Donnerstag, 26. Juli 2018

»Bekämpft die Armut, nicht die Armen«


Die jüngst gestartete Bewegung gegen die Ungleichheit in den USA hat in Martin Luther Kings »Poor People’s Campaign« ein berühmtes Vorbild

Von Jürgen Heiser
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»Es ist ungerecht und unmoralisch, dass in diesem Land Millionen Menschen in Armut leben« (Teilnehmer einer Protestaktion der »Poor People’s Campaign« am 23. Juni in Washington D. C.)
Jürgen Heiser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26./27. Mai 2018 über die US-Kolonie Puerto Rico nach dem verheerenden Sturm vom letzten Jahr: »Kalkulierte Katastrophe«.
In den USA bringt in diesem Jahr eine neugeschaffene »Kampagne der Armen« die Tatsache wachsender Armut in einem der reichsten Länder der Welt ins Bewusstsein. Zehntausende Menschen gingen auf die Straße, für die US-Präsident Donald Trumps Parole »Make America Great Again« Hohn und Drohung zugleich ist. Die Verfasser eines kürzlich von den Vereinten Nationen veröffentlichten Berichts kommen zu dem Schluss, die »Armen zu bestrafen und einzusperren«, sei »die typisch amerikanische Antwort auf Armut im 21. Jahrhundert«. Die heutige »Kampagne der Armen« setzt fort, was die schwarze Bürgerrechtsbewegung 1968 nicht vollenden konnte, weil ihr entschlossener Anführer, der Baptistenpfarrer Martin Luther King jr., einen Tag vor Beginn der Aktionen des zivilen Ungehorsams der historischen »Poor People’s Campaign« ermordet wurde. Als der Bürgerrechtler Martin Luther King am 4. April 1968 in Memphis (Tennessee) auf dem Balkon des »Lorraine«-Motels von einem angeblichen »Einzeltäter«, dem weißen Rassisten James Earl Ray, erschossen wurde, war er als anerkannter Sprecher der aufbegehrenden afroamerikanischen Bevölkerung auch zum scharfen Kritiker der US-Kriegführung gegen Vietnam und der um sich greifenden Armut im eigenen Land geworden. King stellte den Zusammenhang her zwischen den imperialistischen Kriegen nach außen, in denen die USA ihre gesamte Militärmacht gegen offensichtlich schwächere Völker einsetzten, um den Prozess der Dekolonisierung aufzuhalten, und der Armut im Innern, von der in erster Linie sogenannte Minderheiten wie die Stämme der indigenen Ureinwohner, die Afroamerikaner und Latinos betroffen waren. Dieser Erkenntnisgewinn führte zu einer Radikalisierung der politischen Praxis der Bewegung, in der das US-Establishment eine Bedrohung der Sicherheit des Landes sah, gegen die es äußerste Mittel einzusetzen bereit war.
Dies hatte schon El-Hajj Malik El-Shabazz erfahren müssen, besser bekannt als Malcolm X, der am 21. Februar 1965 in New York City erschossen wurde, als er für eine Internationalisierung des Kampfes um die Menschenrechte für die afroamerikanische Bevölkerung eintrat und den Schulterschluss mit Kings Bürgerrechtsbewegung suchte. Malcolm X wollte die USA unter Einbeziehung aller oppositionellen Kräfte wegen Verletzung der Menschenrechte an den Schwarzen vor die Generalversammlung der Vereinten Nationen bringen.
Im Sommer 1964, in der Zeit der Annäherung zwischen Malcolm X und Kings Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), standen die Ghettos von Watts in Los Angeles, von Harlem, Brooklyn und Rochester in New York, von Philadelphia in Pennsylvania und von zahlreichen anderen Städten in Flammen. Medien und Politik hetzten gleichermaßen gegen die beiden Anführer der Schwarzen und machten sie direkt oder indirekt für den »Aufruhr« verantwortlich. »Der soziale Sprengstoff, der sich aus der Arbeitslosigkeit, den schlechten Wohnverhältnissen und dem Bildungsnotstand in den Ghettos entwickelt, braucht nicht erst von irgendwem zur Explosion gebracht zu werden«, erwiderte Malcolm X.¹ »Diese spannungsgeladene Situation, diese verbrecherischen Zustände existieren schon so lange, dass es keinen Zünder braucht; das Ganze entzündet sich von selbst, es flammt spontan von innen her auf.« Den Vorwurf der Presse, »der zornigste Schwarze in Amerika« zu sein, bestritt der Muslim Malcolm X nicht: »Ich glaube an den Zorn. In der Bibel steht, dass auch der Zorn seine Zeit hat.«²

