Sonntag, 31. Januar 2016

Kommunismus gefällt mir


Antworten Wladimir Putins auf Fragen zu Lenin, der Sowjetunion und ihren Zerfall

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Wladimir und Wladimir, Hoffnungsträger gestern und heute: Putin, hier von seiner Partei vor den Präsidentschaftswahlen 2012 auf Fahne gebannt, vor dem Lenin-Monument in Moskau

Reaktion: Sjuganow kontra Putin

Am 25. Januar nahm der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Gennadi Sjuganow, auf einer Tagung des Sekretariats des Zentralkomitees seiner Partei der KPRF zu den öffentlichen Reaktionen auf die Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 21. Januar (siehe jW vom 23./24. Januar) auf der Sitzung des Rates für Wissenschaft und Bildung Stellung. Auf der Internetseite der KPRF hieß es unter der Schlagzeile »Lenin hat ein zerfallendes Imperium übernommen und einen großen Bundesstaat hinterlassen« dazu:
Sjuganow erwähnte in seiner Stellungnahme zu der Erklärung des Präsidenten, dass er danach viele Anrufe erhalten habe. Er erklärte: »Auf unserer Webseite gibt es ungefähr 40 Kommentare zu diesem Thema, darunter auch ziemlich harsche. Ich habe mich öffentlich zunächst gegenüber Journalisten am Lenin-Mausoleum geäußert, und dann in einem Radiointerview«.
»Ich habe in meinen Statements darauf hingewiesen, dass Lenin das bereits zerfallende Russländische Imperium geerbt hatte, und dass er unser Land als den mächtigen föderativen Staat UdSSR hinterlassen hat. Lenin übernahm ein Land, dessen Industrie stillstand, und hinterließ es mit dem Elektrifizierungsplan GOELRO und der NÖP. Er startete mit einer auseinandergelaufenen Armee, die schon unter der Führung der Generale des Zaren von der Front desertierte. Lenin gelang es, in kürzester Zeit eine fünf Millionen Mann starke Rote Armee aufzustellen, die die Entente spaltete«, so der Chef der KPRF.
»80 Prozent der Offiziere des Zaren erklärten ihren Wunsch, in der Roten Armee zu dienen. Als der berühmte zaristische General (Alexej) Brussilow gefragt wurde, warum er eingewilligt habe, der Roten Armee zu helfen, sagte er als Antwort, Lenin habe Russland bewahrt. Wladimir Iljitsch Lenin hat tatsächlich Russland geeint. Und Stalin hat die Leninsche Modernisierung fortgesetzt und die Aufgabe der Schaffung eines Großen Staates gelöst. Die von Lenin und Stalin ins Werk gesetzten Veränderungen zusammengenommen haben innerhalb von 20 Jahren das Potential des Landes auf das Siebzigfache gesteigert«, unterstrich Sjuganow.
»Die heutigen Machthaber dagegen haben ein Land bekommen, das nach allen wichtigsten Indikatoren zu den ersten drei oder fünf Ländern der Welt zählte, und sie haben es an den Bettelstab gebracht, abhängig von Infusionen aus dem Ölexport. Sie haben in 25 Jahren nicht geschafft, das Land von diesem Tropf zu befreien«, fasste der Vorsitzende der Kommunisten Russlands bitter zusammen.
Bei einer Tagung der »Gesamt­russländischen Volksfront« im südrussischen Stawropol wurde der russische Präsident Wladimir Putin am Montag nach seinem Verhältnis zum Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin, zu einer möglichen Umbettung von dessen Leiche aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau und zum Sozialismus befragt. Anlass war eine Äußerung Putins auf einer Sitzung des russischen Rates für Wissenschaft und Bildung vom Donnerstag vergangener Woche, Lenin habe eine »Atombombe« unter Russland gelegt (siehe jW vom 23./24. Januar, Seite 8). Die Formulierung erregte in der russischen Öffentlichkeit Aufsehen, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) kritisierte sie scharf. In Stawropol erklärte Putin: Was die Umbettung und vergleichbare Fragen angeht, muss man sehr behutsam herangehen, um nichts zu unternehmen, was unsere Gesellschaft spalten könnte. Im Gegenteil, es geht darum, sie zusammenzuschweißen. Das ist das Wichtigste.
