Sonntag, 8. März 2015

NATO weggetreten! (I) (Jürgen Rose)

Warum das nur vermeintlich »alte« Europa endlich seine »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) sowie seine »Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) in den Stand der Funktionstüchtigkeit bringen sollte, hat der Gesellschaftsphilosoph Jürgen Habermas vor geraumer Zeit schon auf den Punkt gebracht, als er in der Zeit zu Protokoll gab: »Der erklärte Unilateralismus der USA hat seit der Verkündung der Bush-Doktrin im Herbst 2002 die Glaubwürdigkeit der normativen Grundlagen westlicher Politik zerstört. Als Katalysator einer neuen Weltunordnung hat er auf allen Seiten eine sozialdarwinistische Enthemmung von Gewaltpotentialen und rücksichtslose Verfolgung nationaler Interessen ausgelöst.« Daß sich an der mit unverhohlenem Anspruch auf globale Hegemonie gepaarten Arroganz militärischer Machtentfaltung der USA auch unter dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama nicht das geringste geändert hat, demonstriert der feige und verheerende Drohnenkrieg, den der US-Präsident vornehmlich durch die Special Activities Division seines Geheimdiensts CIA sowie das in Tampa, Florida, gelegene United States Special Operations Command (SOCOM) führen läßt und dem Zivilisten zu Hunderten, wenn nicht gar zu Tausenden zum Opfer fallen. Der US-amerikanische Hochschullehrer Michael Boyle, der an der La Salle University in Philadelphia unterrichtet und Berater in der Expertengruppe für Terrorabwehr während Obamas Wahlkampf war, bringt den kriminellen Charakter des Drohnenprogramms auf den Punkt: Mit der Aufstellung von Todeslisten und der Ausweitung der Drohnenangriffe »bricht Präsident Obama sein Versprechen, die Antiterrorpolitik mit der US-Verfassung in Einklang zu bringen«. Oba-ma hat »vom Oval Office aus die außergerichtliche Tötung zur Routine und zu einem normalen Vorgang gemacht, indem er Amerikas einstweiligen Vorsprung in der Drohnentechnologie dazu nutzt … Schattenkriege zu führen. Ohne eine Prüfung durch die Legislative und die Gerichte und unsichtbar für die Öffentlichkeit genehmigt Obama Woche für Woche Morde, wobei die Debatte über die Schuld und Unschuld der Kandidaten für die ›Todesliste‹ hinter verschlossenen Türen geführt wird.« (Jeremy Scahill: »Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen«, Ü: Zybak, Maria und andere, 2013. Titel der Originalausgabe: »Dirty Wars. The World is a Battlefield«) Diese Erkenntnis ist mittlerweile auch in Deutschland angelangt, wie ein Leitartikel des FAZ-Herausgebers Berthold Kohler in seinem antiamerikanischer Umtriebe unverdächtigen Blatt belegt. Am 3. Juli 2014 stand dort zu lesen: »Der Friedensnobelpreisträger hat gelernt, die Drohne zu lieben. Er ist vom Vorkämpfer für weltweite nukleare Abrüstung zum Feldherrn eines weltumspannenden Drohnenkriegs geworden. Dieser Feldzug ist Obamas Antwort auf die asymmetrische Kriegsführung des islamistischen Terrorismus. Die Drohne ist die Waffe, mit der er die Terroristen terrorisiert. Und ohne Gerichtsverfahren exekutiert. Unschuldige Dritte, die diesen ›chirurgischen‹ Schlägen zum Opfer fallen, werden als ›Kollateralschäden‹ bagatellisiert.« Indes löst keineswegs nur die »Ermordung von Zivilisten ohne Gerichtsverfahren im ›Drohnenkrieg‹«, wie der Datenschutzbeauftragte der Piratenpartei, Patrick Breyer, auf www.zeit.de anmerkte, Zweifel an der Fortexistenz der seitens der Pseudo-Elite hierzulande gebetsmühlenhaft beschworenen transatlantischen Wertegemeinschaft aus. Weitere Positionen, die Breyer auf der Liste US-amerikanischer Menschenrechtsverbrechen notiert, umfassen: den Vollzug der Todesstrafe, die zeitlich unbegrenzte Gefangennahme ohne Anklage in Lagern wie Guantanamo, die Aburteilung von Personen vor nicht rechtsstaatlichen Sondergerichten (military commissions), die Verschleppung von Personen in Folterstaaten, die Verhängung von Flugverboten und Finanzsperren oder die Aufnahme in Verdachtslisten ohne gerichtliche Genehmigung und Überprüfungsmöglichkeit. Den hinsichtlich der Bewertung als Rechts- oder Unrechtsstaat alles überragenden Punkt jedoch markiert die Außerkraftsetzung des Habeas-Corpus-Prinzips (Recht auf unverzügliche Haftprüfung) in den USA im Jahre 2006. Die Europäische Menschenrechtskonvention stuft das Recht auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung in Artikel 5 als Menschenrecht ein. In Deutschland werden die Habeas-Corpus-Rechte durch Artikel 104 des Grundgesetzes geschützt. Ungeachtet des Umstandes, daß der Supreme Court die Regelung am 12. Juni 2008 für verfassungswidrig erklärt hatte, unterzeichnete US-Präsident Obama am 31. Dezember 2011 das Nationale Verteidigungsbevollmächtigungsgesetz (NDAA), das die Festnahme von Personen unter Terrorverdacht durch das Militär und eine Haft unbegrenzter Dauer in Militärgefängnissen ohne Gerichtsverfahren, Rechtsbeistand oder Berufungsmöglichkeit erlaubt. Eine Verbringung ins Ausland oder die Übergabe an ausländische Rechtsträger ist möglich. Festnahmen auf dem Boden der USA sowie von US-amerikanischen Bürgern sollen durch nicht-militärische Kräfte erfolgen. In