Sonntag, 8. März 2015
Notausgänge ins Inferno (Manfred Sohn)
Ende Januar 2015 eröffnete Mario Draghi das »Endspiel um den Euro«, wie das Handelsblatt titelte. Die Wirtschaftsleistung der Eurozone, so bilanzierte das Blatt, »liegt … real immer noch knapp unter dem Niveau von 2007, dem Jahr, als die Finanzkrise ausbrach«. Mit insgesamt bis zu 1,1 Billionen Euro soll nun der Euroraum mit billigem Geld so geflutet werden, daß die Preise wieder steigen und – so hoffen Draghi und seine Getreuen – auch die Produktion im Euroland.
Beruft man sich auf eine These von Robert Kurz, so hat die Krise ihren tieferen Grund darin, daß jetzt – nach dem Auslaufen einiger gegenläufiger Faktoren – das System an seiner schon von Karl Marx analysierten inneren Schranke angekommen sei. Wertbildend im kapitalistischen Sinne ist nur die Ware Arbeitskraft. Anders als mit den revolutionären Veränderungen im Zeitalter der Dampfmaschinen und des Fordismus wird heute systematisch und unwiderruflich mehr menschliche Arbeitskraft aus der Herstellung von Waren herausgedrängt, als für die Herstellung neuer Produkte benötigt wird. Damit erstirbt der innere Motor der kapitalistischen Produktion, und sie erstickt letztlich an der eigenen Produktivität und der unentwegten Produktion von immer mehr Menschen, für die es im kapitalistischen Sinne keine Verwertung und damit keine Verwendung mehr gibt.
Gegen diese These gibt es eine Reihe von Einwänden.
Die Position, so wird häufig geäußert, sei eurozentristisch. Während sich in Europa das Heer der Langzeitarbeitslosen vergrößere, steige weltweit gesehen die Zahl der Menschen in kapitalistische Lohnverhältnissen.
Als Karl Marx und Friedrich Engels sich mit dem Kapitalismus zu beschäftigen begannen, wurden durch die beginnende Mechanisierung der Textilindustrie Tausende von Menschen arbeitslos gemacht, die vorher zu Hause – als sogenannte Verlagsarbeiter – mit der Hand, vor einfachen Webstühlen sitzend, Stoffe webten. So sehr sie sich auch anstrengten: Die Preise ihrer Produkte sanken, weil Stoffe vergleichbarer Qualität nun aus den Textilfabriken billiger auf den Markt kamen. Bevor sie aber als soziale Schicht ganz von der Geschichtsbühne abtraten, hat sich die Zahl der zu Hause Webenden, hat sich die Stundenzahl der Nutzung ihrer alten Webstühle nicht abgesenkt, sondern sogar gesteigert: Statt acht oder zehn Stunden schufteten sie jetzt zwölf oder 16 Stunden, und in der Zwischenzeit mußten nun auch andere, die vorher nicht so eingespannt waren, sondern sich vielleicht um Küche und Hof kümmerten oder spielend die Welt erkunden durften, an die Webstühle: Frauen, Kinder, Alte.
Marx und Engels haben den Grund dafür enthüllt: Es ist im Kapitalismus völlig nebensächlich, wieviel Arbeitszeit von wie vielen Menschen in ein Produkt einfließt. Im Kapitalismus wird nur die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit gezählt. Alle darüber hinausgehende vernutzte Zeit wird über die Markt- und Konkurrenzgesetze beim Verkauf der Waren gestrichen, annulliert. Sie ist wertlos, vertane Liebesmüh.
Der Prozeß, der sich damals auf regionalen und nationalen Märkten abspielte, spielt sich jetzt auf dem Weltmarkt ab. Der Mechanismus aber ist derselbe: Immer mehr Waren werden nicht mehr außerhalb von kapitalistischen Märkten, sondern als kapitalistische Waren hergestellt. Bei ihrer Herstellung wird immer weniger menschliche Arbeitskraft benötigt. Damit sinkt ihr Wert tendenziell. Gleichzeitig werden aber immer mehr Menschen, die vorher ihre Existenz auch außerhalb der kapitalistischen Warenwirtschaft bestreiten konnten (wie früher die Ehefrau oder der Bruder des Webers, die sich um Garten, Schweine und Hühner kümmerten), dieser Existenzgrundlagen beraubt. Sie müssen ihre Arbeitskraft verkaufen. Also schwillt vorübergehend die Zahl der Verkäufer von Arbeitskraft sogar an. Aber ihr Stundenlohn wird immer erbärmlicher, weil auf dem Markt nur das entlohnt wird, was dem gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt entspricht. Das aber ist der Prozeß, der sich auch in den einst mit viel Hoffnung verbundenen Ländern Brasilien, Rußland, Indien und China abspielt: Weil die Arbeitskraft billig ist, werden eine Weile alte Fabriken in diese Länder ausgelagert, um die dortige Arbeitskraft – wie früher die der alten Weber – eine Weile mit zu vernutzen. Aber das ist nur das Erkaufen einer Galgenfrist, deren Zeit in dem Maße abläuft, wie die Produktivitätsentwicklung nach und nach auch die Fabriken der dortigen Regionen erreicht. Also sinken tendenziell die Wachstumsraten in China, während die Arbeitslosigkeit dort langsam ebenso steigt und sich chronifizieren wird wie in Indien, wo das bereits länger anschwellende Heer dauerhaft Ausgegrenzter die Ursache für den Wahlsieg rechtsgerichteter Hindus bei den letzten Parlamentswahlen war. Die Hoffnung auf die Rettung des Kapitalismus durch eine nachholende kapitalistische Entwicklung außerhalb der etablierten Zentren Westeuropa/USA/Japan ist eine Fata Morgana.
