Dienstag, 2. Oktober 2018

Orcas und Óskar (Frank Schumann)


Sie sei die größte Vulkaninsel auf dem Globus, heißt es. Vielleicht legt der archaische Ursprung unsere Urtriebe frei, zu denen auch der Jagdinstinkt rechnet. Die Ansage des Mannes im Mastkorb lässt die in rotes Wattezeug gehüllten Passagiere an die Backbord-Seite eilen. Das Schiff neigt sich merklich, der Diesel heult auf, die Schraube wühlt das Wasser schaumig. Die Kameras sind schussbereit, die Bildjäger warten auf den Blas, jenen dunstigen Luftstoß, den der Wal beim Auftauchen von sich gibt. Da! Da! Die Auslöser klicken, und schon ist alles vorbei. Das Schiff nimmt Fahrt auf, jagt mit den Fotojägern an Bord dem abgetauchten Koloss nach. Als gebe es zwischen ihm und dem Schiffsführer eine Verabredung: Schon wieder zeigt der Buckelwal seinen Buckel mit der winzigen Rückflosse, dann gleitet er majestätisch und unbeeindruckt wieder hinab. Für Augenblicke sieht man unter der gekräuselten Wasseroberfläche noch den dunklen Schatten des schätzungsweise 15 Meter langen Rumpfes und die hellen Seitenflossen, die Flipper. Das Tier strebt dem offenen Meer zu, hartnäckig verfolgt von einem Kahn, der vor anderthalb Stunden in See stach einzig wegen einer solchen Begegnung. Dafür haben die Touristen schließlich gezahlt, umgerechnet achtzig Euro pro Nase. Wir auch. Wenn man denn schon mal hier ist.

Die oberflächliche Begegnung wiederholt sich mehrere Male. Doch nie hebt der Wal die Schwanzflosse. Die Fluke ist schließlich sein entscheidendes Merkmal. So ein Buckel in grauer See beweist daheim nichts, der könnte auch einem Tümmler gehören, von denen eine Gruppe in einiger Entfernung das Schiff begleitet. Die Fluke macht den erkennbaren Unterschied.

Als habe der Wal das kollektive Flehen der zwei, drei Dutzend Fotojäger an Bord erhört. Zehn Meter neben dem Schiff, so dicht wie nie, zeigt er uns erst den Buckel, dann hebt er für Sekunden die Schwanzflosse aus dem Wasser. Das Konzert der Kameraauslöser hebt an, begleitet vom vielstimmigen Ah und Oh der Zuschauer auf der Back und an der Reling.

Der Schiffsführer dreht bei, mehr geht nicht. Außerdem muss er nach zweieinhalb Stunden Ausfahrt wieder an der Pier in Haugenes festmachen und dreißig Minuten später mit der nächsten Touristenbesatzung hinausjagen. Wale werden nach gedrucktem Fahrplan beobachtet. Wenn man der Werbung glauben darf, liegt die Trefferquote bei diesem Unternehmen bei 99 Prozent.

Nun, wir sind hundertprozentig zufrieden.

»Whale Watching« wird auf Island kommerziell betrieben, seit der Walfang gesellschaftlich und global geächtet ist. Das Unternehmen in Haugenes im Norden der Insel rühmt sich, seit 1993 dieses Gewerbe zu betreiben und damit das älteste der Insel zu sein. Die Walbeobachter haben sich in einem landesweiten Verband zusammengeschlossen (»IceWhale«), der dafür sorgt, dass mittlerweile Jahr um Jahr mehr als 300.000 Menschen aus der ganzen Welt sich in die isländischen Küstengewässer hinausschippern lassen, um Wale in freier Wildbahn zu besichtigen. Auch wenn 23 Walarten rund um die Insel leben, ist es trotzdem erstaunlich, dass die Neugier derart zufriedenstellend bedient werden kann. Der Ozean ist schließlich kein Zoo mit abgesteckten Gehegen.

