Montag, 4. Januar 2016

Von Armut »distanziert«

 

Jahresrückblick. Heute: Mehr Obdachlose und »Abgehängte«. Bundesregierung negiert ­soziale Verwerfungen und zündelt mit Faulheitsdebatten

Von Susan Bonath
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Die Tafeln verzeichnen von Jahr zu Jahr mehr Andrang. Für die Bundesregierung kein Grund anzunehmen, dass die Zahl der Armen in Deutschland wächst
Noch drei Jahre durchhalten!« Julian K. aus einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt hofft, dass er es schafft. So lange dauert seine Ausbildung zum Mechatroniker noch. »Ich würde gerne ausziehen von zu Hause«, sagt der 20jährige. Doch das Jobcenter erlaubt das nicht. Von seiner Vergütung, 508 Euro, muss er seine Mutter und die kleine Schwester unterstützen. Sie leben von Hartz IV, sein Einkommen wird voll angerechnet. »Bei 120 Euro Fahrkosten sind wir jeden Monat pleite«, erklärt er. Seine Jacke trage er schon den vierten Winter. Dieses Jahr war seine Schwester dran. »Sie wächst so schnell.«
Julian K. spricht nicht gerne über seine Situation. Nicht auf dem Dorffußballplatz, wo er in der Pause seine Stullen auspackt, während andere sich für drei, vier Euro am Stand verpflegen. Nicht in seiner kleinen Firma. »Augen zu und durch, ich bin ja froh, dass mich das Jobcenter nicht mehr sanktionieren kann«, spornt er sich selber an. So ging es ihm im Februar. Da hatte er seine erste Ausbildung abgebrochen. Drei Monate setzte ihn das Amt zur Strafe auf null. »Da bin ich abgehauen von zu Hause, zu einem Kumpel, bis meine Mutter mir per SMS gedroht hat, mich von der Polizei suchen zu lassen.« Letztlich fütterte sie ihn irgendwie durch. »Ich kenne einen, dem ging es ähnlich, und der ist nicht zurückgegangen, der soll heute irgendwo in Berlin auf der Straße leben.«
Jugendliche ohne Obdach, ohne Ausbildung, ohne Hilfe, die in Parks und an Großstadtbahnhöfen betteln: Dass mindestens 50.000 unter 27jährige, darunter etwa 21.000 Minderjährige, in Deutschland davon betroffen sind, schätzte im Juni das Deutsche Jugendinstitut in einer Studie. Der Berliner Verein »KARUNA« kümmert sich um Betroffene. Ende September veranstaltete er in Berlin die zweite Konferenz der Straßen- und Flüchtlingskinder. Fazit: Nach Erfahrungen mit Gewalt, Drogen und Alkohol waren die meisten an bürokratischen Hürden, mangelnder Unterstützung, fehlendem Verständnis, nicht leistbaren Anforderungen gescheitert. Und immer wieder kam zur Sprache: Jobcenter strafen, statt zu helfen.
Sozialverbände warnten auch 2015 vor weiterem Anstieg der Armut in Deutschland. Initiativen gehen davon aus, dass die Zahl der Obdachlosen innerhalb der nächsten zwei Jahre von derzeit 300.000 auf 500.000 ansteigen wird, darunter viele Flüchtlinge. Suppenküchen und Tafeln klagen über den stetig wachsenden Andrang, den die meist ehrenamtlich dort Arbeitenden kaum noch bewältigen können. Neben Asylsuchenden sind es vor allem Kinder, Alleinerziehende, Alte, die zunehmend verarmen. 2015 lebten in Deutschland etwa 1,7 Millionen Minderjährige – 15,5 Prozent – im Hartz-IV-Bezug, die Hälfte von ihnen lebte mit nur einem Elternteil zusammen. Eine Million Rentner beziehen Grundsicherungsleistungen. Das kritisierte im Februar der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht. Von insgesamt 12,5 Millionen »Abgehängten« in der Bundesrepublik ist darin die Rede.