(...) Sie wissen, dass ich, ebenso wie über 20 Millionen andere sowjetische Bürger, Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) war, und zwar nicht nur ein einfaches Mitglied. Ich habe fast 20 Jahre in einer Organisation gearbeitet, die sich Komitee für Staatssicherheit der UdSSR (KGB) nannte. Und diese Organisation war die Nachfolgerin der Tscheka, die man die bewaffnete Formation der Partei nannte. Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen aus der KPdSU ausgetreten ist, wurde er sofort auch aus dem KGB entlassen. Ich war keines dieser Parteimitglieder aus Notwendigkeit; ich kann auch nicht sagen, dass ich ganz besonders von der Idee des Kommunismus eingenommen war, aber ich habe mich zu dieser Idee mit großem Respekt verhalten. (...)
Die Ideen des Sozialismus und Kommunismus haben mir immer sehr gefallen und tun es immer noch. Wenn wir das »Gesetzbuch des Erbauers des Kommunismus« betrachten, das in der Sowjetunion weit verbreitet war, dann erinnert es sehr an die Bibel. Das ist kein Witz von mir, es ist tatsächlich eine Zusammenfassung aus der Bibel. Die Ideen sind gut: Gleichheit, Brüderlichkeit, Glück. Aber die praktische Verwirklichung dieser wunderbaren Ideen in unserem Land war sehr weit entfernt von dem, was die utopischen Sozialisten (Henri de) Saint-Simon und (Robert) Owen dargelegt hatten. Unser Land war der Sonnenstadt nicht sehr ähnlich.
Alle warfen dem Zarenregime dessen Repressionen vor. Aber womit begann die Sowjetmacht ihre Existenz? Mit Massenrepressionen. Ich will mich jetzt gar nicht über deren Maßstab äußern, aber ich gebe Ihnen ein schlagendes Beispiel: die Vernichtung und Erschießung der Zarenfamilie einschließlich ihrer Kinder. Natürlich konnte man noch vom Standpunkt der sozialistischen Idee argumentieren, dass man, sozusagen, mögliche Thronanwärter präventiv habe beseitigen müssen. Aber warum ist dann der Leibarzt, Dr. (Jewgeni) Botkin, erschossen worden? Warum das Gesinde, Leute proletarischer Herkunft immerhin. Zu welchem Zweck? Um das Verbrechen zu vertuschen.
Wir haben früher über dieses Thema nie nachgedacht. O. k., wir haben gegen Leute gekämpft, die mit der Waffe in der Hand gegen die Sowjetmacht gekämpft haben. Aber warum haben wir dann die Geistlichen vernichtet? Allein im Jahre 1918 wurden 3.000 Geistliche erschossen, 10.000 im Verlauf von zehn Jahren. Am Don haben sie sie zu Hunderten unter die Eisschollen gestoßen. Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, wenn man neue Informationen darüber bekommt, dann bewertet man auch viele Dinge anders.
EVG - Walter Kaufmann
Es gibt eine Stelle in einem Brief von Lenin, ich glaube an (Wjatscheslaw) Molotow. Das genaue Zitat weiß ich nicht mehr, aber es ging darum, dass es umso besser sei, je mehr reaktionäre Vertreter von Bourgeoisie und Geistlichkeit wir erschießen. Wissen Sie, so eine Herangehensweise verbindet sich nicht besonders eng mit unseren früheren Vorstellungen über das Wesen der Sowjetmacht.
Bekannt ist auch die Rolle der bolschewistischen Partei bei der Zersetzung der russischen Front im Ersten Weltkrieg. Und was haben wir davon gehabt? Wir haben gegen ein Land verloren, das ein paar Monate später selbst kapituliert hat. Und wir waren die Unterlegenen der Verlierer - eine in der Geschichte einmalige Situation. Und wofür das alles? Um des Kampfes um die Macht willen. Wie müssen wir heute die damalige Situation bewerten, die zu unendlichen Verlusten für das Land geführt hat?