Zeit des Zorns

Auch für den baptistischen Reverend Martin Luther King, den Verfechter der Gewaltfreiheit, der 1964 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, war 1968 längst eine Zeit des Zorns gekommen. Als King Anfang April nach Memphis kam, um am 5. April 1968 die »Kampagne der Armen« auf die Straße zu bringen, waren diesem seit längerem geplanten Schritt Jahre der Enttäuschung über die Wirkung der Bürgerrechtsbewegung vorausgegangen. Den Fortschritten auf der Ebene erkämpfter Gleichheitsrechte widersprach die ununterbrochene Realität eines tief in der Gesellschaft und ihren Institutionen verwurzelten Rassismus.
In dieser Zeit eskalierte die US-Regierung den Krieg in Vietnam. King und seine engsten Getreuen sahen darin – wie im Krieg generell – nicht nur das Leid, das die US-Militärmacht anderen Völkern brachte, sondern auch eine Potenzierung der Armut, weil die horrenden Rüstungs- und Einsatzkosten zu Lasten der Sozialprogramme gingen und die Armut vergrößerten. Zudem mussten schwarze Soldaten, die aus diesem Krieg zurückkehrten, erkennen, dass sie zu Hause nicht die gleichen Rechte genossen wie ihre weißen Kameraden. Und wenn sie für ihr Land starben, wurden sie auf getrennten Friedhöfen bestattet.
Legendär wurde Kings Rede »Beyond Vietnam« (»Jenseits von Vietnam«), die er exakt ein Jahr vor seiner Ermordung, am 4. April 1967, in Black Harlem (New York) gehalten hatte. Darin erklärte er mit allem Nachdruck, dass die Zeit des Schweigens vorbei sein müsse. Der Kampf für Bürgerrechte, in dem die Bewegung stets dem Prinzip der Gewaltlosigkeit gefolgt sei, und der längst überfällige Kampf gegen die Armut müssten unweigerlich auch zum Friedenskampf für ein Ende des Vietnamkriegs führen. Ungerechtigkeit und Armut seien kein nationales, sondern ein internationales Problem. Für J. Edgar Hoover, den Chef der Bundespolizei FBI, der King und sein Umfeld schon lange auf Schritt und Tritt observieren und abhören ließ, war damit eine rote Linie überschritten. Das FBI verstärkte seine geheimdienstlichen Aktionen und streute verstärkt »Informationen« über den Baptistenpfarrer, die ihn als »Kommunistenfreund« und »Ehebrecher« diskreditieren sollten.
Kings Protest gegen den Vietnamkrieg und die bevorstehende Kampagne gegen die Armut sorgten indes auch in den eigenen Reihen für Kritik und Ablehnung. Mitstreiter befürchteten das Ausbleiben von Spendengeldern und Unterstützung liberaler Weißer. US-Präsident Lyndon B. Johnson (1963–1969) erklärte den einst umworbenen Nobelpreisträger zur unerwünschten Person im Weißen Haus. King ließ sich aber nicht vom einmal eingeschlagenen Weg abbringen. Er steuerte weiter das Ziel einer »Kampagne der Armen« an, die Schwarze und andere Unterdrückte der Gesellschaft vereinen sollte. Die schwarze Protestbewegung sollte auf die höhere Stufe einer politischen Bewegung gegen Armut und soziale Ungleichheit gehoben werden. Der kluge Bürgerrechtler wollte damit auch eine praktische Antwort geben auf die Kritik aus den Reihen der von Malcolm X beeinflussten »Black Power«-Bewegung und der 1966 neu gegründeten Black Panther Party for Selfdefense. Den Militanten reichte die Forderung nach Bürgerrechten längst nicht mehr. Ihnen strömte die schwarze Jugend in Scharen zu, weil sie das politische und ökonomische System der Vereinigten Staaten insgesamt in Frage stellten.

