzelung und
Isolation. Derzeit wird das Grundrecht auf Asyl ausgesetzt, die
Freizügigkeit innerhalb der EU wird zumindest für einige vakant. Wir
bekommen nichts mehr voneinander mit. Wir bekommen nicht mehr mit, was
mit den Leuten ohne Wohnung, ohne Klo, ohne Krankenversicherungsschutz
passiert. Wir bekommen nicht mehr mit, wenn Abschiebungen laufen und so
weiter. Teilweise verpassen wir auch, was mit uns selbst passiert, falls
wir selbst prekär beschäftigt sind und keine Ahnung haben, wie es
weitergehen soll…”
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=164961
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