In dieser Gegend fing man einst einen Orca, der dann in Mexico-City in einem Aquarium landete. Dessen Knastschicksal brachte Hollywood auf die Leinwand. »Free Willy« füllte nicht nur die Kinokassen, sondern mit Tränen auch die Augen der angerührten Zuschauer. Der Killerwal Keiko, das Original, war danach, Ende der 1990er Jahre, nach Island retourniert und auf seine »Auswilderung« vorbereitet worden; rund zwanzig Millionen Dollar wandte die »Free Willy Keiko Foundation« für seine individuelle Betreuung im isländischen Küstengewässer auf, ehe man das inzwischen fast mehr als dreißig Jahre alte Tier im Juli 2002 aus der Obhut seiner zwanzig Betreuer entließ. Nach Monaten tauchte er vor der norwegischen Küste auf: Er war einem Boot nachgeschwommen und ließ sich dann in einem Fjord, wie er es gewohnt war, von Menschen füttern und Kinder auf seinem Rücken reiten. Ende 2003 raffte eine Lungenentzündung den Orca Keiko hin.

Im Hafen entledigen wir uns der wärmenden Schutzanzüge, während die neue Besatzung sich bereits in ihre hineinzwängt. Man sieht darin selbst aus wie ein Wal, unförmig und unbeweglich, doch nützlich ist die Verpackung allemal. Auch im August ist es am Polarkreis an Oberdeck ziemlich frisch.

Von Haugenes fahren wir mit dem Auto zurück nach Akureyri, das am Trichterende des Fjords mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjörður liegt. Links und rechts steigen die schneebedeckten Berge bis tausend Meter hoch, manche tragen eine Wolkenkrone. Auf dem Wasser stampfen einige Kreuzfahrtschiffe, die von dort kommen, wo wir auf dem Land noch hinwollen. Die Universitätsstadt Akureyri zählt keine 20.000 Bewohner und ist damit nächst der Hauptstadt Reykjavik und deren Vororten die größte Stadt auf der Insel. Wir haben Glück oder Pech: Unser vorab im Internet gebuchtes Quartier liegt am nicht sonderlich langen Boulevard, der in den Rathausplatz mündet. Bis weit in die Nacht, die hier taghell ist, wummern die Bässe und steppt der Bär: Ein mehrtägiges Musikfestival lockt vornehmlich junges Publikum vor die mobilen Bühnen. Heavy Metal scheint die bevorzugte Musikrichtung zu sein.

Wir flüchten uns in die Kirche auf dem Berg, ein interessantes Bauwerk aus Beton. Alle Kirchen auf Island sind architektonisch interessant und selten alt. Die meisten, so scheint es, wurden in der Jahrhundertmitte errichtet und sehen oft aus wie gestrandete Schiffe. Diese hier mit den beiden Türmen gleicht einem Katamaran. 20 Uhr soll dort ein Konzert beginnen. Was geboten wird: keine Ahnung. Der Aushang ist auf Isländisch. Wir reihen uns ein, entrichten unseren Obolus. Das Ticket ist das kopierte Programm.

Obgleich erst in einer Dreiviertelstunde die Veranstaltung beginnen soll, ist das Gotteshaus bis auf wenige Bänke im hinteren Teil bereits gefüllt. Während wir warten, können wir das Publikum mustern und es zählen. An die fünfhundert Menschen mögen es wohl sein, junge und alte, schlicht und auch besser gekleidete, gesunde und nicht ganz gesunde, einige führen Sauerstoffflaschen auf Rädern mit sich und andere sitzen im Mittelgang im Rollstuhl. Das Programm umfasst 177 Positionen, die Lieder sind alphabetisch geordnet, bis auf die Nr. 95 (»Love me tender«) und 112 (»O sole mio«) kennen wir keinen Titel. Mit dem Glockenschlag der Turmuhr eilen zwei Herren durchs Schiff nach vorn, Beifall brandet auf, Jubel und Pfiffe, die beiden sind offenkundig bekannt. Der eine nimmt am Keyboard Platz, der andere stellt sich ans Mikrofon. Er sieht aus wie ein Bankangestellter jenseits der 50 mit Neigung zum Übergewicht, und als er dann auch noch die Hornbrille aufsetzt, um die in einem Aktenordner abgelegten Liedertexte zu studieren, ist das Bild perfekt. Er heißt Óskar und scheint ein ziemlich origineller Kopf zu sein, denn sein Entree provoziert Lachsalven und Zwischenapplaus. Zweifellos sind die Isländer ein humorvolles Völkchen und frei vom Zwang zur Einhaltung von Konventionen: Kirchen gelten sonst gemeinhin nicht als Musentempel.