(…) Die Planwirtschaft hat ihre Vorteile: Sie erlaubt es, alle volkswirtschaftlichen Ressourcen auf die Lösung der wichtigsten Aufgaben zu konzentrieren. So wurde zum Beispiel die Frage der Gesundheitsvorsorge gelöst, und das ist ein unzweifelhaftes Verdienst der Kommunistischen Partei jener Zeit. So wurde das Bildungsproblem gelöst - auch ein unzweifelhaftes Verdienst der Kommunistischen Partei. So wurden die Probleme der Industrialisierung gelöst, was die Rüstungswirtschaft betrifft. Hätte es diese Konzentration aller staatlichen und volkswirtschaftlichen Ressourcen nicht gegeben, hätte sich die Sowjetunion nach meiner Auffassung nicht auf den Krieg gegen Nazideutschland vorbereiten können. Die Niederlage der Sowjetunion wäre höchst wahrscheinlich gewesen mit allen katastrophalen Folgen, die das für unsere Staatlichkeit gehabt hätte, für das russische Volk und die anderen Völker der Sowjetunion. All das sind unzweifelhafte Verdienste der Sowjetunion. Aber schließlich hat fehlende Sensibilität des Sowjetsystems für Veränderungen, für technologische Revolutionen und neue technologische Möglichkeiten dazu geführt, dass die Wirtschaft zusammenbrach.
Jetzt komme ich zum wichtigsten Grund, warum ich gesagt habe, dass man auf das Denken des damaligen Führers des sowjetischen Staates, das Denken von Wladimir Iljitsch Lenin, heute anders schauen muss: Wovon war die Rede, was habe ich gesagt? Dass damals eine Sprengladung unter das Gebäude unserer Staatlichkeit gelegt wurde. Was habe ich damit gemeint? Ich meine konkret die Diskussion zwischen (Josef) Stalin und Lenin darüber, wie man den neuen Staat, die Sowjetunion, aufbauen solle.
Wenn Sie Historiker sind, müssen Sie wissen, dass Stalin damals für die Idee einer weitreichenden Autonomie der Bestandteile der künftigen Sowjetunion eintrat. Auf dieser Grundlage sollten alle übrigen Subjekte des künftigen Staates Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) auf Grundlage weitgehender Autonomierechte beitreten, ausgestattet mit weitgehenden Vollmachten. Lenin hat diese Konzeption Stalins als unzeitgemäß und falsch kritisiert. Er ging noch weiter und argumentierte für die Idee, dass die künftigen Subjekte dieses Staates – es waren damals nur vier: Russland, die Ukraine, Belarus und übrigens der Süden Russlands, die Transkaukasische Föderation oder wie sie damals hieß – Sie werden das besser wissen als ich – (unvollständiger Satz – jW)
(…) die Idee war die einer völligen Gleichberechtigung einschließlich des Rechts auf Austritt aus der Sowjetunion. Das war genau dieser Sprengsatz mit Zeitzünder unter dem Gebäude unserer Staatlichkeit. Nicht nur, dass die Ethnien des großen, multinationalen Staates auf die Grenzgebiete festgelegt wurden, irgendwelche Territorien, deren Grenzen vollkommen willkürlich festgelegt wurden, und nicht immer mit guten Begründungen. Warum ist zum Beispiel der Donbass der Ukraine zugeschlagen worden? Um dort den Anteil des Proletariats an der Bevölkerung zu erhöhen und mehr soziale Unterstützung zu finden. Verstehen Sie, was das für ein Gewäsch ist? Und das ist nicht das einzige derartige Beispiel.
Eine Kulturautonomie ist das eine, gut und schön. Eine Autonomie mit weitgehenden staatlichen Vollmachten ist etwas zweites, und das Recht zum Austritt aus dem Staat noch etwas anderes. Schlussendlich hat neben der ineffizienten Volkswirtschaft und Sozialpolitik auch dies zum Zerfall des Staates geführt. Das war die Zeitbombe, die Lenin gelegt hat.
(...) So müssen wir unter Berücksichtigung der heutigen Möglichkeiten alles, was früher gewesen ist, sehr aufmerksam analysieren. Man darf weder mit einheitlicher schwarzer Farbe alles überschmieren, was es früher gegeben hat, noch in den höchsten Tönen von dem reden, was heute geschieht. Wir müssen das alles sehr sorgfältig und ausgewogen analysieren, um die Fehler der Vergangenheit in der Zukunft nicht zu wiederholen, und um unseren Staat und unsere soziale Sphäre so zu gestalten, dass der Staat davon nur immer stärker wird.
Übersetzung aus dem Russischen: Reinhard Lauterbach

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