Montag, 29. Oktober 2012

Drogenkartelle: Der Raubzug nach mexikanischem Öl

von Alexandra Endres Lukrativ wie der Drogenhandel: Die Journalistin Ana Lilia Pérez deckt auf, wie Mexikos Drogenkartelle den staatlichen Ölkonzern plündern – bis heute. Das Radio von Ana Lilia Pérez bringt schon seit Langem keine guten Nachrichten mehr. Der Sprecher des Senders berichtet aus Mexiko, ihrem Heimatland, er spricht von Toten, verstümmelt zur Schau gestellt, von Massengräbern und Schießereien. Pérez lebt seit vier Monaten in Hamburg, aber noch immer will sie wissen, was zu Hause vor sich geht. "Vielleicht ist das ein bisschen masochistisch", sagt sie. Gewalt sei in ihrem Land einfach allgegenwärtig. "Es ist schlimm, aber wir haben uns fast daran gewöhnt." Pérez, 36 Jahre alt, ist nach Hamburg gezogen, weil sie in Mexiko um ihr Leben fürchtet. Sie wurde bedroht und beschattet, musste eine kugelsichere Weste tragen, eine Zeit lang wurde sie von Leibwächtern beschützt. Die Journalistin hat aufgedeckt, wie die Drogenkartelle in ihrem Land den staatlichen Erdölgiganten Pemex ausgeplündert haben, vor allem während der Amtszeit der Präsidenten Vicente Fox (2000 bis 2006) und Felipe Calderón (2006 bis 2012). Oft waren mächtige Politiker eingeweiht und profitierten. Pérez glaubt, dass sich auch unter dem neuen Präsidenten Enrique Peña Nieto wenig ändern wird. In ihrem Buch El cártel negro (Das schwarze Kartell) zeichnet sie die Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, Pemex-Funktionären und Politikern nach. Pemex ist ein Staatskonzern, Öl und Erdgas gehören also eigentlich den Bürgern des Landes – und Mexiko ist eines der größten Ölförderländer der Welt. Dennoch profitiert vor allem die Drogenmafia von den Ölressourcen, sagt Pérez. "Die Branche bringt so gute Profite ein wie der Drogenhandel." Ihr zufolge sind praktisch alle Drogenkartelle am Raubzug beteiligt. Millionen Dollar für nicht existente Firmen Die Journalistin beschreibt im Detail, wie der große Erdölraub funktioniert. Sie zeichnet etwa nach, wie Pemex über Ausschreibungen Aufträge an ein Geflecht aus rund 20 Scheinfirmen vergab. Ein großer Teil der Unternehmen existierte gar nicht – dennoch wurden sie von Pemex-Funktionären beauftragt, Fahrzeuge, Maschinen, Bohrgeräte und Bohrlöcher in Schuss zu halten. Die Ölmanager bezahlten Rechnungen in Millionen-Dollar-Höhe für Leistungen, die offenbar nie erbracht worden waren. Gestützt wurde das illegale Netzwerk von Notaren, die gefälschte Dokumente als echt beglaubigten, und Politikern in hohen Ämtern, die ihre schützende Hand über die Beteiligten hielten. Manchmal wurden auch seriöse Unternehmen von der Drogenmafia gekapert. Im Bundesstaat Tamaulipas in Nordmexiko, wo Pérez zufolge im Jahr 2009 eine Zelle des Zeta-Kartells aufflog, die aus Pemex-Angestellten und Auftragnehmern bestand. "Ihre Tätigkeit bestand darin, Unternehmer zu entführen und zu erpressen, um ihnen ihre Firmen zu nehmen." Auch ein Anwalt sei unter den Kriminellen gewesen. Kooperation oder Tod Andernorts zapften die Kartelle Pipelines an, häufig ebenfalls unter der Mithilfe von Pemex-Angestellten oder Auftragnehmern. Das "Melken" der Rohrleitungen sei schon vorgekommen, bevor die Drogenmafia ins Geschäft einstieg, schreibt Pérez. Aber als die Bosse das Feld besetzten, hatten die Kleinkriminellen, die auf eigene Rechnung arbeiteten, keine Chance mehr. Entweder sie kooperierten, oder sie wurden aus dem Weg geräumt. Am spektakulärsten sind wohl die Fälle, in denen die Kartelle ganze Bohrplattformen vor