Donnerstag, 21. Juni 2018

Rentner als Ressource


Zum Start der Fußball-WM verkündet russische Regierung »Reform« der Altersvorsorge

Von Reinhard Lauterbach
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Karger Zuverdienst. Eine alte Frau verkauft Blumen in Sankt Petersburg
Bei einer »Reform« der russischen Altersversorgung werde er »ganz akkurat« vorgehen, hat Wladimir Putin bei öffentlichen Auftritten in den letzten Jahren formelhaft zu beruhigen gesucht. Ganz akkurat war dann am Schluss zumindest das Timing: Am selben Tag, an dem die Fußball-WM eröffnet wurde und Russland im Eröffnungsspiel Saudi-Arabien mit 5:0 vom Platz fegte, brachte die Regierung das langerwartete Gesetz in die Staatsduma ein.
Die geplanten Neuregelungen sollen es ermöglichen, von 2019 an über eine Frist von zehn Jahren bei Männern und 15 Jahren bei Frauen das Renteneintrittsalter anzuheben: von 55 auf 63 Jahre bei Frauen, von 60 auf 65 bei Männern. Alle zwei Jahre soll ein Jahrgang ein Jahr später in Rente gehen. Das Reformtempo ist also höher als etwa in der BRD, die sich für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre 24 Jahre Zeit ließ. Freilich soll es auch weiter Ausnahmen geben: Wer mehr als 30 Jahre (Frauen) bzw. 35 Jahre (Männer) sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, soll nur einen Teil der Verschiebung des Rentenalters zu spüren bekommen. Die praktischen Auswirkungen dürften sich in den ersten Jahren in Grenzen halten. Auch heute arbeiten große Teile der Generation, die offiziell schon in Rente ist, weiter: teils sogar in ihren alten Berufen, teils irgendwo als Nachtwächter oder Aufpasser im Museum. Das ist auch eine Reaktion auf das mit aktuell etwa 40 Prozent des letzten Einkommens nicht besonders hohe Rentenniveau.
Die »Reform« wird offiziell mit den üblichen »demographischen« Argumenten begründet: der steigenden Lebenserwartung. Sie hat sich nach katastrophal niedrigen Werten von 55 Jahren bei Männern und 63 bei Frauen zum Amtsantritt von Wladimir Putin 2000 inzwischen tatsächlich wieder deutlich erhöht: auf 68 Jahre bei Männern und 75 bei Frauen. Bis 2028 erwarten die russischen Statistiker eine Lebenserwartung von 75 Jahren bei Männern und 85 bei Frauen, aber das ist natürlich eine Wunschrechnung. Sie setzt insbesondere voraus, dass die von Putin angekündigten Verbesserungen im Gesundheitssystem greifen und die Einkünfte der Rentner halbwegs stabil gehalten werden können.
Netzhocker
Der Verweis auf die angestoßene Änderung des Gesundheitswesens verweist auf den wirklichen Grund: Die Zuschüsse zur Rentenkasse verzehren derzeit etwa ein Drittel des russischen Staatshaushalts. Wenn also Putins ehrgeiziges Programm zur Modernisierung der Volkswirtschaft greifen soll, dann müssen die Ressourcen dafür irgendwo hergeholt werden. Gleichzeitig ist das neue Gesetz aber auch eine Antwort auf die Krise des sehr neoliberal zugeschnittenen Rentensystems, das Putin 2002 in seiner ersten Amtszeit eingeführt hatte. Eine Antwort, die das Problem lösen soll, indem dem System zusätzliche Einkünfte verschafft werden. Denn die Kombination aus einer aus dem Staatshaushalt finanzierten Grundrente, einer aus den geleisteten Beitragsjahren berechneten zweiten Komponente und einem Element »privater Vorsorge« war mit der Wirtschaftskrise 2008 in die Krise geraten. Bei sinkenden Einkünften hatten die Russen die private Altersvorsorge für nachrangig erklärt, daran haben auch staatliche Zuschüsse nichts geändert. Außerdem werden nach wie vor erhebliche Teile des Einkommens von Lohnabhängigen »im Briefumschlag« gezahlt und entgehen so der Beitragspflicht. Einige Jahre lang hatte der in den guten Jahren der hohen Ölpreise gefüllte »Fonds für nationale Wohlfahrt« erlaubt, das System über Wasser zu halten. Aber jetzt ist dieser Topf leer, und ein Durchstarten der russischen Wirtschaft ist kurzfristig nicht zu erwarten.
Dass Putin seinen Segen für die vom liberalen Wirtschaftsflügel der Regierung seit Jahren geforderte Verlängerung der Lebensarbeitszeit lange verweigert hat, liegt an der politischen Brisanz dieses Schritts. 2005 hatten die Liberalen schon einmal versucht, Sachleistungen für Rentner – etwa Freifahrten im Nahverkehr – zu »monetarisieren«, also durch einmalige Geldzahlungen zu ersetzen, die alsdann der Inflation zum Opfer fallen sollten. Das löste damals Protestdemonstrationen im ganzen Land aus, und Putin nahm die Maßnahme zurück. Vermutlich, um solchen Protesten vorweg zu begegnen, verkaufte der für die Rentenreform unmittelbar verantwortliche Ministerpräsident Dmitri Medwedjew die Verlängerung der Lebensarbeitszeit als Voraussetzung dafür, die Bezüge der Rentner erhöhen zu können. Es stehen allerdings nur eher symbolische 1.000 Rubel (140 Euro) im Jahr in Aussicht.
Gegen die Pläne hat sich trotz des WM-Hypes schnell eine breite Protestkoalition gebildet. Unabhängige Gewerkschaften kündigten eine Unterschriftensammlung an, an verschiedenen Orten Russlands gingen Rentner und linke Aktivisten spontan zu Protesten auf die Straße. Auch den vom Westen gehätschelten Alexej Nawalny trieb es in Nowosibirsk auf die Straße. Für eine Beimischung von Demagogie wird also gesorgt sein. Für alle Fälle ließ Putin seinen Sprecher schon einmal behaupten, der Präsident sei nicht der Urheber der Reform.

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