Realitätsverweigerer

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Nachdem »der Paritätische« das Papier vorgestellt hatte, folgte umgehend Schelte von Journalisten und verschiedenen Experten. »Reiner Unfug« seien die Berechnungen, meinte zum Beispiel Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund im Interview mit dem Deutschlandradio. Denn jenen, die von weniger als 60 Prozent des Durchschnittsverdienstes leben und damit als arm gelten, gehe es heute »besser als noch vor zehn, zwanzig Jahren«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) nannte die Armutsbemessungsgrenze einen »statistischen Trick«. Und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) persönlich klärte in Zeit online über »falsche Vermutungen über arm und reich« auf: Die Zahlen zeigten zwar die Spreizung der Einkommen, »aber nicht die absolute Armut«. Nach dieser Logik ist arm nur, wer den Müll nach Essbarem durchsucht. Die Linke sprach von »Realitätsverweigerung«.
So schönte denn auch die Bundesregierung den Entwurf ihres eigenen neuen Armutsberichts. Sätze wie »Die Privatvermögen sind sehr ungleich verteilt«, oder die Feststellung, dass höhere Einkommen zwar gestiegen, die Einkünfte im Niedriglohnsektor aber weiter gesunken seien, strich sie aus dem Papier. Am 28. November erklärte dazu ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gegenüber Welt online, dies sei »ein ganz normaler Vorgang«. Bundeskanzlerin Angela Merkel »distanzierte« sich von der alten Fassung.

Weiter strafen

Mehr als sechs Millionen Menschen sind auf Hartz IV angewiesen, viele von ihnen, obwohl sie erwerbstätig sind. Daneben ist in Studien von fünf Millionen »verdeckt Armen« die Rede, die ihren Anspruch auf Leistungen nicht geltend machten – weil sie nicht wissen, was ihnen zustünde, weil sie sich schämen oder weil sie sich nicht der damit verbundenen ständigen Kontrolle durch die zuständige Behörde aussetzen wollen. Einem Jahresbericht der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge, über den Ende November das Handelsblatt berichtete, arbeiten weitere 4,6 Millionen Menschen für Niedriglöhne. Ihr Einkommen liegt meist nur knapp über dem gesetzlichen Existenzminimum. Trotz all dieser Zahlen geht es in der politischen Debatte vor allem darum, den Armen die Schuld an ihrer Situation zuzuweisen.
So hatte Ministerin Nahles Anfang 2015 eine Lockerung der strengen Hartz-IV-Sanktionen befürwortet. Mit der seit 2013 diskutierten Reform sollten Leistungskürzungen pauschaliert und die Miete davon ausgenommen werden. Inzwischen ist die SPD-Frau eingeknickt. Die CSU sei schuld, beteuerte sie. Tatsächlich nannte CSU-Chef Horst Seehofer Sanktionen das »tragende Element«, um Erwerbslose zum Arbeiten zu »motivieren«. Zum Argument der Linke-Vorsitzenden Katja Kipping Anfang Oktober im Bundestag, die »grausamen Strafen« produzierten »Hunger, Obdachlosigkeit, Verwahrlosung«, erklärte sein Parteikollege Matthäus Strebl, Die Linke reite hier wieder einmal auf ihrem »Dauerthema« herum. Dass selbst die Sozialgerichte Gotha und Dresden Zweifel angemeldet hatten und das Bundesverfassungsgericht die Sanktions­praxis nun prüfen soll, ist für Politiker wie ihn kein Grund, etwas an der Gesetzgebung zu ändern. Tino Sorge (CDU) ergänzte, »zu Recht« hänge das Damoklesschwert des Geldentzugs über Erwerbslosen. Für Jutta Eckenbach (CDU) sind Sanktionen wegen wegen nicht geschriebener Bewerbungen oder abgelehnter Jobs »keine Strafe, sondern Rechtsfolge«. Ein solches »Anreizsystem« fördere die »Willensbildung«.
Julian K. findet solche Debatten demütigend . Seit sieben Jahren erlebt er, was Hartz IV bedeutet. Obwohl seine Mutter stundenweise als Kassiererin arbeite, werde sie immer wieder zum Amt beordert. Auch ihn lädt das Jobcenter, seit er 15 ist, alle paar Monate vor, »mitsamt Sanktionsdrohung«. Mit seinen früheren Schulfreunden kann er nicht mithalten, er hat die meisten Kontakte abgebrochen. Denn für alles fehlt das Geld, ob Führerschein oder Geburtstagsfeiern.

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