Dramatischer sind die Versuche in den Kapitalismus-Zentren selbst, dem Dahinsiechen des Systems zu entkommen, indem Notausgänge in den Tunnelgang des Niedergangs geschlagen werden. Einen Notausgang öffnet gerade Draghi: Er kurbelt die Inflation an und folgt damit Japan und den USA. Die deflationären Prozesse, gegen die mit solchen Geldschwemmen jetzt auch die europäische Notenbank ankämpft, haben ihren Kern im oben beschriebenen Rückgang der Vernutzung der allein wertbildenden Ware Arbeitskraft. Wo weniger Wert drin ist, steht über kurz oder lang auch ein geringerer Preis auf der Ware. Das Charakteristische in dieser Phase des Kapitalismus ist das Bestehen einer deflationären Grundströmung bei gleichzeitigem Anschwellen von Geld-Vermögens-Titeln, denen keine realen Waren oder Dienstleistungen mehr gegenüberstehen. Eine Kombination also von Deflation und einer aufgestauten Hyper-Inflation. Es erinnert an die Bildung einer vertrocknenden Wüste vor einem Staudamm, dessen Mauern die sich hinter ihm sammelnden Wassermassen in absehbarer Zeit nicht mehr halten werden.
Den Inflationsmachern selbst ist bange, denn historisch betrachtet sind Inflationen leichter ausgelöst als eingedämmt. Sie sollten vor etwas anderem allerdings mehr Angst haben: Die Geldentwertung würde (anders als ähnliche Operationen in Phasen des aufsteigenden Kapitalismus) an der Schwäche des Kapitalismus gar nichts ändern. Nehmen wir an, es gelänge, Inflation zu machen und damit die Schulden der Staaten und anderer zu entwerten. Wir lassen hier bewußt das menschliche Drama beiseite, das sich dort abspielen wird, wo Menschen ihre Altersversorgung auf einen stabilen Geldwert aufgebaut haben. Wenn aber alle Schulden getilgt und im Idealfall alle Konten wieder ausgeglichen sind, ist das Grundproblem des Systems, das die wertbildende Arbeit aus seinen Produktionsprozessen herausrationalisiert, nicht gelöst. Der Notausgang führt nach vielen ökonomischen Opfern, mit einer neuen Währung wieder an den Ausgangspunkt zurück.
Ein weiterer Notausgang: Krieg. Krieg ist ein Mittel, kapitalistische Krisen zu lösen. Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und den sich daran anschließenden sogenannten goldenen Zwanzigern, wie er auch zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem deutschen und japanischen Wirtschaftswunder besteht. Wo alles zertrümmert ist, kann die kapitalistische Maschinerie für eine Weile und, wenn die Dinge so »günstig« stehen wie in den 1950/60er Jahren, auch für eine Weile länger wieder angeworfen werden. Aber auch das ist ein Notausgang ins Nichts. Erstens stoppen auch Kriege den Grundprozeß der Ausschwitzung von menschlicher Arbeitskraft aus dem Produktionsprozeß nicht. Zweitens sind die Kriege, die seit 1945 um den Erdball tobten, zwar immer für die Betroffenen »große« Kriege, aber allesamt viel zu klein, um das Vernichtungspotential gemessen am Produktionspotential zu liefern, das ähnliche Effekte erzeugen könnte wie das 1918 und 1945 der Fall war. Also hilft nur der große Krieg. Aber hier gilt noch mehr als bei der Inflation: Er ist leichter angefangen als kontrolliert. Er wäre der direkte Notausgang ins Inferno.
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