Dienstag, 7. Juli 2020

Streit um EU-Mindestlohn – Europäischer Gewerkschaftsbund diskutiert Vorschlag der Kommission


Dossier

MindestlohnDie neue Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat im Juli eine Initiative für einen EU-weiten Mindestlohn angekündigt. Viele Gewerkschafter aus der Staatengemeinschaft jubeln. Nicht so die schwedischen Kollegen. Deshalb gibt es Streit in der Bewegung. (…) Der skandinavischen Tradition folgend, verbaten sich die schwedischen Gewerkschaften daraufhin einen Eingriff in ihre Lohnfindungssysteme. In den nordischen Ländern wird die Rolle von Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Kapitalvertretern stark betont. Laut OECD-Statistik ist die Tarifdeckung mit 90 Prozent in Schweden besonders hoch. 65 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Daraus ergibt sich eine starke Verhandlungsposition. »Tarifverträge und individuelle Arbeitsverträge sind der einzige Weg, um zu definieren, wie ein Arbeiter für seine Arbeit bezahlt werden sollte«, befand die gewerkschaftliche Dachorganisation LO bereits 2011 in einem Dokument zur Bedeutung von Tarifverträgen. Diese Position wird von allen drei schwedischen Gewerkschaftsverbänden und darüber hinaus von breiten Teilen der politischen Landschaft geteilt. (…) Visentini argumentiert nun, die Kommission habe aus seiner Sicht keinen gesetzlichen Mindestlohn für alle EU-Staaten vorgeschlagen. Die schwedischen Kollegen hätten das falsch verstanden. (…) Dass der Ankündigung von der Leyens viel Konkretes folgt, ist allerdings, unabhängig von der Position der Gewerkschaften, fraglich. Schließlich fehlt der EU für derartige Maßnahmen die politische Kompetenz: In Paragraph 153 des EU-Vertrags, wo geregelt ist, auf welchen Gebieten die EU arbeitsmarktpolitisch aktiv werden kann, heißt es unmissverständlich: »Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.« Letztlich dürfte es sich bei von der Leyens Mindestlohnplänen daher um nicht viel mehr handeln als ein sozialpolitisches Plazebo. Die Diskussionen zeigen allerdings, welcher Sprengstoff in dem Thema steckt – und wie schwierig es für Gewerkschaften ist, auf EU-Ebene zusammenzuarbeiten.” Beitrag von Steffen Stierle bei der jungen Welt vom 12. Dezember 2019 externer Link, siehe dazu:
  • Existenzsichernde 60 Prozent. Laut einer EU-Studie liegt der Mindestlohn nur in zwei Staaten über Armutsniveau New
    “Es wird gestritten um den Mindestlohn – nicht nur hierzulande, sondern fast überall in Europa. In Großbritannien, Frankreich, Spanien, Bulgarien, Kroatien und Polen zum Beispiel fordern Gewerkschaften die Anhebung der Lohnuntergrenze um zehn bis 30 Prozent, in Italien und Zypern wird ihre gesetzliche Einführung diskutiert. »Allen Mindestlohninitiativen der Gewerkschaften geht es im Kern darum, die bestehenden Mindestlöhne auf ein armutsfestes und existenzsicherndes Niveau anzuheben«, heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Studie, die die beiden Mindestlohnexperten Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) und Torsten Müller vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) im Auftrag der Linkspartei im Europaparlament erstellten. All diese nationalen Kämpfe führten dazu, dass sich nun auch auf europäischer Ebene über den Mindestlohn unterhalten wird. Nach Angaben der Herausgeberin der Studie, der Linkspartei-Europaabgeordneten Özlem Alev Demirel, zeigt die Arbeit von Schulten und Müller, wie drängend das Problem von »Armut trotz Arbeit« in der EU sei. Schon jetzt lebten EU-weit 20,5 Millionen Beschäftigte in einem von Armut bedrohten Haushalt. Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise drohe diese Zahl sogar noch weiter zuzunehmen. Ziel einer EU-Initiative müsse sein, »alle Mindestlöhne auf ein Niveau oberhalb der relativen Armutsschwelle von 60 Prozent des nationalen Brutto-Medianlohns anzuheben«, so Demirel. (…) Notwendig dafür sind natürlich starke Gewerkschaften. »Die meisten Länder mit sektoralen Mindestlohnregimen verfügen über ein umfassendes Tarifvertragssystem und eine sehr hohe Tarifbindung zwischen 80 und 90 Prozent der Beschäftigten«, heißt es in der Studie. In Deutschland etwa sind es nur noch 54 Prozent. Es sei »die Aufgabe der Gewerkschaften, durch Interessensvertretung und Organisation Lohnabhängiger in Arbeitskämpfen gute Tarifverträge durchzusetzen«, schreibt denn auch Demirel. »Doch durch die Liberalisierung des Binnenmarktes, steigende Konkurrenz und hegemoniale neoliberale Politik wurden die Voraussetzungen hierfür immer schwieriger.«” Beitrag von Simon Poelchau bei neues Deutschland vom 30. Juni 2020 externer Link
  • Paradigmenwechsel? Debatte um gerechten Mindestlohn für jeden EU-Bürger 
    “In Deutschland verdient ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der zum Mindestlohn bezahlt wird, brutto 1.557 Euro. In Bulgarien betrug der Mindestlohn auf den Monat gesehen 286 Euro. Eine Initiative der EU-Kommission verspricht mehr Gerechtigkeit. (…) Niemand strebt derzeit einen EU-Mindestlohn, also gleiches Geld für Arbeitnehmer in den EU-Staaten an. (…) Nicht einmal ein einheitlicher Mechanismus zur Etablierung von Mindestlöhnen ist geplant. Klar ist ferner, dass die Kommission „nationale Traditionen“ und die Tarifautonomie nicht antasten will. In ihrem Konsultationspapier steckt die EU-Kommission erst einmal das Feld ab. So stellt sie etwa fest, dass in manchen Mitgliedstaaten die Anpassung bestehender Mindestlöhne gesetzlich kaum geregelt und schwer vorhersehbar sei. Vor diesem Hintergrund will die Behörde sondieren, ob und welche Aktivitäten der EU sich die Sozialpartner vorstellen können. Daraufhin würde gegebenenfalls eine zweite Konsultation Meinungen zum möglichen Inhalt eines EU-Vorschlags einholen. (…) So viel Zurückhaltung hat einen Grund: Es ist Artikel 153 des Lissabon-Vertrages. Er ist ein scharfes Schwert der Gegner einer EU-Regelung, darunter die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Sie erklärte schon im Sommer 2019, dass der Lissabon-Vertrag „ausdrücklich eine EU-Zuständigkeit für Lohnfragen“ ausschließe. Tatsächlich regelt Artikel 153 das Tätigwerden der EU-Ebene bei der Unterstützung und Ergänzung nationaler Sozialpolitik. Doch das, so der Vertragsartikel in Absatz 5, „gilt nicht für das Arbeitsentgelt“. Den Artikel kann man allerdings auch anders lesen, entgegnet Thorsten Schulten. „Man muss ihn insbesondere ins Verhältnis zur EU-Grundrechtecharta setzen“, erklärt der Professor an der Universität Tübingen. „Und die Grundrechtecharta bestimmt rechtsverbindlich angemessene Arbeitsbedingungen, zu denen das Lohnniveau gehört“, erläutert Schulten, der auch das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung leitet, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehört. „Außerdem will die Kommission ihre aktuelle Initiative auf Artikel 153, Absatz 1 stützen, die ihr die Möglichkeit gibt, die Tätigkeit der Mitgliedsstaaten auch auf dem Gebiet der ‚Arbeitsbedingungen‘ zu unterstützen.“ (…) Je nachdem, ob und für welche Mindestlohn-Strategie sich von der Leyen und ihre Kommissare entscheiden, sind sie auf die EU-Mitgliedsländer und das Europaparlament angewiesen. Dort gehen die Ansichten auseinander…” Beitrag von Phillipp Saure vom 11. Februar 2020 bei MiGAZIN externer Link
  • EU will einheitliche Regeln für Mindestlöhne – die meisten Gewerkschaften in Europa sind dafür 