der mexikanischen Küste abräumten – obwohl diese eigentlich durch einen militärischen Überwachungsring, Schiffspatrouillen und Kontrollflüge geschützt sein sollten. Die Mafia-Kommandos stahlen Türen, Kabel, Batterien und Kontrollpanels; Lichter, Alarmanlagen und Rohrleitungen, die kompletten Bohrvorrichtungen und sogar einen 20 Tonnen schweren Hubschrauberlandeplatz. "So kam es, dass ausgerechnet während der Amtszeit von Felipe Calderón, als man die beste Technologie und Militärintelligenz in die Erdölgebiete schickte, die Kriminellen die Plattformen erreichten", schreibt Pérez. Was für eine Ironie. Mafia-Terror im Ölfördergebiet Besonders schlimm eskalierte die Gewalt offenbar im Becken von Burgos, dem Honigtopf der mexikanischen Ölindustrie. Zeitweise sollen dort rund 40 Prozent des dort geförderten Erdgaskondensats gestohlen und auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft worden sein. Das meiste davon ging in die USA. Schwer bewaffnete Mafia-Kommandos terrorisierten die Ölarbeiter und Unternehmen, überfielen Transporte und bedrohten Sicherheitsleute, um die rasant wachsende Nachfrage zu befriedigen. Manche Förderstellen seien komplett in der Hand der Kartelle gewesen, die Ölunternehmen – Pemex, ausländische Partner oder mit ihnen verbundene Firmen – hätten ihre Angestellten teils verpflichtet, nur noch bis zum frühen Nachmittag zu arbeiten. Am Abend und in der Nacht aber gehörte das Burgos-Becken den Drogenbanden. © Augusto Romero/AFP/Getty Images Pérez beschreibt, wie Pemex in vielen Fällen seine Angestellten in der Bedrohung alleine ließ. Ob aus Angst, Überforderung oder weil die Verantwortlichen mit der Mafia unter einer Decke steckten, wird nicht klar. Aber die von der Journalistin zusammengetragenen Fakten zeigen eindrucksvoll das Ausmaß des Terrors. Pérez berichtet von Arbeitern, die ihre Vorgesetzten flehentlich baten, nicht in der gefährlichen Region arbeiten zu müssen. Sie seien dennoch geschickt worden – und später verschwunden. In einem Entführungsfall setzte ein Ölarbeiter, der sich verstecken konnte, einen Notruf an seine Vorgesetzten bei Pemex ab – ohne Reaktion. Von seinen fünf Kollegen, die mit den Mafia-Schergen gehen mussten, fehlt seither jede Spur. Die Familien fordern vergeblich Aufklärung. Von den kriminellen Aktivitäten profitierten möglicherweise auch renommierte internationale Unternehmen. Unter ihnen ist Pérez zufolge auch die deutsche BASF. Eine Tochter des Chemiekonzerns in den USA habe von den Kartellen gestohlenes Erdgaskondensat erworben, schreibt sie in ihrem Buch. Im Juni 2010 erhob die Pemex-Tochter Pemex Exploración y Producción (PEP) vor einem Gericht in Houston den gleichen Vorwurf gegen die BASF und weitere Unternehmen. Indem sie die gestohlene Ware kauften, hätten sie die Diebstähle und die Gewalt direkt gefördert, schreiben die PEP-Anwälte in der Anklageschrift. BASF teilt zu den Vorwürfen mit, der Konzern halte sich "strikt an unsere Compliance-Standards" und werde sich "mit aller Entschlossenheit gegen die irreführenden Behauptungen von Pemex zur Wehr setzen, von denen wir erwarten, dass sie sich als vollkommen haltlos erweisen werden". In einem laufenden juristischen Verfahren werde man sich nicht äußern. In zwei weiteren Anklagen brachten die Anwälte des mexikanischen Konzerns noch mehr Firmen in den USA vor Gericht. Zuletzt traf es im April 2012 unter anderem Shell und ConocoPhilips. Pérez sagt, die gesamte mexikanische Ölindustrie sei zerfressen von der organisierten Kriminalität: Pemex selbst, dessen