Am 22. Januar 1963 unterzeichneten der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer im Pariser Elysee-Palast den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Auf den Tag genau 56 Jahre später kamen nun die Staatsoberhäupter beider Länder, Angela Merkel und Emmanuel Macron, zusammen, um den „Aachener Vertrag“ (auch: Elysee 2.0 genannt) „über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“ zu unterzeichnen. „Wir arbeiten in Europa, wir wollen Impulse für die europäische Einigung geben“, ließ die Kanzlerin bereits im Vorfeld zum Sinn und Zweck der Übung verlautbaren.
Impulse sollen vor allem in der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) gegeben werden, so hat es bei näherer Betrachtung des Vertrages zumindest den Anschein, da das Kapitel „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ im Vertragswerk beträchtlichen Raum einnimmt. Vordergründig wird dabei auf eine Intensivierung der Rüstungszusammenarbeit gedrängt, tatsächlich geht es aber vor allem um den Anspruch, der fortschreitenden Militarisierung Europas ein deutsch-französisches Gesicht zu verpassen. Neben diesem übergeordneten Ziel ist vor allem das deutsche Zugeständnis auf eine Harmonisierung der Rüstungsexportregeln hinarbeiten zu wollen sowie die französische Unterstützung für einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat bemerkenswert.
Deutsch-Französische Bratislava-Agenda
Bis zum Austrittsreferendum am 23. Juni 2016 war es stets vor allem Großbritannien, das Initiativen zum Ausbau des EU-Militärapparates im Keim erstickte. Wie eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages über „sicherheits- und verteidigungspolitische Folgen des britischen Referendums über den Austritt […] aus der Europäischen Union“ betonte, würde durch einen Brexit „künftig ein Hemmschuh für die weitere Verteidigungsintegration wegfallen.“ Aus diesem Grund sähen „Regierungsvertreter und -vertreterinnen sowohl aus Frankreich als auch aus Deutschland“ den bevorstehenden Austritt Großbritanniens „mehrheitlich als eine Chance, den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu beschleunigen.“
Vor diesem Hintergrund nutzten Deutschland und Frankreich die sich bietende Gelegenheit und gingen mit zwei Papieren an die Öffentlichkeit, deren Forderungen im Anschluss in Gestalt der „Bratislava-Agenda“ den rapiden EU-Militarisierungsprozess der letzten Jahre „inspirieren“ sollten. Der Grundstein wurde bereits am 27. Juni 2016, lediglich vier Tage nach dem Brexit-Referendum, mit dem Papier „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“ gelegt. Darin forderten die damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault nicht nur die Umsetzung seit Jahren in der Pipeline befindlicher Militärprojekte, sondern auch eine diesbezügliche deutsch-französische Führungsrolle: „In einem stärker von divergierenden Machtinteressen geprägten internationalen Umfeld sollten Deutschland und Frankreich gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln.“
Nach der Sommerpause legten am 12. September 2016 die Verteidigungsminister Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Drian mit einem zweiten deutsch-französischen Papier nach. Auch darin fand sich die Forderung, den Brexit nun für den großen Militarisierungssprung nach vorne zu nutzen: „Unter der Prämisse der Entscheidung des Vereinten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, ist es nun unser Ziel, zu 27 weiter voranzuschreiten.“
PESCO & Rüstungsprojekte
In einem nächsten Schritt einigten sich beide Länder beim Treffen des deutsch-französischen Ministerrates am 13. Juli 2017 im Alleingang auf alle wesentlichen Kriterien zur Ausgestaltung der sogenannten „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. „PESCO“). In der Abschlusserklärung hieß es kurz und bündig: „Frankreich und Deutschland [haben sich] auf eine Reihe von bindenden Verpflichtungen und Elementen für eine inklusive und ambitionierte PESCO geeinigt.“ Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag antwortete die Bundesregierung auf die Frage, wie denn die anderen Mitgliedsstaaten in den PESCO-Anbahnungsprozess eingebunden worden wären, mit entlarvender Offenheit: „[Die] Grundlage eines deutsch-französischen Vorschlages zu den Verpflichtungen der PESCO […] führte zu einem gemeinsamen Brief der Verteidigungsminister von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien an die Hohe Vertreterin vom 21. Juli 2017. […] Mit dem Versand einer Kopie dieses Briefes an alle Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister der EU erfolgte die Einbindung aller Mitgliedstaaten.“
PESCO soll als künftige Schaltzentrale der EU-Militärpolitik unter anderem die Herausbildung („Konsolidierung“) eines deutsch-französisch dominierten Rüstungskomplexes vorantreiben. Deshalb wurde ebenfalls beim deutsch-französischen Ministerrat am 13. Juli 2017 der bereits zuvor beschlossene gemeinsame Bau einer Eurodrohne bekräftigt sowie erstmals der eines Kampfpanzers und eines Kampfflugzeuges angekündigt. Zusammen sollen diese drei Großprojekte als künftiges Rückgrat des im Aufbau befindlichen Europäischen Rüstungskomplexes dienen (siehe IMI-Analyse 2018/25).
