Montag, 25. Februar 2019

Maßlos (Ralph Hartmann)


Unsere Bundeskanzlerin ist eine prinzipienfeste, konsequent handelnde Politikerin. Sie beweist es immer wieder, auch in Sachen Bestrafung der bösartigen Russen und ihres Anführers Wladimir Putin. Eine kleine Auswahl:
Im Juli 2016 erklärte sie bei einem der zahlreichen Besuche des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Berlin, dass die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland an die Umsetzung des Minsker Prozesses gebunden sind. Dabei stellte sie klar: »Wir glauben, dass es für alle Beteiligten gut wäre, wenn Minsk umgesetzt wird und damit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen würden, die Sanktionen aufzuheben. So weit sind wir aber leider noch nicht.«

Im Mai 2017 betonte sie bei einem Treffen mit Putin in Sotschi, es sei ihr Ziel, »durch die Umsetzung der Minsker Vereinbarung auch zu dem Punkt zu kommen, wo wir die Sanktionen seitens der Europäischen Union wieder aufheben können«.

Mitte September 2018, sprach sie sich nach einem Treffen mit den Staats- und Regierungschefs Litauens, Lettlands und Estlands in Vilnius dagegen aus, die Strafmaßnahmen gegen Russland zu lockern. »Bevor wir keine Fortschritte beim Minsker Abkommen sehen, kann nicht darüber gesprochen werden, dass die Sanktionen aufgehoben werden.«

Immer wieder geht es aufs Neue um das Minsker Abkommen, das von dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko sowie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 12. Februar 2015 unterzeichnet wurde. Da Merkel stets nur den sehr allgemeinen Vorwurf erhebt, Moskau erfülle das Abkommen nicht, aber offensichtlich vergessen hat, was sie seinerzeit mit unterschrieben hatte, scheint es angebracht, wenigstens die Schlüsselelemente des Abkommens in Erinnerung zu rufen. Vereinbart wurden unter anderem eine umfassende Waffenruhe in der Ostukraine, der Abzug schwerer Waffen von der »Frontlinie«, ein Gefangenenaustausch, die Überwachung der »Front« durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen der Ostukraine und Russland, der Abzug fremder Truppen und Kämpfer (Söldner) aus dem Gebiet der Ukraine, Amnestie für Straftaten während des Konfliktes. Schließlich wurde vereinbart, dass das ukrainische Parlament innerhalb von 30 Tagen eine Autonomie für »bestimmte Regionen der Gebiete Lugansk und Donezk« beschließen soll.

Zu keiner einzigen Vereinbarung kann Moskau der Vorwurf gemacht werden, sie zu verletzen. Ohne Wenn und Aber fordert der Kreml die Einhaltung des Minsker Abkommens und ist nicht bereit, die Unabhängigkeit der »Volksrepubliken Lugansk und Donezk« anzuerkennen, ganz zu schweigen von einer Aufnahme in die russische Föderation. Mehrfach haben Putin und Außenminister Lawrow erklärt, dass beide Gebiete Teil der Ukraine bleiben, aber gemäß der Minsker Vereinbarungen einen Autonomiestatus erhalten sollen. So hatte denn Putin bereits im April 2016 in einer Fernsehfragestunde allen Grund festzustellen, dass Russland »in Bezug auf die Minsker Vereinbarungen seinerseits schon alles erfüllt hat«. Weder in Kiew noch in den NATO-Staaten konnte dieser Erklärung widersprochen werden. Dessen ungeachtet wurden die Sanktionen aufrechterhalten und teilweise verstärkt.

Wie anders ist doch der Umgang mit der Ukraine. Als sich Donezk und Lugansk nach dem von den USA, der Bundesrepublik und anderen NATO-Staaten geförderten Putsch in Kiew für unabhängig erklärten, gingen die neuen ukrainischen Machthaber mit brutaler militärischer Gewalt gegen die Separatisten vor; ernsthafte Versuche, den Konflikt im Dialog zu lösen, gab es nicht. Auch später, Poroschenkos Unterschrift unter dem Minsker Abkommen war noch nicht trocken, gab es keinerlei Bemühungen zu einer friedlichen Lösung. Tausende und Abertausende Menschen mussten diesen Kriegskurs mit ihrem Leben bezahlen.

