Sonntag, 10. Juni 2018

»China kann Krisen in eigener Regie ausbremsen«


Gespräch mit Wolfram Elsner. Marx in Beijing: Die kommunistische Führung fördert nicht nur den ideologischen Klassenkampf

Interview: Simon Zeise
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US-Thinktanks versuchen Einfluss auf die Entwicklung der Volksrepublik zu nehmen
Wolfram Elsner … war bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber am Institut für institutionelle Ökonomik und Innovationsökonomik an der Universität Bremen sowie Präsident der European Association for Evolutionary Political Economy (EAEPE)
Sie waren bis zu Ihrer Emeritierung Professor für Ökonomie an der Universität Bremen. Nun lehren Sie in China. Wohin hat es Sie dort verschlagen?
Ich habe bislang dreimal in China unterrichtet und werde im Juli den nächsten Anlauf nehmen. Insgesamt existieren 2.000 Unis in der Volksrepublik. Ich wurde an die Jilin-Universität eingeladen. Die liegt in Changchun, ein für chinesische Verhältnisse kleines Städtchen mit etwas mehr als sieben Millionen Einwohnern nordöstlich von Beijing. Es ist die Stadt, in der die deutsche Automobilindustrie in den 80ern Fuß gefasst hatte. Es gibt dort riesige Produktionsstätten von VW in Kooperation mit dem chinesischen Hersteller FAW.
Ich hatte an der Universität Bremen, an der ich jahrzehntelang gelehrt habe, zwei chinesische wissenschaftliche Mitarbeiter. Einer von ihnen ist Professor in Deutschland geworden, der andere lehrt an der Universität in Beijing und an der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Die haben ausgetüftelt, dass an der Jilin-Universität ein Lehrprogramm im Rahmen der sogenannten westlichen Heterodoxien stattfinden kann.
In Deutschland hat der Markt die Lehre weitestgehend bereinigt. Wie ist es im kommunistischen China um marxistische Diskussion an den Hochschulen bestellt?
An der Jilin gibt es einerseits eine lange marxistische Tradition. Andererseits gibt es einen Riesenangriff durch den ökonomischen Mainstream – die Neoklassik. Zahlreiche Chinesen studierten Wirtschaftswissenschaften in den USA, kamen zurück und gründeten dann Forschungsinstitute in der Volksrepublik. Das US-System wurde übernommen: US-Textbooks, amerikanisches Ranking, publiziert werden sollte nur in den Top-US-Journals.
Es sind demnach viele US-Thinktanks an chinesischen Unis etabliert?
Genau. Seit den 80ern unter der Regierungszeit Deng Xiaopings sind sie zahlreich ins Land gekommen. Die US-Institute haben ihre Top-Leute nach China geschickt. Seit der Wahl Xi Jinpings zum Präsidenten, auf dem 18. Parteitag der kommunistischen Partei, wird versucht, dagegen anzukämpfen. An der Jilin-Universität begann dieser Wandel dadurch, dass sie Wochenkurse etabliert haben, in denen 40 bis 50 junge Studenten mit heterodoxen Wissenschaftlern aus den USA und Europa zusammenkommen. Da ist alles dabei, was es im Westen an kritischer Volkswirtschaftslehre gibt: Marxismus, institutionelle, Komplexitäts- und Sozioökonomik, evolutionäre und historische Ansätze.
Werden rein theoretische Debatten geführt oder geht es auch knallhart materialistisch zu? Wird etwa der chinesische Handelskonflikt mit den USA diskutiert?
Ja. Wir veranstalten eine Woche lang einen Intensivkurs. Wir westlichen Profs sind nur die eine Hälfte der Lehrenden. Die andere Hälfte kommt aus China. Sie nehmen sehr konkrete Themen in den Lehrplan auf. Die marxistische politische Ökonomie soll angewendet werden auf das auf den Binnenmarkt orientierte neue chinesische Entwicklungsmodell und die neue Normalität der Weltwirtschaft, wie sie es nennen – darunter fallen reduzierte Wachstumsraten und eine Abkehr vom Sozialprodukt als Erfolgsmaßstab, hin zu mehrdimensionalen Wohlfahrtsmaßen. Themen, bei denen die Grünen Herzen hierzulande schneller schlagen müssten.
Sie sagten, der chinesische Präsident will den Marxismus fördern. Welche Bedeutung kommt ihm zu?
Xi ist in der zweiten Legislaturperiode. 2012 endete die Phase des zweiten Entwicklungsmodells, das auf Dengs Bestreben der Marktöffnung und Liberalisierung fußte. Der Status Chinas als verlängerte Werkbank der Welt ist damals beendet worden. Die chinesische Führung erklärte: Wir sind nun ein Land mit bescheidenem Wohlstand, das die ersten Schritte zum Sozialismus macht. Damit einher ging auch die Wiederbelebung des ideologischen Kampfes. An den Unis ist der Anteil marxistischer Grundbildung für alle erhöht worden. Früher konnte man den Kurs zur marxistischen politischen Ökonomie etwa durch die Einführung in die Militärstrategie ersetzen. Das ist vorbei. Jeder Student, egal welcher Fachrichtung, muss vier Lehrveranstaltungen in marxistischer politischer Ökonomie absolvieren.
Ich hatte die Ehre, im vergangenen Jahr eine Tafel mit dem Uni-Präsidenten zu enthüllen und eine kleine Rede zu halten, anlässlich der Neugründung eines Zentrums für sozialistische politische Ökonomie. Das heißt, da tut sich was. Es wird stärker gegen die Entpolitisierung der chinesischen Studenten gekämpft und für eine Wiederbelebung der marxistischen politischen Ökonomie. An den Unis ist das eine große Bewegung. Für die Ökonomie ist das natürlich dringend erforderlich, denn in dem Bereich gibt es ein Rieseneinfallstor zur Manipulation. Seit drei Jahren erzähle ich in China, dass sie sich abwenden müssen vom US-System. Sie müssen eigene Journals, ein eigenes Ranking aufbauen und eigene Bewertungsmaßstäbe schaffen.
Sie sagen, die Regierung versucht den Einfluss des Kapitals zu hemmen. Welche Entwicklung nimmt das Land: Geht es in Richtung Kapitalismus oder Sozialismus?
Vor sechs bis acht Jahren hätte ich den Daumen nach unten gehalten. Okay, dachte ich, die wollen den Tiger reiten. Und der Tiger wird wahrscheinlich sie reiten. Das ist die historische Erfahrung. Wer sein Land für das Kapital öffnet, wird verlieren. In den Köpfen, in den Verhaltensweisen der Individuen wird der Sozialismus untergraben. Vor drei Jahren habe ich in einer Rede an der Uni gesagt: »Ich wünsche Euch, das Ihr das schafft.« In der Zwischenzeit ist so viel passiert. Heute denke ich, der Sozialismus kommt. Er ist ganz konkret absehbar. Ich sehe heute positiv, dass der Imperialismus es nicht schaffen wird, China zu übernehmen – im Gegenteil. China wird seinen Weg gehen, in Richtung eines entwickelten Sozialismus.
Woran machen Sie die Entwicklung zum Sozialismus fest?
Ich nenne ein paar Beispiele: Es gibt kein Privateigentum an Boden, an der Natur und den Ressourcen. Selbst der größte Konzern kann in China höchstens über eine Pacht verfügen. Immer zeitlich befristet. Es gibt mittlerweile, und das hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre dramatisch geändert, einen staatlichen Produktionssektor, der nicht mehr aus den alten verkorksten Staatsunternehmen besteht, sondern enorm modernisiert und strategisch ausgerichtet wurde. Es sind heute die Unternehmen, die den Privatsektor bei Forschung und Entwicklung vor sich hertreiben.
Beijing erklärt fortwährend, den Finanzmarkt für ausländische Investoren öffnen zu wollen. Wieviel Sozialismus bleibt übrig, wenn sich Finanzhaie bedienen dürfen?
Das Finanzsystem ist streng reguliert. Meldungen, dass der Sektor für westliche Firmen und Banken geöffnet wird, sind zwar richtig, jedoch liegt dieser Anteil bei unter fünf Prozent. Beijing läuft finanziell nichts aus dem Ruder. Viele Ökonomen, etwa der politisch grün orientierte US-Wirtschaftswissenschaftler Jack Rasmus, sind der Ansicht, dass die nächste Finanzkrise nicht China treffen wird, denn China ist nicht in Dollar verschuldet. China ist nur in Yuan verschuldet und kann deshalb jede Krise in eigener Regie ausbremsen. Deshalb spielt auch die hohe Verschuldung der chinesischen Unternehmen keine bedeutende Rolle, weil sie gleichzeitig auch bedeutende Investitionen tätigen.
Ein regulierter Bankensektor macht aber noch keine neue Gesellschaft. Im Kapitalismus wird alles zur Ware. Wie ist es in China?
Mir ist das erste Mal die Kinnlade runtergefallen, als ich vor drei Jahren im Hotel eincheckte und nach dem WLAN-Code fragte. Ich wurde nur müde angelächelt. »Sie sind hier überall im WLAN«, bekam ich als Antwort. Daraufhin hab ich mich schlau gemacht: Die Internetkonzerne müssen einen großen Teil ihrer Profite in die Bereitstellung der IT-Infrastruktur investieren – was nicht heißt, dass diese Typen keine Milliardäre wären. In China gibt es überall kostenloses WLAN. Du kannst über die Straße gehen und auf der Seite von Baidu – das US-Pendant Google gibt es natürlich nicht – surfen. Handy-Akkus können an U-Bahn-Stationen kostenlos aufgeladen werden. Alles wird bezahlt von Baidu, WeChatt und wie die IT-Konzerne alle heißen.
Kostenlos im Internet surfen, ist das der Sozialismus des 21. Jahrhunderts?
Nicht nur. Die nächste Geschichte, die mir einfällt, ist die Sozialisierung der Information. Im Westen gibt es großes Geschrei: Die Chinesen klauen unsere Patente. Dabei klauen die Chinesen ihre Patente vor allem innerhalb Chinas. Dutzende neuer Firmen im Bereich der E-Mobilität bauen nicht nur Elektrofahrräder, -mopeds und -roller sondern auch E-Autos. Meistens sind diese noch nicht für den Straßenverkehr zugelassen, sondern fahren auf Firmengeländen und Golfplätzen. Im vergangenen Jahr ist die vereinigte chinesische Automobilindustrie zur chinesischen Regierung gegangen und hat gesagt: »Hey, das sind unsere Patente, unterbindet das.« Die Regierung hat die Firmenvertreter jedoch komplett abblitzen lassen. Das war eine große Geschichte, es wurde viel in der Bevölkerung darüber gelacht. Die Regierung hat gesagt: »Klärt das unter euch. Handelt Entschädigungen aus, die gezahlt werden müssen, wenn Patente verletzt wurden. Wir machen kein Lobbying für euch.« Im Gegenteil, hat sich die Regierung eher vor die kleinen Unternehmen gestellt, die Produkte kopieren. Was bei uns »Klauen von Patenten« heißt, ist in China Strategie: Die Informationen müssen fließen und jedem bereitstehen.
Befremdlich wirkt auch, dass Milliardäre im Politbüro sitzen. Oligarchen im Zentrum der Macht, die sollen dem Imperialismus das Fürchten lehren?
Das stimmt. Da gibt es ein paar. Der Chef des Onlinelieferdienstes Alibaba, Jack Ma ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Verhältnis zur kommunistischen Partei ist. Ma hat gesagt: »Ich liebe die Partei wie meine Mutter. Aber mit meiner Mutter gehe ich nicht ins Bett.« Das zeigt die Ambivalenz eines Großkapitalisten gegenüber der Partei. Auf der anderen Seite ist es ganz klar: Was die Arbeiterschaft in China betrifft, sie ist die streikfreudigste der Welt. Auch intensitätsmäßig, also pro Kopf, nicht nur in absoluten Zahlen. Und die Streiks werden fast immer politisch unterstützt. Es sind Streiks für höhere Löhne, die in China seit Jahren um sechs bis neun Prozent jährlich steigen. Im vergangenen Jahr hat China zu den Ländern aufgeschlossen, die von der Weltbank mit mittleren Durchschnittseinkommen geführt werden. 9.000 Dollar Jahreseinkommen bezieht ein Chinese im Jahr pro Kopf. Als Ziel der Parteiführung wurde ausgegeben: Bis 2021 soll das Land über einen bescheidenen Wohlstand verfügen und damit den ersten Schritt zum Sozialismus erreicht haben. In Arbeitskämpfen geht es häufig um die Beiträge der Unternehmer zur Kranken- und Gesundheitsversicherung. Erst Ende der 90er Jahre wurde in China mit dem Aufbau einer flächendeckenden Kranken- und Rentenversicherung begonnen. Inzwischen sind 1,3 Milliarden Menschen renten- und 900 Millionen krankenversichert.
Dennoch gibt es ein großes Gefälle in der Entwicklung zwischen Stadt und Land. Bauern leben in mittelalterlichen Verhältnissen, während in den Sonderwirtschaftszonen Hightechprodukte das Straßenbild prägen. Ist das nicht ein unauflösbarer Widerspruch?
Auch das galt bis vor wenigen Jahren. Es gab Riesenprobleme mit Wanderarbeitern, die aus dem ländlich geprägten Westen kamen und mehr oder minder in den Ballungszentren an der Ostküste gestrandet sind. Das Problem war das alte Regis­trierungssystem Hukou. Nur dort, wo die Wanderarbeiter registriert waren, hatten sie auch Zugang zu Bildung und anderen öffentlichen Leistungen. 290 Millionen Menschen arbeiteten als Wanderarbeiter. Inzwischen sind es noch etwa 180 Millionen. Mehr als 100 Millionen von ihnen wurden zurückgeführt. Das Hukou wurde so geändert, dass man sich auch in den Zielorten ansiedeln kann. Die Wanderarbeiter können auch ihre Familien nachholen. In den vergangenen drei Jahren wurden zudem große Investitionen der IT-Unternehmen in ländlichen Regionen getätigt. Über Computer, Handy und WLAN soll auch im allerletzten Dorf verfügt werden. Das ist die Basis dafür, dass die Arbeiter wieder aufs Land zurückgehen. Es wurden unglaublich viele alte Industriekomplexe um Beijing und im Süden des Landes zerstört und im Westen neu aufgebaut. Es ist unglaublich, wieviel Fabrikruinen allein in den Vororten Beijings stehen. Lange steht der Schutt aber nicht rum.