der Konsequenz bedeutet dies, daß sich die US-Regierung das Recht anmaßt, jeden beliebigen Menschen unter dem Vorwand des Terrorismus ohne richterliche Verfügung auf unbestimmte Zeit an irgendeinem Ort der Welt einzukerkern. Völkerrechtlich definiert das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eine derartige Handlungsweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Verkommenheit von »God’s Own Country« formulierte pointiert der Religions- und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner in »Der Moloch«: »Die USA, die, seit es sie gibt, allen anderen Moral predigen, um ihre eigenen Greuel zu kaschieren, entstanden selbst auf dem Boden nackter Gewalt – durch Ausmordung der Roten und Versklavung der Schwarzen – die Basis ihrer ganzen Freiheit und Demokratie: blutige ›Realpolitik‹ und bigottes Geschwätz.« Und wie steht es um die häufig beschworene transatlantische Interessengemeinschaft? Die außenpolitische Praxis der USA legt der US-Journalist Stephen Kinzer in seinem Buch »Overthrow: America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq« umfassend dar (auf deutsch in der Übersetzung von Ulrich Enderwitz erschienen unter dem Titel »Putsch! Zur Geschichte des amerikanischen Imperialismus«). Das Paradigma des Regimewechsels und seiner vielfältigen Methoden beschreibt der Autor so: In vielen Fällen greifen die USA »auf altehrwürdige diplomatische Taktiken zurück, indem sie Regierungen, die Amerika unterstützen, Belohnungen in Aussicht stellen, und denen, die das nicht tun, mit Vergeltung drohen. Manchmal verteidigen sie befreundete Regime gegen den Zorn oder Aufruhr des jeweiligen Volks. In einer Vielzahl von Fällen haben sie stillschweigend Staatsstreiche oder Revolutionen unterstützt.« Die USA haben mehrfach geholfen, »Herrschaftssysteme zu stürzen und neue an die Macht zu bringen … Durch das ganze zwanzigste Jahrhundert und bis in den Anfang des einundzwanzigsten hinein haben die Vereinigten Staaten immer wieder die Macht ihrer Streitkräfte und ihrer Geheimdienste eingesetzt, um Regierungen zu stürzen, die den amerikanischen Interessen ihren Schutz verweigerten. Jedesmal bemäntelten sie ihre Einmischung mit dem schönfärberischen Hinweis auf Sicherheitsbedürfnisse der Nation und den Kampf für die Freiheit. In den meisten Fällen indes lagen ihren Aktionen hauptsächlich ökonomische Motive zugrunde.« Das US-amerikanische Imperium unterhält derzeit ein weltumspannendes Netz von offiziell 576 Militärbasen (US-Department of Defense) – die Hardware für die ökonomische Kolonisierung des Planeten mit militärischen Gewaltmitteln. Das ausgeklügelte und perfide Funktionsprinzip der kombinierten Außenwirtschafts- und Militärgewaltpolitik beschreibt einer der Insider, der dem System jahrelang zu Diensten war, der US-Amerikaner John C. Perkins, in seinem von Hans Freundl übersetzten Bericht »Bekenntnisse eines Economic Hit Man. Unterwegs im Dienste der Wirtschaftsmafia«. Darin charakterisiert er den Wirkungsmechanismus des dreistufigen US-Herrschaftsmodells, bestehend aus den »Wirtschaftskillern« (Economic Hit Men – EHM)«, »Geheimdienst-Schakalen« und Militär: Wirtschaftskiller »sind schlau«. »In Ländern wie Ecuador, Nigeria oder Indonesien kleiden wir uns wie Schullehrer und Ladenbesitzer. In Washington und Paris sehen wir wie Regierungsbeamte oder Banker aus. Wir wirken bescheiden und normal. Wir besuchen Projekte und schlendern durch verarmte Dörfer. Wir … sprechen … über die wunderbaren humanitären Leistungen, die wir vollbringen. Wir bedecken die Konferenztische von Regierungsausschüssen mit Tabellen und finanziellen Hochrechnungen und halten … Vorlesungen über die Wunder der Makroökonomie. Wir sind stets präsent und agieren ganz offen …Wir greifen selten zu illegalen Mitteln, weil das System auf Täuschung basiert, und das System ist von der Definition her legal.« Scheitern die »Wirtschaftskiller«, springen ihnen die »Schakale« bei, führt Perkins weiter aus: »Wenn sie auftauchen, werden Staatschefs gestürzt oder sterben bei ›Unfällen‹.« Versagen auch die Schakale, dann wird zum Mittel des Krieges gegriffen, »junge Amerikaner [werden] in den Krieg geschickt, um zu töten und zu sterben. … Economic Hit Men, Schakale und Soldaten werden eingesetzt werden, so lange man nachweisen kann, daß durch ihre Aktivitäten wirtschaftliches Wachstum erzeugt oder gefördert wird – und Wachstum ist fast immer die Folge ihrer Machenschaften.« Die Profiteure des Wachstums sitzen in den USA und allenfalls noch in deren alliierten Vasallenstaaten, während die betroffenen Ökonomien in den unterworfenen Regionen in der Schuldenfalle landen. Auf diese Weise schafft man sich willige Vasallen in der Schuldknechtschaft, die sich – fernab von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und sozialer Marktwirtschaft – auf dem Schachbrett der Geoökonomie und -strategie nach Belieben hin- und herschieben lassen. Der Autor war Oberstleutnant der Bundeswehr und ist Mitglied im Vorstand des »Darmstädter Signals«, des Forums für kritische StaatsbürgerInnen in Uniform

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