Donnerstag, 26. Juli 2018

Verfassungsschutzbericht 2017: Der »Extremismus der Mitte« wird komplett ausgeblendet

Blinde Flecken

Von Ulla Jelpke
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Wo demokratische Werte geschleift werden, schaut der Geheimdienst gar nicht erst hin: AfD-Demonstration in Berlin (27. Mai)
Dass geheimdienstliche Aktivitäten eines NATO-Partnerlandes im Verfassungsschutzbericht auf gleicher Ebene mit den Spionageaktivitäten vermeintlicher »Schurkenstaaten« wie Russland, China und Iran abgehandelt werden, dürfte ein Novum sein. Im Kapitel über »Spionage und sonstige nachrichtendienstliche Tätigkeit« wird ausführlich auf den türkischen Nachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT) als einen »mit Exekutivbefugnissen ausgestatteten In- und Auslandsnachrichtendienst« eingegangen, der direkt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan unterstellt ist. »Der MIT unterhält Legalresidenturen in unterschiedlichen offiziellen Repräsentanzen der Türkei in Deutschland. Sie fertigen Stimmungs- und Lagebilder und versuchen, auch über die türkische Gemeinde hinaus Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Kernaufgabe des Dienstes im Ausland ist jedoch die Aufklärung Oppositioneller.« Ausgespäht werden die auch vom Verfassungsschutz observierten linken Organisationen PKK, DHKP-C und MLKP, oberste Priorität habe aber die Aufklärung der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die die türkische Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht.
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Wo die Behörde hinblickt Extremisten: Der Verfassungsschutz beschreibt in seinem am Dienstag veröffentlichten Bericht für das Jahr 2017 einen Zuwachs der Zahl gewaltbereiter »Extremisten« von rechts und von links, unter Ausländern und im islamistischen Milieu. Dort, wo aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft heraus demokratische Werte geschliffen werden, schaut der Geheimdienst allerdings gar nicht erst hin. 24.000 Rechtsextremisten zählt der Verfassungsschutz in Deutschland, das sind 900 mehr als im Vorjahr. 12.700 davon (ein Plus von 600) schätzt er als gewaltbereit ein. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete es als »neue Herausforderung«, dass mehr als die Hälfte der Neonazis nicht in festen Strukturen organisiert sei und sich in kürzester Zeit radikalisiert habe. Besonders dramatisch: die Zunahme bei den sogenannten Reichsbürgern von 10.000 auf 16.500, was Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen jedoch auf verstärkte »Aufklärung« seines Dienstes zurückführt. Den Reichsbürgern wird im Bericht eine hohe »Waffenaffinität« zugeschrieben, wobei nur fünf Prozent von ihnen der rechtsextremen Szene zugerechnet werden.
Die Stärke des »linksextremistischen Personenpotentials« wird mit 29.500 angegeben, das sind 1.500 mehr als ein Jahr davor. Als Gewaltbereite gelten davon 900. Der Bericht zählt 1.648 »linksextreme« Gewalttaten auf und damit 48 mehr als bei Neonazis. Die »Gewalteskalation« wird vor allem auf den G-20-Gipfel zurückgeführt – was bedeutet, dass auch Straftaten von unpolitischen Jugendlichen, verkappten Neonazis oder Polizeiprovokateuren den Linken in die Schuhe geschoben werden. Bei der Gesamtzahl der Straftaten liegen die Neonazis mit 20.000 vorn, gegenüber 6.400 bei »Linksextremen«.
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Der Verfassungsschutz zählt inzwischen 11.200 Salafisten, wobei der Geheimdienst eine Kräfteverschiebung hin zur gewaltorientierten dschihadistischen Szene feststellt. 774 Personen gelten als sogenannte Gefährder. Wenn der Verfassungsschutz verharmlosend von »schwachen Wahlergebnissen rechtsextremistischer Parteien« bei der Bundestagswahl schreibt, zeigt sich darin eine grundlegende Schwäche seines Ansatzes: Er interessiert sich nur dafür, was nach seiner Ansicht am »extremistischen« Rand der Gesellschaft liegt. Dabei bleibt völlig unbeachtet, dass neofaschistische und rechtspopulistische Strömungen schon längst wie Pech und Schwefel zusammenagieren und kaum noch auseinandergehalten werden können. So tragen die AfD-Fraktionen in den Parlamenten die völkische Hetze der Rechtsextremen vor, diffamieren Flüchtlinge pauschal als Kriminelle und verharmlosen Naziverbrechen. Die Leerstelle des Verfassungsschutzes verrät insofern mehr über den Geheimdienst selbst als über tatsächliche und vermeintliche Gegner des Grundgesetzes.
Auf der linken Seite wird dagegen gern mal alles über einen Kamm geschoren: Nicht nur Autonome, DKP, MLPD und Interventionistische Linke, sondern auch mehrere Zusammenschlüsse innerhalb der Linkspartei wie die Antikapitalistische Linke, die Sozialistische Linke und die Kommunistische Plattform werden hier als »extremistisch« gewertet. Der jungen Welt als »bedeutendstem« Printmedium im Linksextremismus wird negativ angerechnet, dass sie sich »nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit« bekenne und für die Errichtung einer »sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft« eintrete. Die im Bericht angegebene Auflage von 156.000 Tagesexemplaren erreichte die jW allerdings seit dem Ende der DDR nur einmal, zur Verteilungsaktion am 1. Mai 2018.
Ganz im Sinne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dürfte schließlich die Behauptung des Verfassungsschutzes sein, die Hayir- bzw. Nein-Kampagne anlässlich des Referendums zur Einführung einer Präsidialdiktatur in der Türkei im Frühjahr letzten Jahres sei »überwiegend von PKK-Anhängern und PKK-nahen Organisationen« getragen worden. In Wahrheit hatte die PKK dazu kaum Aktivitäten entfaltet, wohl aber ein breites Bündnis aus der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Sozialdemokraten, Liberalen und alevitischen Verbänden. Erdogan hatte allerdings versucht, alle seine Kritiker als »Terroristen« zu diffamieren – eine Lesart, die offenbar vom Verfassungsschutz geteilt wird. Die unwissenschaftliche Extremismustheorie des Verfassungsschutzes findet auch auf ausländische Gruppierungen Anwendung. Neben PKK und türkischen Kommunisten werden so auch deren Todfeinde, die faschistischen Grauen Wölfe, aufgezählt. Dies hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht davon ab, vergangene Woche auf dem Brüsseler NATO-Gipfel dem Vorsitzenden des europäischen Dachverbandes der Grauen Wölfe und Abgeordneten der faschistischen Partei MHP, Cemal Cetin, demonstrativ die Hand zu schütteln.

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