Man merkt den Wandel hin zu mehr Dienstleistungen auch an der Luft in China. Vor drei Jahren hatte ich in Beijing nach einer halben Stunde Halskratzen. Als ich im vergangenen Oktober dort war, hatte ich klare Sicht.
Gewerkschaften in Deutschland erkennen chinesische Arbeitervertreter nicht an. Sie dienten nur als verlängerter Arm der kommunistischen Partei. Unternehmerverbände beklagen den wachsenden Einfluss. Gibt es noch Hoffnung für die Freiheit der Lohnabhängigen?
Die Gewerkschaften sind nicht die treibende Kraft bei den Streiks. Zum großen Teil sind es die betrieblichen Parteigruppen, zum Teil sind es aber auch die Beschäftigten selber. Die Chinesen sind selbstbewusst, weil sie keine Existenzängste haben. Die deutsche Industrie klagt darüber, dass die Betriebe in China politisiert werden. Na klar. Die Partei geht in die Betriebe und ruft zu Streiks für kürzere Arbeitszeiten auf. Laut offiziellem Regierungsbeschluss sollen die Beschäftigten viereinhalb Tage arbeiten.
Die Partei hat außerdem den Entschluss gefasst, den Gini-Koeffizient, das Maß für Einkommens- und Vermögensverteilung, zu senken. China hat mit 0,46 einen für OECD-Länder ziemlich hohen Wert. Auf der Gini-Skala bedeutet eins das größte Maß der Ungleichheit und null dementsprechend gleiche Verteilung.
Wie hat sich langfristig die Einkommenschere entwickelt?
Beijing hat zwischen 1991 und 2013 mehr als 700 Millionen Menschen aus der Armut geholt. Mehr als 70 Prozent der weltweiten Armutsreduktion ist in China passiert. 2021 soll es im Land keine Armut mehr geben. Offiziell leben heute noch 80 Millionen arme Menschen im Land. Der chinesische Armutsindikator ist schärfer gefasst als der der Weltbank. Die Weltbank definiert Armut mit einem Einkommen von 1,90 Dollar am Tag. Beijing setzt die Definition bereits bei 2,90 Dollar an. Bis sich der Gini-Koeffizient als hochaggregiertes Maß verändert, müssen schon etliche Milliarden in die Hand genommen werden. Spektakulär finde ich das Vorhaben, die Einkommen zu begrenzen. Die Beschlusslage lautet: Der Gini-Koeffizient soll auf 0,32 sinken. Das ist ein Wert wie in den besten Jahren des sozialstaatlich regulierten Schweden. Das ist atemberaubend. Die neoliberalen Politiker im Westen sind ja nicht einmal mehr in der Lage, die kleinste Umverteilung in Gang zu bringen. Deutschland liegt auch im 0,3-Bereich, ber Tendenz steigend. Die Lebensverhältnisse in China wären dann absehbar gleicher als in der BRD.
Der kapitalistische Tiger kann also weiter von den Kommunisten geritten werden?
Ich denke, ja. Interessant ist auch, dass Beijing ein Verbot erlassen hat, unproduktive und irrationale Auslandsinvestitionen zu tätigen. Unternehmen, die ihr Geld im Ausland angelegt haben, sind gezwungen, Beteiligungen an Hotels, Kinos, Filmproduktionsfirmen, Fußballclubs und Freizeitparks abzustoßen. China ist laut OECD zudem das einzige Land der Welt, das es geschafft hat, Wüsten zurückzudrängen. In der Wüste Gobi wurde auf mehreren hundert Quadratkilometern Wald geschaffen. Xi hat einmal gesagt: »Der amerikanische Traum ist ausgeträumt. Wir träumen jetzt den chinesischen Traum.« Die Leute in China sagen mir: Jetzt merken wir endlich, dass etwas passiert. Die Korruption wird zurückgedrängt. In den vergangenen 40 Jahren wurde das immer nur versprochen.
Was können Linke in Deutschland von China lernen?
Die sollen endlich anfangen und wahrnehmen, was da abgeht. Natürlich gehen die Chinesen nicht den klassischen, eurozentrierten Weg. Das mindeste, was man erwarten darf, ist kritische Solidarität.

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