Auf dem nächsten deutsch-französischen Treffen im Juni 2018 in Meseberg wurde in der Abschlusserklärungdementsprechend noch einmal die Entschlossenheit zum Bau von Drohne, Panzer und Flugzeug untermauert. Da außerdem das bisher in großen Teilen der Außen- und Sicherheitspolitik geltende Konsensprinzip Deutschland und Frankreich ein Dorn im Auge ist, da es den kleineren EU-Ländern erhebliche Einflussmöglichkeiten gewährt, forderte deshalb auch die „Meseberger Erklärung“, man müsse „Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik prüfen.“
Führungsansprüche im Aachener-Vertrag
Die deutsch-französischen EU-Führungsansprüche waren in den letzten Jahren wahrlich schwer zu übersehen – weshalb sie nun auch noch unbedingt in einen Vertrag gegossen werden mussten, wissen wohl nur Berlin und Paris. Unter dem Vorwand, nur so könne der stockende Integrationsprozess überwunden werden, beabsichtigen beide Länder augenscheinlich, sich in zentralen Fragen bereits im Vorfeld abzustimmen und anschließend die restlichen Mitglieder vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Im „Aachener Vertrag“ liest sich dies so: „Beide Staaten halten vor großen europäischen Treffen regelmäßig Konsultationen auf allen Ebenen ab und bemühen sich so, gemeinsame Standpunkte herzustellen und gemeinsame Äußerungen der Ministerinnen und Minister herbeizuführen.“ (Kap. 1, Art. 2) Konkret auf das Kapitel „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ bezogen heißt es dann weiter: „Beide Staaten […] konsultieren einander mit dem Ziel, gemeinsame Standpunkte bei allen wichtigen Entscheidungen festzulegen, die ihre gemeinsamen Interessen berühren, und, wann immer möglich, gemeinsam zu handeln.“ (Kap. 2, Art. 3)
In klaren Worten beschreibt das Handelsblatt die Bedeutung dieser Passagen mit den Worten: „Am stärksten geht Deutschland im verteidigungspolitischen Kapitel des Aachener Vertrages auf Frankreich zu. […] Laut Vertragstext wollen beide Länder eine gemeinsame strategische Kultur entwickeln, vor allem mit Blick auf gemeinsame militärische Einsätze. Das Neue daran: Die Bundesregierung will künftig zuerst mit Frankreich voranschreiten, und dann die anderen Europäer einbinden. Bisher hatte Berlin stets nur solche Projekte vorantreiben wollen, bei denen alle Europäer mitgehen. Frankreich hielt dies schon immer für unrealistisch.“
Konkretisierung
Auch wenn vielfach die teils vagen Formulierungen des Dokumentes kritisiert wurden, diesen deutsch-französischen Führungsanspruch nun auch vertraglich fixiert zu haben, ist alles andere als eine Kleinigkeit. Außerdem ist der Vertrag auch keineswegs so substanzlos, wie teils bemängelt wird, zumal die einzelnen Absichtserklärungen künftig von einem hochrangigen Gremium überprüft werden sollen: „Beide Staaten richten den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat als politisches Steuerungsorgan für diese beiderseitigen Verpflichtungen ein. Dieser Rat wird regelmäßig auf höchster Ebene zusammentreten.“ (Kap. 2, Art. 4)
Grundsätzlich will man künftig nicht mehr von der NATO (und damit den USA) abhängig sein, es gehe darum, auf die „Stärkung der Fähigkeit Europas hin[zuwirken], eigenständig zu handeln.“ (Kap. 2, Art. 3) Hierfür wird – die französische Interventionsinitiative zur „Verbesserung“ der militärischen Einsatzfähigkeit aufgreifend – die Absicht beider Staaten untermauert, die „Zusammenarbeit zwischen ihren Streitkräften mit Blick auf eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Einsätze weiter zu verstärken.“ (Kap. 2, Art. 4)
Außerdem soll der angestrebte Europäische Rüstungskomplex u.a. mittels der „Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme“ erreicht werden, da man hiermit beabsichtige, die „Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern.“ (Kap. 2, Art. 4) Vor allem mit Blick auf die drei in Planung befindlichen Großprojekte Eurodrohne, Kampfpanzer, Kampfflugzeug, deren Realisierungschancen ohne Exporte vergleichsweise gering sein dürften, wird ferner betont: „Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.“ (Kap. 2, Art. 4) Damit sollen die französischen Vorbehalte gegenüber den – leider nur vergleichsweise – strengen deutschen Rüstungsexportrichtlinien adressiert werden. Mit an fast Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird dies in der ein oder anderen Form wohl auf eine weitere Absenkung der ohnehin bereits viel zu laxen Standards hinauslaufen.
Integration? Interessen!
Zumindest aus Sicht Berlins dürfte es sich bei der expliziten Unterstützung der deutschen Ambitionen im UN-Sicherheitsrat um das eigentliche Kronjuwel des Vertrages handeln: „Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie.“ (Kap. 2, Art. 4) Damit entlarven sich all die wohlfeilen Phrasen, als „Motor der Integration“ agieren zu wollen, endgültig als Heuchelei. Es geht hier wie generell darum, die nationalen Interessen Frankreichs und Deutschlands „besser“ gegen die anderen Mitglieder durchsetzen zu können. Frankreich will seinen Sitz unter keinen Umständen abgeben, Deutschland will unter allen Umständen einen ergattern, ergo kommentiert Reuters die Essenz dieser Vertragspassage folgendermaßen: „Das Ziel eines gemeinsamen EU-Sitzes im höchsten UN-Gremium wird damit fallengelassen.“
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