Samstag, 15. September 2018

[Chiapas98] Streit um Regen – wie VW in Mexiko den Volkszorn auf sich zieht (Die Welt v. 23.8.2018)

23.08.2018  

In Mexiko protestieren wütende Bauern gegen Volkswagen. Auf ihren Feldern ist die Saat vertrocknet, die Schuld geben sie dem Autobauer: Um Schäden auf den Neuwagen zu verhindern, nutzt er in Puebla Schallkanonen. Nun lenkt VW ein.

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ormalerweise nimmt Frank Stein* die Autobahn von Mexiko-Stadt nach Puebla rund hundert Kilometer südöstlich der Hauptstadt, wenn er von der Arbeit nach Hause fährt. „Aber vergangene Woche bin ich einen Umweg gefahren. Ich wusste, dass die Bauern die Autobahn gesperrt hatten. Aus Protest gegen Volkswagen“, erzählt Stein.Aufgebrachte Landwirte hatten sich sogar vor dem Fabrikgelände postiert und versucht, Arbeitern, die zur Schicht wollten, den Weg zu versperren. Die Volksseele kocht, und derzeit steht Volkswagen in Mexiko mindestens als genauso gewissenloser Geschäftemacher und Umweltfreveler da wie in den USA. Nicht mal der Krisengipfel auf höchster Ebene mit Vertretern der Regierung, der vor wenigen Tagen einberufen wurde, hat den Konflikt dauerhaft befriedet.
Volkswagen hat eigentlich einen guten Ruf in Mexiko, kein Wunder, als einer der wichtigsten industriellen Arbeitgeber. Aber nun hat es sich der Autobauer mit Bauern und Politikern rund um Puebla gründlich verscherzt. Und wenn man wissen will, warum das so ist, muss man übers Wetter reden.

Bauern geben VW Schuld an Dürre

Volkswagen klagt nämlich, dass es in der Region um Puebla zu oft hagelt. Und die Landwirte beschweren sich, dass anhaltende Dürre herrscht, seit der Autobauer etwas gegen den Hagel unternommen hat. Volkswagen setzt dagegen nämlich Schallkanonen ein. Die machen einen Heidenlärm und sorgen dafür, dass die Hagelkörner winzig sind oder gar nicht erst entstehen – und es damit keine Schäden an den teuren Neuwagen gibt.
Seit Mai schießt Volkwagen heiße Luft in den Himmel. Inzwischen herrscht Regenzeit in Zentralmexiko. „Und eigentlich ist das Wetter wie immer. Es regnet. Vielleicht nicht so viel wie sonst“, sagt Stein. Die Bauern rund um Puebla kommen zu einem anderen Ergebnis, wenn sie auf ihre Felder schauen. Dort ist die Saat vertrocknet, in vielen Fällen ist keine Ernte mehr zu erwarten.Schuld sei Volkswagen, sagen Bauernvertreter. Die Schallkanonen hielten nicht nur den Hagel ab, sondern vertrieben den Regen gleich ganz. Das Land leide nun unter massiver Trockenheit, man wolle daher Entschädigung von VW: umgerechnet 3,2 Millionen Euro Kompensation für die erlittenen Ernteausfälle. Volkswagen will aber nicht zahlen. Und eigentlich auch nicht auf seine Schallkanonen verzichten. Denn die bewahren den Hersteller vor Millionenschäden.

Anti-Hagel-Netze sind teuer

„Wir haben hier aufgrund des Klimawandels immer öfter heftige Stürme, auch mit Hagel. Vergangenes Jahr haben zwei dieser Stürme Schäden in Höhe von 20 Millionen Dollar verursacht“, sagt eine VW-Sprecherin in Puebla gegenüber WELT. Das Werk in Mexiko ist das zweitgrößte von Volkswagen außerhalb Deutschlands, im vergangenen Jahr sind dort mehr als 460.000 Autos vom Band gelaufen. Und viele von ihnen sind gleich nach der Fertigung in einen der Hagelstürme geraten und dabei beschädigt worden. Ein solches Auto lässt sich selbstverständlich nicht mehr als Neuwagen verkaufen.
„Schäden durch Hagel an Neuwagen ist tatsächlich ein ernst zu nehmendes Problem für die Autoindustrie“, sagt Autoexperte Stefan Bratzel. „Ein Hagelsturm, der über Tausende von Neuwagen kommt, die oft gleichzeitig auf den Halden stehen, kann immense Schäden anrichten. Die beschädigten Autos müssen für einen Apfel und ein Ei verkauft werden.“
Dagegen gibt es mehrere Möglichkeiten, sich zu schützen. Man kann Versicherungen abschließen. Aber das ist teuer. Man kann Netze spannen. Aber auch das ist teuer. Denn die Areale, auf denen die Neuwagen stehen, sind riesig. Daher gibt es als dritte Möglichkeit die Schallkanone. Das ist die günstigste Variante. Wenn man damit keinen Ärger provoziert.
„Es wäre ein unglaublicher Aufwand, Netze zu spannen. Wir müssten hier 600 Hektar damit abdecken“, sagt die Sprecherin. „Und dass unsere Kanonen den Regen vertreiben, ist falsch. Sie sorgen lediglich dafür, dass die Hagelstücke kleiner ausfallen oder erst gar nicht entstehen. Sie machen aus Hagel Wasser, sonst nichts.“

