“… Unter dem zunächst irritierenden, paradox klingenden Titel »Private Regierung« hat die Sozialphilosophin Elizabeth Anderson, die an der Universität Michigan lehrt und forscht, gerade ein spannendes Buch über Arbeitsbeziehungen vorgelegt. Die Autorin meint damit, dass betriebliche Entscheidungsstrukturen willkürlich und ohne Rechenschaftspflicht von den Kapitaleignern dominiert werden. Wie die Beispiele zeigen, ist das in Amerika noch viel stärker der Fall als in Europa. »Die Entmachtung der Arbeitnehmer ist eine Gefahr für die Demokratie«, warnt Anderson. Die Verhältnisse in vielen US-Unternehmen seien »Tyrannei«, eine »Diktatur«, so lautet ihre plakativ formulierte Kernthese. Die Mitarbeiter hätten kaum Chancen zur Mitsprache und Partizipation. Anders als Politiker, die ihr Handeln immer wieder in Wahlen legitimieren müssen, könnten mächtige ökonomische Akteure von oben herab autoritär ihren Willen durchsetzen und quasi »privat regieren«. Für eine »großartige Idee« hält Anderson deshalb, im Kontrast zum von ihr so genannten »Arbeitskräftemissbrauch« in den USA, das deutsche System der betrieblichen Mitbestimmung. Vehement widerspricht sie der Behauptung, die Existenz von Betriebsräten und die Einflussnahme der Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten mindere den ökonomischen Erfolg von Unternehmen. (…) Ein besonderes Anliegen ist es der Philosophin, den Mythos vom freien Markt ideengeschichtlich aufzulösen. Die Zeiten von Adam Smith seien schon lange vorbei, seine damals wegweisenden Gedanken das »Überbleibsel einer früheren Ära«. (…) Die politische Rhetorik der Neoliberalen kenne nur zwei Alternativen, den freien Markt und die staatliche Kontrolle. »Die Firma« mit ihren undemokratischen Strukturen komme in diesem ideologischen Gebäude dagegen kaum vor – obwohl die Arbeitnehmer in der Fabrikhalle wie im Großraumbüro auf ihre republikanischen Mitwirkungsrechte weitgehend verzichten. Verdeckt bleibe so, dass »die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen«.” Rezension von Thomas Gesterkamp bei neues Deutschland vom 20. April 2019Montag, 29. April 2019
Betriebskultur: In Windeln zur Arbeit
“… Unter dem zunächst irritierenden, paradox klingenden Titel »Private Regierung« hat die Sozialphilosophin Elizabeth Anderson, die an der Universität Michigan lehrt und forscht, gerade ein spannendes Buch über Arbeitsbeziehungen vorgelegt. Die Autorin meint damit, dass betriebliche Entscheidungsstrukturen willkürlich und ohne Rechenschaftspflicht von den Kapitaleignern dominiert werden. Wie die Beispiele zeigen, ist das in Amerika noch viel stärker der Fall als in Europa. »Die Entmachtung der Arbeitnehmer ist eine Gefahr für die Demokratie«, warnt Anderson. Die Verhältnisse in vielen US-Unternehmen seien »Tyrannei«, eine »Diktatur«, so lautet ihre plakativ formulierte Kernthese. Die Mitarbeiter hätten kaum Chancen zur Mitsprache und Partizipation. Anders als Politiker, die ihr Handeln immer wieder in Wahlen legitimieren müssen, könnten mächtige ökonomische Akteure von oben herab autoritär ihren Willen durchsetzen und quasi »privat regieren«. Für eine »großartige Idee« hält Anderson deshalb, im Kontrast zum von ihr so genannten »Arbeitskräftemissbrauch« in den USA, das deutsche System der betrieblichen Mitbestimmung. Vehement widerspricht sie der Behauptung, die Existenz von Betriebsräten und die Einflussnahme der Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten mindere den ökonomischen Erfolg von Unternehmen. (…) Ein besonderes Anliegen ist es der Philosophin, den Mythos vom freien Markt ideengeschichtlich aufzulösen. Die Zeiten von Adam Smith seien schon lange vorbei, seine damals wegweisenden Gedanken das »Überbleibsel einer früheren Ära«. (…) Die politische Rhetorik der Neoliberalen kenne nur zwei Alternativen, den freien Markt und die staatliche Kontrolle. »Die Firma« mit ihren undemokratischen Strukturen komme in diesem ideologischen Gebäude dagegen kaum vor – obwohl die Arbeitnehmer in der Fabrikhalle wie im Großraumbüro auf ihre republikanischen Mitwirkungsrechte weitgehend verzichten. Verdeckt bleibe so, dass »die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen«.” Rezension von Thomas Gesterkamp bei neues Deutschland vom 20. April 2019
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