Montag, 22. Oktober 2012
Ende eines "geisterhaften" Prozesses
Vier Stunden Urteilsbegründung für ein lang ersehntes Urteil nach einem zweijährigen "Piraten-Prozess"
Das Landgericht Hamburg hat gestern die zehn Angeklagten aus Somalia zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben Jahren verurteilt. Damit ging der umstrittene "Piraten-Prozess" nach fast zwei Jahren, über einer Million Gerichtskosten und über 100 Verhandlungstagen zu Ende.
Das Gericht sprach die Männer des Angriffs auf den Seeverkehr und des erpresserischen Menschenraubes schuldig. Die drei jüngsten der Angeklagten sind jetzt frei. Sie erhielten zwei Jahre Jugendstrafe, die mit der Zeit der Untersuchungshaft verbüßt ist.
Die Richter sahen es als erwiesen an, dass die Männer an Ostern 2010 das deutsche Containerschiff Taipan vor der Küste Somalias mit Waffen gekapert haben. Alle zehn Angeklagten seien an Bord des Frachters gewesen und hätten eine "Mithaftung", so der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz in seiner vierstündigen Urteilsbegründung. "Wir sind sicher, dass es eine geplante Tat war und dass keiner von Ihnen gezwungen wurde", sagte er zu den Angeklagten. Wer genau geschossen habe und wer genau welche Aufgabe hatte, hätte allerdings nicht festgestellt werden können. Das Gericht sei davon überzeugt, dass die Piraten die Taipan nach Somalia steuern und dann ein Lösegeld von mindestens einer Million US-Dollar fordern wollten.
Der Frachter Taipan war östlich des Horns von Afrika auf dem Weg von Haifa nach Mombasa gewesen. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich nach dem Überfall in einem Schutzraum verschanzt und einen Notruf abgegeben. Nach vier Stunden hatte die niederländische Marine – in Absprache mit der deutschen Bundesregierung - die gesamte Besatzung befreit. Nach Stationen in Oman und Dschibuti wurden die zehn Somalier nach Holland gebraucht. Dort, etwa neun Tage nach der Festnahme, wurden sie einem Haftrichter vorgeführt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hatte das Amtsgericht Hamburg Haftbefehle gegen die zehn Männer erlassen. Die holländischen Behörden lieferten sie jedoch erst nach Deutschland aus, nachdem der Vorwurf des versuchten Mordes von der Hamburger Staatsanwaltschaft als Anklagepunkt fallen gelassen wurde. Der Prozess begann im November 2010 (Mutmaßliche Piraten aus Somalia vor Gericht in Hamburg).
Die Kammer blieb in ihrem Urteil deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Diese hatte im September langjährige Haftstrafen für die zehn angeklagten Somalier gefordert. Die sieben Erwachsenen sollten zwischen sechs und zwölf Jahren ins Gefängnis. Für die drei Jugendlichen, die seit April 2012 in einer Jugendwohnung leben, hatte die Staatsanwaltschaft vier bis fünfeinhalb Jahre Gefängnis gefordert.
Legitimitätslücken
Mit dem Urteil am 105. Verhandlungstag ging ein historischer Prozess zu Ende – nicht nur, weil es der erste Piratenprozess in der Bundesrepublik war, und nicht nur, weil das Verfahren so lange dauerte wie sonst kaum eines. Es war ein besonderes Verfahren, weil die deutsche Justiz sich auf das "Weltrechtsprinzip" stützte und eine Straftat aufzuklären hatte, die mehrere Tausend Kilometer entfernt von Deutschland verübt wurde. Gleichzeitig sah sich die Kammer aufgrund der fehlenden staatlichen Strukturen in Somalia nicht in der Lage, dort Zeugen zu laden, die Entlastendes über die Angeklagten hätten aussagen könnten. Die Verteidigung fühlte sich in ihrer Arbeit behindert und stellte die Legitimität des Verfahrens in Frage.
