Donnerstag, 28. Januar 2016

Sorgen um Europas Seele

 

Wer die Polarisierung in der Gesellschaft überwinden will, muss der Polarisierung zwischen Arm und Reich entgegenwirken. Anmerkungen zur »Kölner Botschaft«

Von Klaus Jünschke
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Nach dem Polizeiversagen in der Silvesternacht: Einsatzkräfte vor dem Hauptbahnhof in Köln zeigen Präsenz (6. Januar 2016)

Nicht als ­Dschihadist zum Karneval

Im Vorfeld des Karnevals hat die Kölner Polizei Sicherheitsmaßnahmen angekündigt, die sich auch gegen mutmaßliche Täter aus der Silvesternacht richten. »Wir werden präventivpolizeiliche Maßnahmen in Form von Bereichsbetretungsverboten und Gefährderansprachen aussprechen«, sagte der Leitende Polizeidirektor Michael Temme am Mittwoch dem Portal Focus online. Die davon Betroffenen dürften entweder die Karnevalsveranstaltungen nicht besuchen, oder ihnen werde mitgeteilt, dass die Polizei sie als potentielle Gefährder im Auge habe. Die polizeilichen Maßnahmen gelten demnach Menschen, die im vergangenen Jahr durch Gewalt-, Eigentums- oder Sexualdelikte aufgefallen sind. »Unter ihnen sind auch mehrere Personen aus der Kölner Silvesternacht«, sagte der Leiter der Direktion Gefahrenabwehr/Einsatz im Kölner Polizeipräsidium. Temme kündigte zugleich den Einsatz von deutlich mehr Polizeikräften, eine verstärkte Videoüberwachung und die genaue Beobachtung von Menschenmengen an den Karnevalstagen an. »Ein besonderer Fokus liegt auf größeren Gruppen junger Männer aus dem nordafrikanischen oder arabischen Raum.«
Kölns neuer Polizeipräsident Jürgen Mathies rief derweil kostümierte Jecken zum Verzicht auf Spielzeugwaffen beim bevorstehenden Straßenkarneval auf. Im Kölner Stadt-Anzeiger (Mittwochausgabe) riet er »dringend davon ab«, sich »etwa als Dschihadist zu verkleiden oder Waffen zu tragen, bei denen man nicht erkennen kann, ob sie echt sind oder nicht«. Derartige Kostümierungen könnten die anderen Feiernden unnötig verunsichern. Der Straßenkarneval beginnt am Donnerstag nächster Woche mit der traditionellen Weiberfastnacht.
Der nordrhein-westfälische Landtag stimmte am Mittwoch für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der das Polizeiversagen in der Silvesternacht aufarbeiten soll.
(AFP/dpa/jW)
Prominente haben in der vergangenen Woche eine »Kölner Botschaft« veröffentlicht. »Leidenschaftlich rufen die Unterzeichner (…) zum Kampf gegen sexuelle Gewalt, Kriminalität und Fremdenhass auf«, schreibt der lokale Stadt-Anzeiger und unterstützt die Erklärung seinerseits mit der Dauerveröffentlichung zustimmender Leserbriefe. Klaus Jünschke, der in Köln lebt und seit über 25 Jahren mit Flüchtlingen und Gefangenen arbeitet, ist diese »Einheitsfront« suspekt.
Wenn mir ein Flüchtling sagen würde »Ich liebe Deutschland«, würde ich mit einem Zitat von Gustav Heinemann antworten: »Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!« Soviel zum Thema Patriotismus. Einige Kölner sagen: »Wir lieben Köln. Wir lieben die Vielfalt unserer Stadt. Diese sichtbare Verwundbarkeit und Unvollkommenheit der Stadt vertieft unsere Liebe noch.«
Der Kabarettist Jürgen Becker ist mit seiner Rede auf der »Du bes Kölle«-Demo am 14. Dezember 2014 nicht wirklich angekommen: »Kölschtümelei hat eine offene Flanke zum rechten Rand! Ich habe nichts dagegen, ihr kölschen Bands, dass ihr Köln schön findet, aber mulmig wird mir, wenn ihr Köln schönfärbt.« Oder was soll man davon halten, wenn es in der »Kölner Botschaft« heißt: »Aber an dem kulturellen und materiellen Reichtum, den uns die Zuwanderung seit mehr als 2000 Jahren in Köln beschert, erkennen wir auch, dass Integration ein lohnendes und ein realistisches Ziel ist.« Die Jahre 1933–1945 kommen nur in Kurzform vor, und da wird die damalige Nazistadt als Opfer beklagt: »Das ehemals so prachtvolle Köln (ist) seit seiner Zerstörung in den Jahren von 1942 bis 1945 keine Schönheit mehr.« Adorno hat 1959 am Ende seines Vortrags »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« festgestellt: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.«
Das Patriarchat kommt in der »Botschaft« in diesen niedlichen Worten vor: »Nicht erst seit Silvester wissen wir, dass in manchen Milieus manche Männer ein tiefgreifendes Problem mit der Gleichberechtigung haben.« Wie kann einem das in den Sinn kommen, wenn ein paar Zeilen weiter berichtet wird, dass »in Deutschland noch immer alle drei Minuten eine Frau Opfer einer Vergewaltigung« wird.
jW-Probeabo
Wer in den vergangenen Tagen regelmäßig Zeitung gelesen hat, hat immer mal wieder von deutschen und internationalen Untersuchungen über das Ausmaß von Gewalt gegen Mädchen und Frauen gelesen. Zehn bis über 50 Prozent der Mädchen und Frauen sind danach Opfer von verschiedenartigen Übergriffen. In keinem einzigen Beitrag habe ich gelesen, wie viele männliche Täter diesen Zahlen weiblicher Opfer entsprechen. Aber davon muss es ein gesellschaftliches Bewusstsein geben: Selbst wenn man nur von zehn Prozent aller Mädchen und Frauen als Gewaltopfer ausgeht, hat man es mit mehreren Millionen männlichen Tätern allein in Deutschland zu tun. Die Bundesrepublik hat aber nur 80.000 Haftplätze. Wie können Patriarchat und Sexismus thematisiert, wie kann ihnen mit entschiedenen Maßnahmen begegnet und wie können sie überwunden werden? Alle einsperren geht nicht.
Die Autorinnen und Autoren der »Botschaft« wollen »der wachsenden Polarisierung in unserer Gesellschaft entgegenwirken«. Dabei kommt ihnen aber nicht die wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich in den Sinn, die international Flucht und Migration bewirkt und national, in den Städten und Gemeinden, dass sich einheimische und zugewanderte Arme als Feinde gegenüberstehen. Statt dessen wird das »Diversity-Konzept« beschworen: »Denn gleich welchen Geschlechts und Alters wir sind, welcher Herkunft und Religion, welchen Beruf wir ausüben und welcher Partei wir angehören, welche sexuelle Orientierung wir haben und welche private Leidenschaft – wir alle wollen uns in Köln sicher, frei und offenen Blicks bewegen.«
»Die Vertreter des Diversity management konnten verbreiten, dass das Hauptproblem von Gesellschaften in der Anerkennung unterschiedlicher Identitäten und nicht in der Reduzierung wirtschaftlicher Ungleichheit liegt. Da in vielen Fällen der Einsatz für die Diversität an die Stelle des Kampfes für die Gleichheit getreten ist (statt ihn zu ergänzen), hat er am Ende die Barrieren geschwächt, die den um sich greifenden Neoliberalismus eindämmen sollten.« So der amerikanische Soziologe Walter Ben Michaels.
Ich bin nicht einverstanden mit der Entlastung der Polizeibeamten vor Ort: »Diese Kritik richtet sich ausdrücklich nicht gegen die einzelnen Polizeibeamten, die unter hohem persönlichen Risiko für unsere Sicherheit sorgen. Ihnen vertrauen wir weiterhin.« Ein Motto der Kölner Polizei ist »Hinsehen – Handeln – Hilfe holen«. In der Silvesternacht haben Frauen um Hilfe geschrien und diese bewaffneten Männer haben nicht interveniert.
Sehr befremdlich ist, dass die Autorinnen und Autoren der »Kölner Botschaft« von »bandenmäßiger Kriminalität« sprechen und als Quelle ihrer Information »gute Nachbarn« nennt, statt sich auf die Analysen der Polizei und des Innenministeriums zu beziehen, die keine »kriminellen Banden« feststellen konnten und das Zustandekommen der Übergriffe nicht als geplant, sondern als spontan einschätzen.
Jürgen Becker hat in seiner Rede auf der »Du bes Kölle«-Demo gefragt: »Könnte es vielleicht sein, dass die Lobeshymnen op Kölle, du ming Stadt am Ring, denen so munden, die Kölle über alles lieben, weil sie Deutschland, Deutschland über alles nicht mehr singen dürfen?« Das fragte ich mich auch, als ich den letzten Satz der »Kölner Botschaft« las: »Daher gilt unsere Sorge heute nicht so sehr Deutschland als vielmehr Europa, das durch den neu aufflammenden Nationalismus seine Seele zu verlieren droht.«


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