Experten zweifeln, ob die Luftgeschosse funktionieren

Die Bauern sehen das anders. In den mexikanischen Zeitungen tobt nun eine wissenschaftliche Debatte darüber, ob die VW-Kanonen den Regen vertreiben können. Die meisten Experten glauben das nicht. Zumal VW eine milde Form der Anti-Hagel-Kanonen einsetzt.
Man kann diese Kanonen – laienhaft ausgedrückt – mit allerlei Gasen oder Chemie füttern, um die Luft in den Wolken durcheinanderzuwirbeln und so das Entstehen von Eisklumpen zu verhindern. In machen Fällen werden Silberiodid oder bestimmte Gas-Luft-Gemische in die Wolken geschossen. VW beteuert, einfach nur Lärm zu machen, also Schallkanonen zu verwenden, die eine Druckwelle ausstoßen und die Luft in den Wolken aufmischen. Aus den Eiskristallen würde damit Regen.
Nun kann man Schallkanonen reichlich seltsam finden, aber Obstbauern verwenden sie auch, vor allem in Belgien oder den Niederlanden. Sie wollen damit die Früchte vor Hagelschäden schützen und haben verständlicherweise kein Interesse daran, anschließend eine Dürre auszulösen. Auch in der Autoindustrie wurden die Schallkanonen bereits eingesetzt, zum Beispiel bei Ford im belgischen Werk Genk, das inzwischen geschlossen wurde.
Aber durchgesetzt hat sich die Anti-Hagel-Kanone bei den Autobauern offenbar nicht, wohl auch deshalb, weil nicht alle Experten daran glauben, dass die Luftgeschosse wirklich funktionieren. Unter anderem deshalb setzt die Konzernschwester Seat im Werk Pamplona in Spanien lieber auf Anti-Hagel-Netze.

Hat der Einsatz der Kanonen einen Haken?

Und so ganz rein scheint das Gewissen auch bei VW in Mexiko angesichts der Kanonen nicht zu sein. Nach Aussage der Landwirte habe das Unternehmen eine Entschädigung von umgerechnet 7000 Euro pro Hektar angeboten. Volkswagen de Mexico bestätigt das Angebot nicht. Aber wer den VW-Konzern kennt, weiß, dass er nicht zahlt, wenn er nicht unbedingt muss. Siehe Dieselgate. Vielleicht hat der Einsatz der Kanonen also doch irgendeinen Haken?
Aber die Bauern haben das Angebot von Volkswagen ohnehin abgelehnt. Ein Krisengespräch, zu dem der Wirtschaftsminister angereist war, hatte dennoch zumindest eine erste Deeskalation zur Folge. „Wir haben zugesagt, dass die Schallkanonen nur noch manuell und gezielt eingesetzt werden und nicht mehr automatisch, wenn das Radar Hagelwolken anzeigt“, sagt die Sprecherin. Zudem werde man anfangen, in Netze zu investieren, die den Hagel abhalten sollen. In welchem Umfang, ist unklar. Drittens werde man die Anwohner aufklären, wie die Kanonen funktionieren.
Die Landwirte werden mit dieser Abmachung nicht zufrieden sein. Auf den Schäden durch die Ernteausfälle, die eine Folge der angeblich durch VW ausgelösten Dürre sind, würden sie damit sitzen bleiben. Und auch VW kann mit den Vorwürfen, die weiter im Raum stehen, nicht glücklich sein.

Ansehensverlust wäre für VW fatal

In Nordamerika ist das Image seit der Abgasaffäre schon ziemlich angekratzt. Dass sich der Ansehensverlust nun nach Süden durchfressen könnte, wäre fatal für den Autobauer.
Im Werk Puebla arbeiten rund 16.000 Mitarbeiter und bauen die Modelle Jetta, Golf, Golf Variant, Beetle, Beetle Cabrio und Tiguan. Mexiko ist entscheidend für die Nordamerikastrategie von Volkswagen, die Premiumtochter Audi baut dort einen großen Teil seiner Autos für den US-Markt. Die Wolfsburger können es sich also kaum leisten, nach den US-Amerikanern auch noch die Mexikaner gegen sich aufzubringen.
Die Landwirte fordern nun einen weiteren Krisengipfel mit dem Autobauer, schon in wenigen Tagen soll er stattfinden. Und vielleicht kommen dort auch noch andere Themen als die Schallkanonen auf die Agenda. Laut Gerüchten in Puebla geht es den Bauern nicht nur um Kompensation für fehlendes Regenwasser. „Man hört generell von Streit zwischen VW und den Landwirten um Wasser. Um die Preise dafür und wer wie viel Steuern bezahlen muss“, sagt Frank Stein. Aber Genaueres dringe nicht nach außen. Vielleicht tut es das ja nach dem zweiten Krisengespräch.
*Name geändert
https://www.welt.de/wirtschaft/article181274220/Hagel-Streit-mit-Bauern-VW-zieht-Schallkanonen-in-Mexiko-zurueck.html
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