Kurz vor der Urteilsverkündung hatte es im prall gefüllten Zuschauerraum des Gerichtssaals einen kleinen Tumult gegeben. Ein Mann aus Somalia war aufgestanden und bat darum, gehört zu werden, was der Richter aber untersagte. Drei Justizbeamte brachten ihn aus dem Saal, auch eine weitere Zuschauerin wurde nach lautstarkem Protest des Raumes verwiesen.
Der Richter sah es als erwiesen, dass der erpresserische Menschenraub vollendet und nicht nur, wie von Anwälten betont, versucht worden ist. Sie hätten die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Mannschaft gehabt, auch wenn kein direkter Kontakt bestanden habe, da sich die Besatzung im Sicherheitsraum aufgehalten habe. Es sei nicht von einem minderschweren Fall, wie von der Verteidigung dargelegt, auszugehen.
Die Kammer sah auch keinerlei Verfahrenshindernisse, die von zahlreichen Anwälten angeführt worden waren. Auch ein "entschuldigender Notstand" angesichts des Hungers in Somalia sei nicht feststellbar. Zweifel an der Zuständigkeit eines deutschen Gerichts habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben, so der Richter.
Emotionale Schlussworte
Dem Gericht sei nichts über Vorstrafen der Angeklagten bekannt. Strafmildernd sei berücksichtigt worden, dass Somalier eine geringe Lebenserwartung hätten, was nicht nur die Angeklagten, sondern auch deren Angehörige betreffe, so Steinmetz. Viele Angeklagte haben in ihren Schlussworten die Sorge mitgeteilt, dass ihre Familien in großer Not seien und sie nicht helfen könnten.
"Ohne die Hilfe meiner Anwälte wäre meine Familie nicht mehr am Leben", sagte einer der Angeklagten. Mehrere sprachen über Suizidgedanken. Einer sorgte sich um seine Kinder, die im zerrütteten Somalia leben: "Ich weiß nicht, wann ich sie wiedersehen werde und ob ich sie lebend wiedersehen werde." Einer der drei jüngsten Beschuldigten sagte kurz vor der Urteilverkündung, er sei unendlich dankbar, dass er in Deutschland zur Schule gehen dürfe. "Es ist für mich wie ein Traum. In Somalia habe ich nie eine Chance gehabt."
Gleich zu Beginn der Urteilsverkündung wies Steinmetz darauf hin, dass die sieben Erwachsenen die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Soweit bekannt, sind aber alle Angeklagten völlig mittellos oder gar verschuldet. Viele haben keine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben. Einige waren bei ihrer Festnahme unterernährt.
"Niedriger als gedacht und trotzdem zu viel", kommentierte einer der Anwälte das Urteil. Ein anderer, Manfred Getzmann sagte, die Strafe sei nicht so "drakonisch" wie befürchtet. Der Verteidiger eines der drei Heranwachsenden zeigte sich erleichtert, dass das Gericht nicht den hohen Forderungen der Staatsanwaltschaft gefolgt ist.
Gleichwohl hatten in den bereits vorgetragenen Plädoyers die meisten Anwälte die Einstellung des Verfahrens, Freisprüche oder deutlich niedrigere Strafen verlangt. Angeführt wurden politische, rechtliche und humanitäre Gründe.
In seinem Schlussvortrag hatte der Rechtsanwalt Philipp Napp den Prozess als "geisterhaft" und "absurd" kritisiert. Das Gericht sei nicht in der Lage, über ein Verbrechen, das in 9.000 Kilometern Entfernung begangen worden sei, gerecht zu urteilen.
Gabriele Heinecke sagte, ihr Mandant warte bis heute darauf, seine Angaben durch einen Zeugen aus Somalia bestätigen zu können. Die Kammer habe aber "alle Zeugen in Somalia unter anderem mangels Hausnummern für unerreichbar erklärt". Angeführt worden sei auch, dass es sich in Somalia um einen "failed state" handele. Das könne nur "zur Undurchführbarkeit eines derartigen Verfahrens" führen, "aber nicht zur Verurteilung!" Das Gericht wende das Gesetz an, sei aber in diesem Verfahren "an die Grenzen des Gesetzes gestoßen und meine, trotzdem verurteilen zu müssen", so Heinecke.