Kings Ermordung

Seit November 1967 hatten King und die Sou­thern Christian Leadership Conference (SCLC) die Kampagne gegen die Armut vorbereitet. Sie sollte in einem »Marsch der Armen« auf die Hauptstadt Washington gipfeln und zuvor mittels vielfältiger gewaltfreier »direkter Aktionen« die regionalen Netzwerke mobilisieren. Den Rassismus galt es als Spaltungsinstrument des ökonomischen Systems zu entlarven. Diese Vision umfasste »drastische Aktionen des zivilen Ungehorsams«, die alles in den Schatten stellen sollten, »was in der Geschichte der USA je von sozialen Bewegungen auf die Beine gestellt wurde«, so die Absichtserklärung der SCLC.
Vom 14. Mai bis 24. Juni 1968 wollten die regional mobilisierten Kräfte ihre Aktionen in Washington (D. C.) fortsetzen. Afroamerikaner, Latinos, angehörige der indigenen Stämme und Weiße aus den verschiedenen städtischen und ländlichen Gebieten sollten im Zentrum der politischen Macht zusammenkommen und tagtäglich ihren Widerstand gegen Unrecht und Armut demons­trieren, um den US-Kongress davon zu überzeugen, endlich angemessene Maßnahmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen zu ergreifen, die Leben – und nicht nur Überleben – ermöglichten. Ziel der Kampagne war eine ökonomische »Bill of Rights«, ein Grundrecht auf Freiheit von Armut, für dessen Realisierung die Regierung aufgefordert war, Förderprogramme mit einem Anfangsetat von zwölf Milliarden US-Dollar bereitzustellen. Arbeitssuchenden sollte dadurch eine Beschäftigung garantiert und der Diskriminierung bei Einkommen und Wohnverhältnissen ein Ende gesetzt werden. Das war der Plan, genährt von Hoffnungen einer breiten gesellschaftlichen Bewegung, die mit dem gegen rassistische Diskriminierung gerichteten Gleichheitsgesetz »Civil Rights Act« von 1964 und dem Wahlrecht »Voting Rights Act« von 1965 schon einige Veränderungen erreicht hatte.
Marx to go 1
Als King nach Memphis reiste, um die dort für den 5. April 1968 geplante örtliche Demonstration Tausender Arbeiter der Müllabfuhr zu unterstützen, die in dieser Zeit für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne kämpften, sollte das auch eine Art Generalprobe für den großen »Marsch der Armen« auf Washington sein. Bürgerrechts- und Arbeiterbewegung in einer Front – das rüttelte an den kapitalistischen Grundfesten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Mord an dem 39jährigen King nur einen Tag vor dem Ereignis veränderte alles. In ungezählten Städten der USA trugen empörte Menschen ihren militanten Widerstand auf die Straßen. 39 von ihnen starben, Tausende wurden verletzt und mehr als zehntausend festgenommen. In Memphis führte die Witwe Coretta Scott King den vom 5. auf den 8. April 1968 verlegten Protestmarsch an. Schätzungsweise 40.000 Menschen folgten ihr. Aus dem ersten Fanal gegen die Armut war jedoch ein Trauermarsch geworden.
Auch der »Marsch der Armen« auf Washington (D. C.), von King mit viel größerer politischer Sprengkraft als Höhepunkt der Kampagne geplant, fand am 19. Juni 1968 im bescheideneren Rahmen mit wenigen zehntausend Teilnehmern statt. Fünf Tage später löste die Polizei das Basislager »Resurrection City« (»Auferstehungsstadt«) auf, das auswärtige Aktivisten nahe dem Lincoln Monument errichtet hatten. Es gab mehr als hundert Festnahmen, weil viele sich weigerten, das Camp zu verlassen. Weitere Verhaftungen erfolgten nach Protesten am US-Kapitol, wo Nationalgardisten aufmarschiert waren. Der Mord an King hatte bewirkt, dass die »Kampagne der Armen« hinter den hochgesteckten Zielen zurückblieb. Die angestrebten Gesetze zur Beendigung der Armut blieben aus. Die Erkenntnis, dass die Politik der Bürgerrechtsbewegung sich vom alleinigen Kampf um sogenannte Rassengleichheit zu einer wandeln muss, die zu einem neuen Verständnis des Klassenkampfs führe, blieb auf der Tagesordnung.

