Samstag, 15. September 2018

Journalismus auf der Anklagebank





Derya Okatan und Tunca Öğreten sind beide erfahrene Journalisten, die gemeinsam auf der Anklagebank sitzen. Als Journalisten, die sich mit öffentlichen Themen kritisch auseinandersetzen, haben sie mehrere Verfahren am Hals. Doch trotz dieser Tatsache schauen sie der Zukunft voller Hoffnung entgegen und arbeiten für die Pressefreiheit unter eingeschränkten Bedingungen weiter.
Derya Okatan, Journalistin und Chefredakteurin der linken Nachrichtenagentur ETHA, hat ursprünglich Tourismus studiert, aber geht seit 12 Jahren ihrer Leidenschaft nach. Sie liebt es als Journalistin zu arbeiten. Ich besuche sie in der Agentur, reiße sie förmlich von ihrer Arbeit für ein kurzes Gespräch. „Ich habe den Bezug zur Straße nie verloren, egal wie sehr die Verantwortung in der Nachrichtenagentur wächst, ich verfolge immer noch viele Nachrichten direkt als Journalistin auf der Straße“ erzählt die erfahrene Redakteurin. In den letzten Jahren erfuhr die Nachrichtenagentur sehr viel staatlichen Druck und Repressionen, sieben Mitarbeiter/-innen sind derzeit immer noch in Untersuchungshaft. Auch Derya Okatan hat als verantwortliche Chefredakteurin einige Verfahren am Hals. Zuletzt wurde sie im Dezember 2016 nach einer Razzia in Ankara festgenommen und nach Istanbul gebracht. 24 Tage lang war sie mit fünf weiteren Kollegen in Polizeigewahrsam. „Sie sagten lediglich, dass ich in Polizeigewahrsam komme. Der Staatsanwalt hatte zudem beschlossen, dass wir fünf Tage lang unsere Anwälte nicht sehen dürfen“ berichtet Okatan. Unbewusst was ihr vorgeworfen wurde verbrachte Okatan 24 Tage im Polizeipräsidium. Während sechs Journalisten verschiedener oppositioneller Nachrichtenagenturen und Zeitungen unwissend eingesperrt wurden, berichteten die regierungsnahen Zeitungen derweilen, dass sechs „Terroristen“ festgenommen wurden. Die eingesperrten Journalisten erfuhren erst am 6. Tag von ihren Anwälten, dass es sich um die gehackten Mails des Energieministers Berat Albayrak handeln könne. Da die Anwälte keinen Akteneinsicht bekommen hatten, konnten sie auch nur das weitergeben, was sie in der Presse gelesen hatten.
Die Hackergruppe Redhack hatte Ende 2016 die Gmail Adresse des Ministers Berat Albayrak, der zugleich der Schwiegersohn des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist, gehackt und 57 Tausend Mails für verschiedene Nachrichtenagenturen und Zeitungen öffentlich gemacht. „Von diesen Zehntausenden Mails haben wir nur diejenigen bearbeitet, die die Öffentlichkeit angehen. Denn unserer Meinung nach enthielten viele dieser Mails Deals und Abmachungen, die nicht rechtens, ja sogar illegal waren“ sagt Okatan sehr selbstsicher. Tatsächlich veröffentlichte die Nachrichtenagentur ETHA insgesamt sechs Nachrichten, bei denen es sich um die Erdöllieferungen der Firma Powertrans an die IS-Kämpfer in Syrien und ähnliche Themen handelte. Die Journalisten meinten einen Zusammenhang zwischen dieser Firma und des Energieministers dechiffriert zu haben und machten dies öffentlich. Okatan fügt hinzu, dass es einen unbekannten Denunzianten gegeben haben solle, der dem Polizeipräsidium eine Mail geschickt habe woraufhin das Verfahren eingeleitet wurde. „Zu Beginn war unbekannt, wer Anzeige gegen uns erstattet hat. Während der Prozesse hat sich dann der Energieminister persönlich eingeschaltet. Inzwischen nehmen seine Anwälte an den Verfahren teil und leiten regelrecht die Gerichtskammer“ gibt Okatan an.
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Die Beschuldigungen gegen die sechs Journalisten reichen von Terrorpropaganda und Terrorunterstützung bis hin zu Dechiffrierung von Staatsgeheimnissen. Die Spannbreite ist groß. „Das ist so gewollt“, meint Okatan, „denn allein wegen der veröffentlichten Nachrichten können sie uns nicht bestrafen. Wir sind Journalisten, das ist unsere Arbeit. Deshalb suchen sie andere Dinge, für die wir bestraft werden können. Die Polizisten haben allein aus diesem Grund unsere Social Media Einträge überprüft und haben mehrere Tweets in die Anklageschriften hinzugefügt“ betont die Redakteurin.
Derya Okatan selbst wird allein wegen ihrer Position in der Nachrichtenagentur zur Verantwortung gezogen. „Ich muss die Nachrichten gar nicht selbst geschrieben haben. Ich werde aufgrund meiner Position zur Rechenschaft gezogen“ erläutert sie ganz gelassen. Keine Spur von Angst und Unruhe in ihren dunkelbraunen Augen. „Ich stehe hinter allen Nachrichten die meine Mitarbeiter/-innen gemacht haben. Wir haben lediglich unseren Verantwortungen entsprechend gehandelt und haben die Öffentlichkeit informiert“ sagt sie.