    “Die EU-Kommission erwägt neue Regeln für Mindestlöhne: Eine Möglichkeit wäre, dass dieser 60 Prozent des Medianeinkommens eines Landes betragen muss. Das könnte dazu führen, dass die Lohnuntergrenze in einigen Staaten steigen muss – auch in Deutschland. Alle Probleme löst das freilich nicht: Luxemburg hat den höchsten Mindestlohn der EU, verfehlt aber die 60-Prozent-Marke. Bulgarien erreicht sie trotz niedrigsten Mindestlohns – über die Runden kommen viele Menschen trotzdem nicht. (…) Zuständig ist Nicolas Schmit, der in seiner Heimat Luxemburg lange Arbeitsminister war und jetzt Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte ist. Kürzlich war der Sozialdemokrat für politische Gespräche in Berlin, und nicht alle Gesprächspartner dürften begeistert gewesen sein von seinen Plänen. (…) Die enorme Divergenz bei den Löhnen sei ein Problem in Europa, findet Schmit. Weil die Unterschiede bei den Löhnen größer seien als bei der Produktivität, schlägt er vor, auch die Produktivität eines Landes zum Kriterium für die Mindestlohnhöhe zu machen. Die Löhne sollten schließlich an die Produktivität gekoppelt sein. (…) Das Argument, er nehme Niedriglohnländern ihren Wettbewerbsvorteil, lässt Schmit nicht gelten. Kurzfristig seien niedrige Löhne vielleicht ein Vorteil, langfristig seien sie ein Innovationshemmnis. “Die Unternehmen sagen: Arbeit kostet nichts, warum soll ich viel in Innovation investieren?” Hinzu komme die Abwanderung junger Menschen in Staaten mit besseren Verdienstmöglichkeiten. “Wir müssen die Löhne in vielen Ländern Europas auf ein höheres Niveau bringen.” Deutschland allerdings stehe derzeit nicht im Vordergrund – sagt Schmit. Mitte Januar eröffnete die Kommission eine mehrwöchige Beratung mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – der erste Schritt im Gesetzgebungsverfahren. Die meisten Gewerkschaften in Europa sind für EU-Regeln…” Artikel von Björn Finke und Henrike Roßbach vom 28. Januar 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link
  • EU-Kommission prüft Einführung eines europäischen Mindestlohns 
    “Die Arbeitgeber laufen Sturm gegen dieses Vorhaben: Brüssel denkt über eine Untergrenze für die Bezahlung der Arbeitnehmer nach. (…) Sozialkommissar Nicolas Schmit denkt darüber nach, erstmals eine europäische Lohnuntergrenze festzulegen. „Ein EU-Rechtsrahmen für Mindestlöhne kann helfen, Ungleichheiten zu bekämpfen und einen zerstörerischen Wettlauf nach unten bei den Arbeitskosten zu vermeiden“, sagte Schmit dem Handelsblatt. Der Luxemburger folgt damit einem Auftrag der neuen EU-Kommissionspräsidentin. Ursula von der Leyen hatte bereits in ihrer Bewerbungsrede im Sommer eine europäische Regelung zum Mindestlohn angekündigt. Die Christdemokratin hatte auf diese Weise die Sozialisten im Europaparlament umworben, deren Stimmen sie für ihre Wahl an die Spitze der wichtigsten EU-Institution benötigte. Bei von der Leyens eigenen Parteifreunden kommt die Idee weniger gut an. „Ich bin kein Freund eines europäischen Mindestlohns und kann keinen Sinn darin erkennen“, beschwert sich Europaparlamentarier Markus Ferber (CSU). EU-Kommissar Schmit treibt das Vorhaben gleichwohl voran. Am kommenden Dienstag startet der Sozialdemokrat eine Konsultation bei den Sozialpartnern: Arbeitgeber und Gewerkschaften sollen Position zu einem europäischen Mindestlohn beziehen. Nach Abschluss des rund dreimonatigen Konsultationsverfahrens könnte dann im Sommer ein EU-Richtlinienentwurf zum Mindestlohn folgen. (…) Ein Einheitslohn für alle sei natürlich nicht geplant, wird in Kommissionskreisen betont. Vielmehr denkt Schmit daran, relativ zum Durchschnittslohn des jeweiligen Landes eine prozentuale Untergrenze festzulegen. Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Grüne gehen davon aus, dass diese Untergrenze bei 60 Prozent des Medianlohns, also des mittleren Einkommens, liegen müsste, um das Existenzminimum abzudecken…” Beitrag von Ruth Berschens vom 12. Januar 2020 beim Handelsblatt online externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159391

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