Spaltung vertieft

In den 50 Jahren seit Kings Kampagne hat sich die Lage der sozial Benachteiligten verschlimmert. Die Armut der Mehrheit der nichtweißen Bevölkerung wächst. Doch selbst unter Weißen vergrößert sich die Not, deren Linderung sich viele von einem »starken Führer« versprechen. US-Präsident Donald Trump wäre indes der erste Milliardär, der zugleich ein »Freund der Armen« ist. An denen interessieren ihn bloß deren Wählerstimmen, weshalb er sich auf Jubelveranstaltungen als »Retter« inszeniert. Er brüllt es zwar hinaus, aber er will die USA nicht vor »illegalen Migranten« schützen, damit es den Einheimischen besser geht. Er will einen weißen Kapitalismus.
Diese Tatsachen und Erkenntnisse setzte in diesem Frühjahr eine neu organisierte »Poor People’s Campaign« auf die Tagesordnung, die nach zweijähriger Vorbereitung den Kampf aufnahm. Die Botschaft ist angekommen, die Elite hält dagegen. Am 21. Juni 2018 meldete der rechtskonservative US-Sender Fox News, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nimrata Haley, habe einen UN-Bericht als »irreführend und politisch motiviert« zurückgewiesen, weil darin die Trump-Regierung für die Verschärfung der Armut in den USA verantwortlich gemacht werde. Es sei »schlicht und einfach lächerlich, dass die Vereinten Nationen die Armut in Amerika untersuchen«, schrieb Haley an Bernard Sanders aus Vermont und Elizabeth Warren aus Massachusetts, zwei von zwanzig Senatoren der Fraktion der Demokraten im US-Kongress, die in einem Schreiben an Haley die Trump-Regierung wegen des Armutsberichts kritisiert hatten. Es sei »keine Frage, dass die Armut in Amerika ein ernstes Problem bleibt«, ließ Haley die Demokraten wissen, aber es sei »für niemanden gut, ihre Verbreitung und Ursachen ungenau zu beschreiben«.
Vierzig Millionen US-Bürger »leben in Armut«, 18,5 Millionen »in extremer Armut« und 5,3 Millionen »unter Dritte-Welt-Bedingungen in absoluter Armut«, so Philip Alston, Verfasser der zwanzigseitigen Analyse in seiner Eigenschaft als UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte. Am 22. Juni sollte sein Papier dem UN-Menschenrechtsrat während seiner 38. Sitzungsperiode in Genf vorgestellt werden. Doch schon zuvor hatte der Report für Furore in der beleidigten US-Elite gesorgt, so dass Botschafterin Haley drei Tage vor dem Genfer Termin der erstaunten Presse im Weißen Haus mitteilte, die US-Regierung sei aus dem Rat ausgestiegen, weil dieser »Menschenrechtsverletzer« schütze.
Veröffentlicht hatten die Vereinten Nationen Alstons Bericht Anfang Mai. Dafür recherchiert und mit den jeweiligen US-Behörden und Menschenrechtsorganisationen gesprochen hatte der Sonderberichterstatter aufgrund der Entschließung 35/19 des UN-Menschenrechtsrats im vergangenen Dezember in Kalifornien, Alabama, Georgia, West Virginia, Washington (D. C.) und Puerto Rico. Alston betonte im Bericht, sein Besuch vor Ort sei zeitlich »mit einem dramatischen Richtungswechsel in der US-Politik in bezug auf Ungleichheit und extreme Armut« zusammengefallen. Die Vereinigten Staaten hätten sich »als außergewöhnlich in Bereichen erwiesen, die auf schockierende Weise in Widerspruch stehen zu ihrem immensen Reichtum und ihrer Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten«. Die von der Trump-Regierung im vergangenen Jahr verfolgte Politik scheine »bewusst darauf ausgerichtet gewesen zu sein, Maßnahmen, die zuvor noch zum grundlegenden Schutz der Ärmsten gedacht waren, zu streichen, Menschen ohne Erwerbstätigkeit zu bestrafen und sogar die medizinische Grundversorgung zu einem Privileg zu machen, auf das man als Bürger kein Anrecht hat, sondern das man sich verdienen muss.« In den USA herrsche »die höchste Jugendarmutsrate in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die höchste Kindersterblichkeitsrate unter vergleichbaren OECD-Staaten«. Im Vergleich zu Bürgern anderer »reicher Demokratien« lebten US-Amerikaner kürzer und seien kränker. In den USA existiere »die höchste Einkommensungleichheit unter den westlichen Ländern«, während gleichzeitig die Steuersenkungen in Höhe von 1,5 Billionen US-Dollar im Dezember 2017 »nur den Reichen zugute kamen und die Ungleichheit verschlimmerten«. Im Ergebnis gebe es »einen großen Kontrast zwischen privatem Reichtum und öffentlichem Elend«, so Alston.