Am selben Tag reise ich in ein anderes Stadtteil, nach Acıbadem, um einen weiteren angeklagten Journalisten zu treffen. Tunca Öğreten, 37 Jahre alt, arbeitet seit 16 Jahren als Journalist. Derzeit arbeitet er, wie auch vor seiner Festnahme bei diken.com.tr, ein oppositionelles Nachrichtenportal. Öğreten hat in seinem Berufsleben viele verschiedene Erfahrungen gemacht. Er war lange Zeit an Kriegs- und Krisengebieten als Reporter unterwegs. In Zeiten, wo alle westlichen Journalisten sich den Zuständen im Südosten des Landes den Rücken gedreht haben, sei er freiwillig in diese Gebiete gegangen und habe trotz lebensgefährlichen Umständen berichtet. Heute ist Tunca Öğreten Redakteur und gleichzeitig einer der Reporter des türkisch-deutschen Nachrichtenportals taz.gazete.
Er saß anders als Derya Okatan 323 Tage in Untersuchungshaft. Während drei seiner Kollegen unter Auflagen freigelassen wurden, wurde Öğreten gemeinsam mit Mahir Kanaat und Ömer Çelik festgenommen und nach Silivri, in das Hochsicherheitsgefängnis am Rande Istanbuls, geschickt. Auch er wirkt sehr selbstsicher und mutige während des Gesprächs. Er scheut sich nicht alles sehr offen und detailliert darzulegen, trotz monatelanger Haft und der Bedrohung erneut inhaftiert werden zu können.
„Wir Journalisten haben keine Verbindung zu diesen Hackergruppen. Redhack hat selbst beschlossen, wer Einsicht in diese E-Mails haben darf. Wir haben lediglich als Journalisten recherchiert, alles mit seinen Belegen niedergeschrieben und veröffentlicht“ sagt Öğreten. Er selbst habe drei Nachrichten über die Inhalte der gehackten E-Mails gemacht, bestätigt Öğreten und fügt hinzu: „Die Nachrichten wurden weder zensiert noch zurückgezogen. Sie sind heute immer noch auf der Webseite nachsehbar.“ Auch Tunca Öğreten wies in seinen Nachrichten auf das enge Verhältnis des Ministers mit der Firma Powerbanks hin. Der junge Journalist erinnert während des Gesprächs an ein Buch namens „Petrus und der Herr“ von Tolga Tanış, Washington Korrespondent der Tageszeitung Hürriyet, welcher eben dasselbe Verhältnis versuchte in seinem Buch zu bestätigen. „Tolga Tanış hatte damals auch auf dieselbe Firma hingewiesen. Da er aber keine genauen Belege hatte, hingen seine Behauptungen in der Luft. Unsere Nachrichten vervollständigten eben diese Behauptungen und dienten als Beleg“ betont Öğreten. Dass er mit seinen Nachrichten ins Visier des Staates rücken würde war dem erfahrenen Journalist bewusst, denn Albayrak war nicht nur Minister, sondern vor allem der Schwiegersohn vom Staatspräsident.
„Bei allen heiklen Nachrichten wende ich mich an meinen Anwalt und frage, ob alles rechtlich in Ordnung ist“ erklärt Öğreten. Dabei ginge es ihm vor allem darum, sich an die universellen journalistischen Kriterien zu halten, weniger darum das Risiko einer Festnahme zu verringern.
Öğreten erinnert sich daran, dass kurz vor der Veröffentlichung der Nachrichten sein Anwalt ihn auf die Risiken aufmerksam gemacht hat. „Tunca du hast einen perfekten Artikel verfasst, rechtlich sind keine Lücken vorhanden, aber wenn du das veröffentlichst wirst du verhaftet, sagte mein Anwalt. So ist es auch geschehen“ bemerkt er lächelnd. Sowohl Derya Okatan als auch Tunca Öğreten erklären immer wieder, dass sie nur ihren Job gemacht haben und aus diesem Grund reines Gewissens sind. Öğreten saß fast ein Jahr in Haft, das Erste was ihm heute in den Sinn kommt, wenn man vom Gefängnis Silivri spricht, ist die standesamtliche Trauung mir seiner Geliebten Minez, die genau acht Minuten gedauert haben soll. Nach 65 Tagen Trennung beschloß das Journalistenpaar zu heiraten, somit würde Minez Zugang ins Gefängnis erhalten und Tunca besuchen können. Für Öğreten ist die Haftzeit mit einer romantischen Geschichte verbunden, die er vielleicht später seinen Kindern erzählen wird, mehr nicht.
Beide Journalisten sind sich der politischen Lage im Land bewusst, dennoch fühlen sie sich im Namen ihres Berufes verantwortlich weiter zu arbeiten, vor allem mehr zu arbeiten, damit sich die Lage ins Bessere wendet. Denn immer noch sind 177 ihrer Kolleg/-innen in Haft, für die sie auch Gehör verschaffen wollen.

Quelle: Statement, Österreichisches Medienmagazin, Juli – August 2018

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