Donnerstag, 6. Dezember 2018

Karawane in die Vorhölle (Klaus Nilius)


Durch dieses Land bin ich geritten. An der Seite von Buffalo Bill, Wyatt Earp oder John Wayne. Im Kino oder lesend, einen Western-Roman von Zane Grey oder Louis L’Amour, von Karl May oder B. Traven in der Hand. Vor uns die Sierra Madre oder der Rio Grande, wie der Strom in den USA heißt, beziehungsweise der Rio Bravo, wie die Mexikaner ihn nennen. Kein Zaun trennte sein nördliches und sein südliches Ufer voneinander. Die Grenze war ein Strich im Sand. In dieser Region war man schon immer und überall in beide Richtungen unterwegs. Die Apachen, die Hopi, die Eroberer. Die Sheriffs und die Bandidos. Wer über den Fluss wollte, setzte sich auf sein Pferd und ritt durch die Furt.

In der Weite dieser archaischen Landschaft stand die ehemalige Missionsstation Alamo (spanisch für Pappel; siehe auch Ossietzky 22/2017, »Schlangen und Finsternis«). Sie wurde später zum Fort ausgebaut, dessen Verteidiger im texanischen Unabhängigkeitskrieg von 1835/36 von mexikanischen Truppen besiegt wurden. Was den Siegern auf Sicht auch nicht viel nützte: Im entscheidenden Krieg verlor Mexiko die Hälfte seines Staatsgebietes an den Nachbarn im Norden. Remember the Alamo. Tuscon, El Paso, Laredo, Tijuana, Yuma. Klangvolle Namen, die Sehnsucht weckten, in Country- und Western-Songs besungen. Der nie mit einem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Cormac McCarthy beschrieb in seiner Border-Trilogie »All die schönen Pferde« im »Land der Freien«, im Land der »Grenzgänger«.

Das ist lange her. Heute ist diese Region »Borderland«, Grenze zwischen den USA und Mexiko, inzwischen die berühmteste Grenze der Welt. Trump versprach, hier eine Mauer bauen zu lassen. Einen zehn Meter hohen proamerikanischen Schutzwall.

Diese 3144 Kilometer lange Grenze war im Sommer 2017 Ziel einer Reise der 1964 in Bayern geborenen Ethnologin und Schriftstellerin Jeanette Erazo Heufelder. Sie führte von Südtexas/auf mexikanischer Seite: Tamaulipas bis nach San Diego/Tijuana am Stillen Ozean. Der Berenberg Verlag hat im September die daraus entstandene literarische Reportage vorgelegt.

Ein verlegerischer Volltreffer. Der Bericht erschien zur rechten Zeit: Borderland ist seit Mitte Oktober Ziel einer schier endlosen, geschlossenen Karawane Tausender Migranten aus Honduras, El Salvador und Guatemala. Männer, Frauen und Kinder machten sich auf den langen Marsch nach Norden, auf der Flucht vor Gewalt und Armut, wie Zigtausende vor ihnen. Mitte November, als diese Zeilen geschrieben wurden, erreichten die ersten bei Tijuana/San Diego den Grenzzaun.

Heufelder beschreibt »die mythenumwobene Vergangenheit und die von Gewalt, Drogenmafias und friedlichem Miteinander geprägte Gegenwart«. Ihr Resümee: An dieser Grenzlinie »verdrängt inzwischen eine knallharte Wirklichkeit alle schöpferischen Interpretationen. Wer die Worte ›Grenze‹, ›USA‹ und ›Mexiko‹ eingibt, erhält aus dem Internet vor allem Bilder des bereits existierenden Grenzzauns in wüstenartiger Landschaft.«

Den Treck der Hoffnungssuchenden erwartet dort kein menschenfreundlicher Folksänger vom Schlage Woody Guthries, sondern ein bewaffneter Trump-Chor aus Nationalgarde, Militärpolizisten und Soldaten mit abgeändertem Liedtext: This Land Is Not Your Land. This Land Is Our Land.

Und dennoch, immer wieder schaffen es Menschen in das gelobte Land, häufig auch Kinder und Jugendliche. Der Schriftsteller Juan Pablo Villalobos, geboren 1973 in Guadalajara, Mexiko, hat für sein ebenfalls im September bei Berenberg erschienenes Buch »Ich hatte einen Traum« neun junge Protagonisten aus Guatemala, Honduras und El Salvador befragt und ihre jeweilige Geschichte aufgeschrieben. Drei von ihnen waren beim Grenzübertritt zehn, ein Mädchen 13, ein anderes 14 Jahre alt, zwei waren 15 und zwei 17.

Die Gespräche fanden in den klimatisierten Auffangzentren in den USA statt, von den Kindern »Kühlschränke« genannt: »Im Kühlschrank weiß du nie, wie spät es ist. Nicht mal, ob Tag oder Nacht. Der Kühlschrank ist die Zelle, wo du landest, wenn dich die Grenzpolizei schnappt. Sie heißt Kühlschrank, weil es da drin so kalt ist, und das einzige, was sie dir geben, ist eine Decke, die aussieht, als wäre sie aus Metall.«

In den letzten fünf Jahren sind 189.000 Minderjährige in die USA gegangen und dort als »unbegleitet« erfasst worden. »Eine Folge des Scheiterns Mittelamerikas« heißt es dazu im Nachwort des spanischen Journalisten Alberto Arce: »Sie machen sich auf den Weg zu Familienangehörigen, die bereits in den USA leben, und fliehen vor der steigenden Straßenkriminalität, vor sexueller und häuslicher Gewalt. Vor Erpressung und Korruption, die alles ersticken und die Menschen daran hindern, der Armut zu entkommen, vor der Aussichtslosigkeit, eine Arbeit zu finden oder studieren zu können. Kurz gesagt: vor der katastrophalen Lage in ihren Ländern. Oder anders ausgedrückt, sie fliehen, um ein besseres Leben zu finden.«

Allerdings: Unbegleitete Minderjährige, die ohne Erlaubnis die Grenze überqueren, dürfen nicht legal im Land bleiben: »Zehntausende Mädchen und Jungen haben sich auf die eine oder andere Weise in Illegale, in künftige Illegale, in eine Art von Illegalen oder in Menschen verwandelt, die von der Illegalität bedroht sind. Diese Nicht-Kategorie, dieser Nicht-Ort, der die ohnehin Verängstigten noch mehr verängstigt, sie schluckt, in ständige Anspannung versetzt und sie in ein festgefügtes Schema presst, schränkt Millionen von Menschen in den USA ein.«

Für die meisten von ihnen sei der Ort und ihre Zeit in den USA ein Nicht-Ort, ein Zustand, der Jahre dauern kann: »Die Vorhölle eines kollabierten Rechtssystems, das irgendwann zur Ausgabe von Aufenthaltspapieren … oder einem Abschiebebescheid führt.« Allerdings: »Zu einer Ausweisung, die niemand vollstreckt, es sei denn, die Betroffenen geraten in eine Razzia oder begehen ein Verbrechen oder werden angezeigt oder verurteilt.«

»Ich hatte einen Traum« und »Welcome to Borderland« beschreiben die Situation und Schicksale solcher Menschen, wie wir sie in den Fernsehnachrichten als quirligen Pulk auf ihrem langen Marsch sehen, unterwegs zu Trumps Zaun.


Jeanette Erazo Heufelder: »Welcome to Borderland. Die US-mexikanische Grenze«, Berenberg, 256 Seiten, 25 €. – Juan Pablo Vilalobos: »Ich hatte einen Traum. Jugendliche Grenzgänger in Amerika«, aus dem Spanischen von Carsten Regling, Berenberg, 96 Seiten, 22 €

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