Alsbald wird uns das Prinzip des Vortrags bewusst: Die Leute rufen Liedernummern aus der Liste, Óskar blättert in seinem Aktenordner und hebt an, sobald auch sein Begleiter die Noten gefunden hat und in die Tasten greift. Die Suche braucht mitunter einige Zeit, welche mit einem kurzen Dialog der beiden überbrückt wird, der wiederum Heiterkeit auf den Kirchenbänken auslöst. Óskar hat eine schöne Tenorstimme, die vielleicht für eine ganz große Bühne nicht reicht, aber das hier ist seine große Bühne, er hat eine – im Wortsinne – Fangemeinde. Die Leute lieben ihn auch dafür, wie er mit ihnen umgeht. Die erste Nummer hatte ihm nach freundlicher Aufforderung ein junger Mann in der ersten Reihe genannt. Óskar reckte den Daumen, als der erkennbar von einem Down-Syndrom Gezeichnete unter Mühen eine Zahl hervorbrachte, und die Leute klatschten dafür Anerkennung, die sich keineswegs aus Mitleid speiste.

So bringt denn Óskar unseren Ohren unverständliche, aber wunderbar melodische Stücke zu Gehör, manches Lied scheint ziemlich populär, denn die meisten Zuhörer im Kirchenschiff singen mit, ohne dazu animiert worden zu sein, wie wir es aus hiesigen Mitklatsch- und Schunkelveranstaltungen kennen. Mitunter eilt Óskar auch durch den Mittelgang, um nachzufragen, ob er die zugerufene Nummer richtig verstanden habe. In der Reihe hinter mir erhebt sich ein Mann jenseits der Achtzig. Der Sänger eilt herbei. »Óskar«, sagt der Alte mit brüchiger Stimme und legt auf des Sängers Unterarm vertraulich seine Hand, »O sole mio«. Óskar flitzt nach vorn und schlägt die Seite in seinem Aktenordner auf, nachdem er sein Jackett beiseitegelegt hat. Nun hätte er das neapolitanische Volkslied als jene Schnulze darbieten können, wie wir sie alle kennen. Doch Óskar singt es zwar mit vernehmbarer Ironie, aber ohne es zu verhunzen, er kratzt mit seiner Hornbrille allenfalls am Zuckerguss. Das Publikum rast vor Begeisterung, der Herr hinter mir greift zum Taschentuch. Eine Steigerung scheint kaum mehr möglich.

Doch es gibt sie. Óskar holt aus der vierten oder fünften Reihe eine junge Dame nach vorn, die sich zuvor heftig gemeldet hatte. Er reicht ihr das Mikro. Das sieht alles zufällig aus, gewiss aber ist es arrangiert. Oder doch nicht? Jedenfalls überlässt ihr Óskar die Bühne vorm Altar. Die Frau ist vielleicht Mitte Zwanzig und nicht unbedingt vorteilhaft gewandet, ihre leibliche Fülle wird von den Querstreifen auf ihrem Kleid optisch sehr betont. Aber was für eine Stimme! Die haute uns glatt um, säßen wir nicht auf gepolsterter Kirchenbank. Die Bandbreite umfasst so viele Oktaven wie das Keyboard Tasten hat. Der freudig-scheue Jungmädchenknicks am Ende der Performance verrät – wie auch das väterliche Schulterklopfen nach der Rückkehr an ihren Platz –, dass sie kein Profi sein kann. Wer aber ist sie?

Nach reichlich anderthalb Stunden und mehreren Zugaben packen der Kfz-Ingenieur Óskar Pétursson und sein Begleiter Valmar Väljaots, ein gebürtiger Este, ein. Die große Thermoskanne mit Tee, aus der sich die beiden regelmäßig zwischen den Liedern bedienten, ist leer. Beglückt steigen die Menschen die 120 Stufen hinunter zum Boulevard. Am Nachmittag war die Treppe noch eine Sportstätte: Kinder liefen um die Wette zur Kirche hinauf. Immer zwei traten gegeneinander an. Oben, vorm Kirchenportal, thronte das Wettkampfgericht und feuerte über Lautsprecher die Kontrahenten an. Konventionen, wie schon erwähnt, gelten in Island nicht.

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