Fundamentale Rechte

Mit eigenen Analysen, die von »140 Millionen US-Bürgern in prekären Lebensverhältnissen« ausgehen, hatte die »Kampagne der Armen« mit ihrem »Aufruf für eine moralische Erneuerung« dafür mobilisiert, vom 12. Mai 2018 an vierzig Tage lang alle Kräfte zu entfalten, um in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Beendigung der Armut und die Beseitigung ihrer Ursachen, die bereits vor einem halben Jahrhundert von Kings Bürgerrechtsbewegung angestrebt worden waren, heute längst überfällig sind. Dazu hat die neue »Poor People’s Campaign« in den vergangenen zwei Jahren eine »Erklärung der fundamentalen Rechte und moralische Agenda der Armen« erarbeitet.
»Wir haben uns mit Zehntausenden Menschen getroffen und die Stärke ihrer Moral und ihres Mutes in schwierigen Zeiten erlebt«, heißt es in der Selbstverständniserklärung der Kampagne. »Wir haben Zeugnisse von Hunderten in Armut lebenden Menschen zusammengetragen und ihre Forderungen nach einer besseren Gesellschaft aufgezeichnet.« Daraus sei die Grundsatzerklärung entstanden, die aufzeige, »wie die hartnäckigen und allgegenwärtigen Übel eines systemischen Rassismus, der Armut, der ökologische Verwüstung sowie der Kriegswirtschaft und des Militarismus« zu bekämpfen seien. Fünfzig Jahre nachdem King und die damalige »Kampagne der Armen« Schweigen über die Armut zum Verrat erklärt hatten, sei »das Wiederaufleben der Kampagne heute notwendig, um Gerechtigkeit und Gleichheit für alle zu verwirklichen«.
Der Aufbruch zur neuen Kampagne entwickelte sich stärker als erwartet. Begonnen in dreißig US-Bundesstaaten unter dem Slogan »Bekämpft die Armut, nicht die Armen«, stellten im Laufe der sechswöchigen ersten Phase Aktivistinnen und Aktivisten in vierzig von fünfzig US-Bundesstaaten eine Vielzahl von Aktionen auf die Beine, an denen sich Zehntausende beteiligten. Dabei nahm die Polizei mehr als 2.500 Menschen fest, die ihren Forderungen durch Blockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams Nachdruck verliehen hatten. Am 23. Juni strömten schließlich rund 50.000 Aktive der regionalen Gruppen in der Hauptstadt Washington zu einem Massenprotest zusammen. Der Anfang war gemacht: »Wir sind eine mächtige Gruppe armer Menschen, moralischer Anführer, Aktivisten, Organisatoren und Freiheitskämpfer«, so Liz Theoharis, eine der Initiatorinnen der Kampagne. »Vor 40 Tagen haben wir diese Kampagne gestartet, aber unsere Arbeit hat gerade erst begonnen.« Und ihr Mitstreiter William Barber ergänzte: »Sieh dich vor, Amerika. Du kannst mit uns nicht mehr so umgehen, wie du es normalerweise tust. Wir sind schwarz. Wir sind weiß. Wir sind braun. Wir sind rot. Wir sind gelb. Wir sind schwul. Wir sind hetero. Wir sind alt. Wir kommen aus der Stadt. Wir kommen vom Land. Wir sind Juden, Christen, Hindus und Muslime. Wir sind gläubige Menschen und Atheisten. Von Alaska bis Alabama, von Kalifornien bis zu den Carolinas, vom Rostgürtel bis zum Weizengürtel, wir sind die ›Kampagne der Armen‹ und rufen zur Erneuerung der Moral in diesem Land auf. Und wir werden nicht mehr schweigen!«

