Sonntag, 17. Juni 2018

Explodierende Mieten treiben Menschen in Stuttgart auf die Straße. Tumulte bei Debatte im Rathaus

Demo gegen verfehlte Wohnungspolitik


Von Tilman Baur
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Immer mehr Menschen wehren sich gegen stetig steigende Mieten
Die Stimmung ist angespannt. Seit 2009 sind die Durchschnittsmieten in Stuttgart um 40 Prozent gestiegen. Längst sind es nicht mehr nur Geringverdiener und Studenten, für die eine Wohnung in der Stadt unerschwinglich geworden ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Zahl von 250 Demonstranten eher überschaubar, die sich am Donnerstag nachmittag auf dem Stuttgarter Marktplatz versammelten. Das Aktionsbündnis »Recht auf Wohnen« hatte zusammen mit dem Verdi-Bezirk Stuttgart und anderen Initiativen unter dem Motto »Wohnen ist Menschenrecht!« zu dem Protest aufgerufen.
Auf dem Marktplatz wetterte der Stuttgarter Verdi-Chef Cuno Brune-Hägele gegen die Wohnungspolitik: »Die Stadt vernachlässigt den sozialen Wohnungsbau sträflich und verscherbelt ihre eigenen Grundstücke an Investoren.« Tausende Wohnungen stünden leer. Selbst die Mieten der städtischen Wohnungsbaugesellschaft SWSG stiegen immer weiter an, kritisierte er. Das von der Stadt erlassene Zweckentfremdungsverbot überzog der Verdi-Mann mit Häme: »Dadurch hat man sage und schreibe 42 Wohnungen wieder dem Markt zugeführt.«
Als eine weitere Rednerin trat ­Adriana Rossi auf. Ende April hatte sie mit ihrer Familie eine von zwei leerstehende Wohnungen eines Hauses im Süden Stuttgarts besetzt, das einem englischen Investor gehört. Die Aktion hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Ende Mai war die Wohnung von einer Gerichtsvollzieherin unter Polizeischutz zwangsgeräumt worden. Rossi bedankte sich für die Solidarität, die viele ihr entgegengebracht hätten: »Ohne diese Unterstützung hätten wir nicht so lange durchgehalten.« Gleichzeitig übte sie scharfe Kritik. »An der Wohnkatastrophe verdienen sich Banken dumm und dämlich«, so Rossi.
Eine Zielscheibe der Kritik war das Immobilienunternehmen Vonovia. Eine Mieterin berichtete, das Unternehmen modernisiere derzeit ihr Haus und habe eine Mieterhöhung von mehr als 50 Prozent angekündigt. »Ich kann keine Nacht mehr ruhig schlafen. Viele im Haus fragen sich, wo sie jetzt noch hin sollen«, sagte sie.
Zeitgleich fand im Rathaus eine von Tumulten begleitete Generaldebatte zum Thema Wohnen statt. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) musste seine Rede gleich mehrmals unterbrechen, weil Aktivisten auf den Zuschauerrängen ihren Unmut mit Pfiffen und Zwischenrufen kundtaten. Kuhns Debattenbeitrag machte einmal mehr deutlich, warum das Thema Wohnen in seiner Zeit als Oberbürgermeister – seit 2012 – so eskalieren konnte. »Ich möchte den privaten Vermietern danken, die sich bei Sanierungen und Mieterhöhungen im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft bewegen«, so seine Worte.
Kuhn läuft Gefahr, sogar von der CDU links überholt zu werden. Deren Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat, Alexander Kotz, hat jüngst eine 150 Millionen Euro teure Wohnraumoffensive ins Spiel gebracht, die die Ausweisung von Bauland auf bislang unbebauten Flächen sowie eine massive Wohnbebauung entlang des Neckars beinhaltet. Einen Verbündeten könnte er in der SPD finden, deren Fraktionschef Martin Körner sagte, er finde es hochproblematisch, dass Kuhn gegen jeglichen Neubau polemisiere. Linken-Politiker Tom Adler fasste die Gemengelage so zusammen: »Das Ergebnis der Politik in Stuttgart ist: Menschen mit kleinem Geldbeutel müssen raus aus der Stadt, Menschen mit hohen Einkommen dürfen rein.«
Nach der Demo am Donnerstag abend besetzten etwa 100 Aktivisten ein leerstehendes Haus im Stadtbezirk Bad Cannstatt. Wie zuvor angekündigt, räumten sie es jedoch bis Mitternacht wieder.

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