Der Verteidiger Getzmann beschrieb Deutschland als "das Fettauge in der globalen Ökonomie", dessen Export-Rekorde und Gewinne in keinerlei Verhältnis zu denjenigen Menschen in Afrika stünden, die hungern. Keiner im Gerichtssaal könne sich vorstellen, was hungern wirklich bedeute, so Getzmann. Er erwähnt Gewicht und Größe seines jungen Mandanten. Auch andere Anwälte verwiesen auf die Hungersnot. Die Dortmunder Anwälte Andrea Ruschmeier und Michael Budde beantragten für ihren Mandanten Freispruch. Man könne sich kaum vorstellen, dass ihr dünner Mandant 5 Jahre im Steinbruch gearbeitet habe. Bei Eingabe seines aktuellen Gewichts in eine Tabelle des BMI (Body-Maß-Index) habe das Ergebnis gelautet: "Lassen Sie sich sofort stationär behandeln!" Nach jahrelanger Unterernährung wäre für ihren Mandanten keine regelmäßige Nahrungsaufnahme mehr möglich. Das Gericht wisse das.
"Wir maßen uns hier an, Recht zu sprechen nach unseren deutschen Vorstellungen über Menschen, deren Lebenssituation wir nicht mal annähernd nachvollziehen können."
Andreas Beuth kritisierte auch die Verteidigungsstrategie der Anwälte und bedauerte – zumindest bei denen, die nicht zwangsrekrutiert worden seien -, dass man angefangen habe, Einlassungen zu machen, da sie den Angeklagten stets zum Nachteil gereichten.
Ralf Ritter sagte in seinem Schlussvortrag: "Unseren Mandanten hatte, bevor er nach Deutschland gebracht wurde, nichts mit unserer Rechtsgemeinschaft verbunden. Er hatte keinen Anspruch auf Schutz durch unser Recht, unsere Gerichte." Er habe auch keine Möglichkeit der Teilhabe an der Daseinssicherung und dem Wohlstand hier gehabt. Er habe zusehen müssen, wie er in einem Land ohne Staat und Rechtsordnung überlebt, zurechtkommt, sich und seine Familie ernährt. "Wenn dieses Verfahren und seine Rechtsfolgen abgeschlossen sind, wird unsere Rechtsordnung sich bemühen, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Dennoch maßen wir uns an, gegen ihn eine Strafe zu verhängen." Dies sei höchst problematisch und stelle ganz grundlegend die materielle, die inhaltliche Berechtigung für die Strafe in Frage. "Es fehlt das für die Strafe grundlegende Gegenseitigkeitsverhältnis", so Ritter.
"Wir maßen uns hier an, Recht zu sprechen nach unseren deutschen Vorstellungen über Menschen, deren Lebenssituation wir nicht mal annähernd nachvollziehen können", sagte Rainer Pohlen, Verteidiger des jüngsten Beschuldigten. Das Verfahren sei "grandios gescheitert". Er und sein Kollege kritisierten insbesondere, dass die Kammer wesentliche Prinzipien des Jugendstrafrechts verletzt habe. "Was in aller Welt hat die Kammer dazu bewogen, die Jugendlichen so lange in Haft zu lassen?", so Pohlen. Dies sei sehr ungewöhnlich. Auch die Staatsanwaltschaft sei ihrer Rolle in "keinster Weise" gerecht geworden und habe das "Jugendstrafrecht mit Füßen getreten", sagte Pohlen. Die Begründung für deren hohe Strafforderung laute übersetzt: "Hohe Strafe für schwere Kindheit."
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ob die Staatsanwaltschaft in Revision geht, ist noch offen. Keiner der Angeklagten hat das Urteil angenommen, zahlreiche Verteidiger wollen Revision beantragen. Sie fanden viele Erklärungen des Gerichts zu den im langen Prozess aufgeworfenen Rechtsfragen nicht überzeugend.
Anke Schwarzer
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen