Donnerstag, 6. Dezember 2018

Lenins Revolution und ein Brief aus Mexiko (Günter Buhlke)


Die seit 1910 in Mexiko tobende Revolution ging ihrem Ende entgegen. Die schlecht ausgerüsteten Bauernarmeen unter Fransisco (Pancho) Villa und Emiliano Zapata waren erschöpft. Auf allen Seiten war die Zahl der Opfer hoch. Geschichtsbücher nennen 1,5 Millionen Tote im Verlauf der Revolutionsjahre. Die Losung »Tierra y Libertad« (Land und Freiheit) trieb den Zorn und die Wut der Landarbeiter und rechtlosen Handwerker an. Aufgeklärte bürgerliche Humanisten suchten nach Konfliktlösungen.

Ende Januar 1919 ritt ein Bote Zapatas zum Seehafen von New Orleans. Sein Auftrag lautete, einen Brief an Lenin zum nächsten nach Europa abgehenden Schiff zu bringen.

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Mexiko und der UdSSR im Jahr 1974 wurde die Geschichte des Briefes der Öffentlichkeit in einem Bulletin der sowjetischen Botschaft in Mexiko D. F., bekannt gemacht. Alejandra Kollontai war die erste Botschafterin Russlands in Mexiko.

Hintergrund des Briefes waren die Revolutionen in beiden Ländern. Seit Generationen bestimmten miserable Zustände das Leben der Kleinbauern und der Landarbeiter. Nur mit bewaffneten Aktionen schien die Situation veränderbar zu sein. In beiden Staaten tobten die Kämpfe über Jahre. Ein Ende musste gefunden werden, aber wie?

Die Nachricht von Lenins Dekret »Über den Frieden« lief um die Welt. Sicher ging es im Brief Zapatas um Alternativen, vor allem aber um Voraussetzungen, den Krieg zu beenden und wie das Leben der Kleinbauern und der Landarbeiter aus eigener Kraft zu verbessern sei. Zapata sah sie für Mexiko in der Landverteilung im Rahmen des schon in Anfängen bestehenden Ejidosystems, das den Kleinbauern mehr eigenes Land verschaffen sollte. Land, das vererbbar, aber nicht verkäuflich war. Lenin sah Lösungen in der Einrichtung von Genossenschaften (Kolchosen).

Beide wollten den Bauern Landeigentum zukommen lassen, damit sie aus eigener Kraft das Leben ihrer Familien gestalten können. Ein Meinungsaustausch schien Zapata nützlich. Ob der Brief beantwortet wurde, ist nicht bekannt. Zapata wurde im April 1919, wenige Wochen nach dem Ritt des Boten, auf der Hacienda Chinameca von einem seiner politischen Gegner erschossen (John Reed, »Mexiko in Aufruhr«, Dietz Verlag Berlin). Zweifellos leitete der Brief aber die Herstellung der Beziehungen zwischen beiden Ländern ein, die 1924 vollzogen wurde.

Lenin verbesserte mit seiner Revolution das Leben der Bauern und der abhängigen Arbeiter dauerhaft. Die extreme Armut wurde aus Russland verbannt und nach Jahren der Hunger eingedämmt. Kostenlose Bildung und Gesundheitsbetreuung hielten Einzug in Russland. Kunst und Kultur erreichten einen hohen Stellenwert. Blutige konterrevolutionäre Aktionen der inneren und äußeren Reaktion konnten den sozial-alternativen Prozess in Russland nicht aufhalten. Die Rätedemokratie wurde dagegen später durch Stalin verletzt. Die Welt konnte positive wie auch negative Erfahrungen mit der russischen Revolution sammeln.

Die Revolution in Mexiko hatte der Landbevölkerung mehr Boden und Rechte und den Arbeitern gleichfalls soziale Verbesserungen gebracht. Hervorzuheben war die Verabschiedung der fortschrittlichsten bürgerlichen Verfassung der damaligen Welt 1917. Ihr bis heute heftig umstrittener Artikel 27 legt beispielsweise fest, dass der Boden Eigentum der Nation ist. Eine 51-Prozent-Klausel sollte weitere Bereiche der Grundversorgung vor dem internationalen privaten Kapitalzugriff schützen. Der Artikel 123 sicherte Rechte der Gewerkschaft, bestimmt einen Achtstundenarbeitstag, Mindestlöhne, eine Sozialversicherung für die Arbeitenden und andere Werte für die unteren Schichten der Gesellschaft.

Vieles blieb in der Papierform stecken, und die Lobby egoistischer Gruppen begann, die fortschrittliche Verfassung zu attackieren, um für sich günstigere Regeln zu erhalten. Besonders seit den 1960er Jahren haben der nordamerikanische, europäische und nationale Kapitalismus Verfassungsänderungen zu ihren Gunsten erzwungen. Im Zusammenhang mit der von Präsident Trump betriebenen Neuverhandlung des Abkommens zwischen den USA, Kanada und Mexiko (NAFTA) spielen auch abgeschwächte Regelungen der mexikanischen Verfassung (Erdöl, Landkauf et cetera) eine Rolle.

Mexiko hat gegenwärtig noch ein ganzes Paket sozialer Probleme zu lösen. Das historische Projekt eines »Buen vivir« oder Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat schwere und lange Geburtswehen.

Der Aufstand der Bauern in Chiapas 1994 war für die Politiker des Landes ein Paukenschlag. Bewusst nannten sich die Aufständigen »Zapatistas«. Eine ihrer ersten Taten war die Verbrennung der Grundbücher, die den Landbesitz der Mächtigen dokumentieren. Spanien hatte die Bücher nach der Eroberung diktatorisch und in fremder Sprache eingeführt, ohne die Rechte der Indigenas, die sie an Land, Wiesen, Seen, Wälder, Erzvorkommen hatten, anzuerkennen. Unter anderem die Gemeinschaften der Maya, Chamula, Tzeltales, Lacandones in Chiapas kämpfen um ihr originäres Eigentum.

Zwei Dekrete, zwei Welten
Mexiko stuft die Forderungen von Präsident Trump, die gemeinsame Grenze undurchlässig zu machen, und sein erstes Dekret zum Mauerbau als bedrohlich ein, weil es mexikanische Einwanderer des Landes verweist, weil es gegen den Geist der friedlichen Kooperation verstößt und ein gutes Nachbarschaftsverhältnis stört. Der US-Präsident scheint vergessen zu haben, dass die südlichen Bundesländer der USA bis 1848 mexikanische Staatsgebiete waren. Ein Krieg, ausgelöst von den USA, hatte Mexiko um etwa 46 Prozent verkleinert. Im Juli 2018 hat Lòpez Obrador, der linksverortet ist, die Präsidentenwahl gewonnen. Er tritt im Dezember sein Amt an. Kontroversen mit Trump sind vorprogrammiert.

Das erste Dekret von Lenin vor 101 Jahren leitete die Beendigung des Ersten Weltkrieges ein. Lenins Dekret ging auf die Zimmerwalder Konferenz vom 5. September 1915 zurück, wo Sozialisten aus aller Welt erneut Grundlinien zur Haltung zum Krieg beschlossen. Darunter waren auch Teilnehmer aus den USA. Der Frieden brauchte damals und heute starke Unterstützer.


Günter Buhlke hat sechs Jahre in Mexiko gelebt und gearbeitet. Aus seiner Feder stammt unter anderem das Buch »Attaché in Mexiko« (Verlag am Park).

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