An vorderster Front

Für die Arbeit der nahen und ferneren Zukunft veröffentlichte die Kampagne in Zusammenarbeit mit dem 1963 von Bürgerrechtlern gegründeten unabhängigen »Institut für politische Studien« (IPS) unter dem Titel »The Souls of Poor Folk« (»Die Seelen der armen Leute«) eine hervorragende Dokumentation der Armut in den USA in der Zeitspanne von 1968 bis 2018.³ Sie lehnt sich an das 1903 erschienene Werk »The Souls of Black Folk« (deutsch 2008: »Die Seele der Schwarzen«) von W. E. B. Du Bois an. Dessen Rückblick auf eine damals »hundertjährige Rezeptionsgeschichte« bezeichnete der US-Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates als »Urtext der afroamerikanischen Erfahrung«. Du Bois wurde gerade mit dieser Arbeit über das Leben der Schwarzen in den US-Südstaaten zu deren bedeutendstem Anführer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die 115 Jahre später erschienene und ebenso achtenswerte Dokumentation »The Souls of Poor Folk« stützt sich über 123 Seiten auf akademische Forschung, vor allem aber auf die persönlichen Zeugnisse von Menschen, die »betroffen sind von schändlicher öffentlicher Politik«, wie es im Vorwort heißt: »Migranten, Muslime, Obdachlose und junge Menschen«. Die Betroffenen rechnen dort mit den Verursachern der Armut ab. Millionen, die ohne Trinkwasser und Müllabfuhr leben müssen, deren Sozialprogramme und Wahlrechte beschnitten werden und die in einem Land leben müssten, »das seine Kriege überall auf der Welt intensiviert«.
»Es ist ungerecht und unmoralisch, dass in diesem Land Millionen Menschen in Armut leben«, hatte Liz Theoharis auf der Kundgebung am 23. Juni vor dem Kapitol in der US-Hauptstadt erklärt. Nur eine Woche später schon bewies die »Poor People’s Campaign«, dass sie sich nicht an der Spaltungspolitik der Trump-Regierung beteiligt, die mit ihrer fremdenfeindlichen Propaganda einheimische Arme gegen geflüchtete Arme aus anderen Ländern auszuspielen versucht. Als am 30. Juni Hunderttausende auf mehr als 700 Kundgebungen im Land und in der Hauptstadt unter dem Motto »Familien gehören zusammen« auf die Straße gingen und ein Ende der Internierung von minderjährigen Migranten und die Achtung der Menschenrechte aller Geflüchteten forderten, waren es die Aktiven der »Kampagne der Armen«, die in vorderster Front internationale Solidarität zeigten.
Anmerkungen
1 Alex Haley (Hg.): Malcolm X. Die Autobiographie, Bremen 2004, S. 396 f.
2 Ebenda, S. 397
3 Download der Dokumentation: https://ips-dc.org/souls-of-poor-folks

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