Obwohl der in Minsk vereinbarte Autonomiestatus für die beiden südostukrainischen Gebiete entscheidend dazu beitragen könnte, Krieg und Zerstörung zu beenden und die territoriale Integrität der Ukraine zu sichern, denken Poroschenko und seine Regierungsmannschaft nicht daran, das Übereinkommen umzusetzen. Sie setzen weiter auf die militärische Karte. Unter Verletzung des Minsker Abkommens bereiten sie eine neuerliche militärische Offensive vor. Bereits Mitte November 2018 hat die OSZE-Beobachtungssondermission eklatante Verstöße der ukrainischen Streitkräfte gegen die Minsker Vereinbarungen über den Abzug schwerer Waffen an den Grenzen zu den »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk festgestellt. Artillerie, Panzer und Luftabwehrraketen wurden in Stellung gebracht. Der Noch-Präsident Poroschenko handelt nach dem Motto: Was interessiert mich meine Unterschrift von vorgestern?

Bereits am 13. Februar 2015 erklärte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, im Deutschlandfunk, das Minsker Abkommen sei »nur ein Fetzen Papier«. Wenige Monate später gestand die Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Ganna Gopko, die Ukraine habe den Vertrag »seinerzeit nur unter dem Zwang der Umstände unterzeichnet, um Zeit für eine Umgruppierung und Verstärkung der eigenen Truppen zu gewinnen. Beides ist nun erreicht.«

Ende November 2017 bezeichnete der ukrainische Innenminister Arsen Awakow die Minsker Vereinbarungen als tot. Wörtlich sagte er auf dem 8. Nationalen Expertenforum: »Ich bin der Meinung, dass die Minsker Vereinbarungen tot und nicht mehr der Rede wert sind … Wir haben das Abkommen unterschrieben, ohne vorzuhaben, es zu erfüllen.« Auf die Frage »Können die Minsker Abkommen als realer Mechanismus für die Erzielung des Friedens und die Konfliktregelung dienen?« antwortete der Minister kurz und knapp, aber bestimmt: »Nein – davon bin ich tief überzeugt.« (Nebenbei bemerkt: Die Kiewer Haltung unterscheidet sich grundlegend von der Position Moskaus. Am 14. Juli 2018 stellte Außenminister Lawrow in einem Interview mit Euronews fest: »Die Minsker Vereinbarungen bleiben nach internationalem Recht gültig, denn sie wurden durch eine UN-Resolution gebilligt. Sie ist für eine Umsetzung zwingend – kein einziges ukrainisches Gesetz kann dem UN-Sicherheitsrat übergeordnet werden. All unsere Partner aus West- und Osteuropa sowie die Vereinigten Staaten wollen die Minsker Vereinbarungen umsetzen.«

Und wie reagieren die deutsche Kanzlerin und die anderen Spitzenleute der EU- und NATO-Staaten auf die fortlaufenden Kiewer Verletzungen des Minsker Abkommens und auf seine komplette Negierung? Sie springen der wirtschaftlich am Boden liegenden Ukraine vor allem mit Beratern, Söldnern, Waffen und nicht zuletzt mit umfangreicher Finanzhilfe zur Seite. Bereits im Februar 2015 kündigte der Internationale Währungsfonds (IWF) an, die Ukraine werde in den nächsten vier Jahren Kredite in Höhe von 17,5 Milliarden Dollar erhalten. Im November 2018 hat die Europäische Kommission die Auszahlung der ersten 500 Millionen Euro des neuen Makrofinanzhilfeprogramms für die Ukraine genehmigt. Dank solcher Programme hat die Ukraine seit 2014 3,3 Milliarden Euro erhalten.

Kein anderes Nicht-EU-Land erhielt eine derart hohe Finanzhilfe. Darüber hinaus leistet die Bundesrepublik im Rahmen eines »Aktionsplans Ukraine« Hilfe in vielfacher Millionenhöhe. Auch die USA stehen nicht abseits. So spendeten sie 500 Millionen Dollar zur Aufrüstung der ukrainischen Armee für den »Befreiungskrieg im Donbass«.

Fazit: Moskau setzt sich für die Umsetzung des Minsker Abkommens ein und wird mit Sanktionen bestraft. Kiew verletzt das Abkommen, stellt es generell in Frage und wird dafür mit umfangreicher Hilfe belohnt. Verkehrte Welt? Spektakel mit zweierlei Maß? Nein, nicht einmal das. Es ist eine Politik, die jedes Maß verloren hat. Wie sagte doch unsere Kanzlerin? »Die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland [sind] an die Umsetzung des Minsker Prozesses gebunden.« Wie wahr, wie wahr!

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