Funktionäre und Angestellte mitmachen und davon profitieren. "Ohne sie wäre der Raub nicht möglich." Die kleinen Arbeiter, die das Öl in Flaschen auf eigene Rechnung vom Betriebsgelände schmuggeln – wo jeder klaut, gilt auch der groß angelegte Diebstahl durch die Mafia als normal. Die Spediteure, die gestohlenes Kerosin oder Gaskondensat in die USA schmuggeln, oder es über eigene Ölhandelsfirmen und Tankstellen noch in Mexiko verkaufen. Die Fahrer der Tanklastwagen, die Treibstoff laden, ohne in abzurechnen, weil sich ihnen dadurch eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit eröffnet. Die Gewerkschaftsführer, die entscheiden, wer die begehrten Fahrerjobs bekommt. Die Tankstellenpächter, die gestohlenes Benzin kaufen, es panschen und weiterverkaufen. Alle sind Komplizen der Kartelle Sie alle machen mit, weil sie selbst zur Mafia gehören, Angst um ihr Leben haben, oder schlicht mehr Geld verdienen wollen. Wo das eine beginnt und das andere aufhört, lässt sich in Pérez' Buch häufig kaum unterscheiden. Ähnlich ist es mit Polizisten, Zollbeamten und Politikern. Die Journalistin beschreibt, wie sie bestochen werden, ein regelmäßiges Gehalt von den Kartellen beziehen oder gewaltsam zur Kooperation gezwungen werden. Die alles umfassende Komplizenschaft ermögliche, dass die illegalen Geschäfte entweder gar nicht aufgedeckt würden oder in der Regel straffrei blieben – und immer noch florierten. Lange Zeit wollten die Verantwortlichen nicht zugeben, was für ein Raubzug sich da vor aller Augen abspielte. Die Herausgabe der Dokumente, auf denen ihre Recherchen basieren, musste Pérez sich gerichtlich erstreiten. "Unglücklicherweise" könne Pemex nicht garantieren, "dass es keine Beziehung unserer Arbeiter" zum organisierten Ölklau gebe, gestand der Konzernchef Juan José Suárez Coppel im Juni 2011 ein. Aber "wir kooperieren mit den Behörden in allem, was uns möglich ist." Eine Anfrage von ZEIT ONLINE hat Pemex bis zur Veröffentlichung dieses Textes nicht beantwortet. Mittlerweile erkennt Pemex das Problem aber an. Im August veröffentlichte der Konzern Daten, aus denen hervorgeht, dass das Ausmaß des Diebstahls zuletzt noch zugenommen hat. Den Zahlen zufolge sind von Januar bis Juni 2012 allein aus dem nationalen Pipeline-Netz mehr als 1,8 Millionen Fass Öl illegal abgezapft worden. Das sind 18 Prozent mehr als im Jahr zuvor. "Es war ein Fehler, so lange so zu tun, als sei nichts", sagt Pérez. "Jetzt ist ihnen das Problem über den Kopf gewachsen." Das illegale Geschäft sei "dermaßen lukrativ, dass ich nicht sehe, wie man es stoppen könnte." Zuletzt gab es sogar Berichte, denen zufolge die Kartelle mittlerweile auch jenseits der Grenze auf Raubzug gehen. In Texas sei in großem Maßstab Bohrausrüstung gestohlen worden, schrieben lokale Medien und Blogs, um später damit in Mexiko Pemex-Quellen anzuzapfen. Pérez sagt, das Ölgeschäft sei mittlerweile für die Mafia lebenswichtig. Gerade in einer Zeit, in der die Gewinne im Drogenhandel durch den unbarmherzigen Wettbewerb und Felipe Calderóns Drogenkrieg unter Druck gerieten. Sie wird möglicherweise auch künftig darüber berichten, wie die Kartelle sich an dem Staatskonzern bereichern. Die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland ist auf ein Jahr begrenzt. Danach will die Journalistin wieder in ihr Heimatland Mexiko zurück. URL: http://www.zeit.de/wirtschaft/2012-10/pemex-drogen-mafia-mexiko/komplettansicht _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

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