Samstag, 28. Oktober 2017

Vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge (Stephan Krull)


»Wir wissen, dass eine Vielzahl Menschen wegen einer zu hohen Stickoxid-Belastung vorzeitig stirbt. … Wir müssten also den Dieselverkehr großflächig aussperren.« Jedes Jahr sterben weltweit über 100.000 Menschen durch Dieselabgase, fast 40.000 davon durch nicht eingehaltene gesetzliche Abgaswerte, so jüngst die Ergebnisse einer Studie von Environmental Health Analytics, einer Consulting-Firma aus den USA, die sich auf die Analyse und den Zusammenhang von Umwelt- und Gesundheitsbelastungen spezialisiert hat (https://www.envhealthanalytics.com). Es war lange bekannt, dass der vor zwei Jahren ans Licht gekommene millionenfache Dieselabgasbetrug von Volkswagen und anderen Endherstellern sowie den Zuliefergiganten Bosch und Continental zusätzlich Leben kostet. Nun wissen wir, wie viele Menschen dadurch vorzeitig sterben: fast 40.000 weltweit, mehr als 11.000 in Europa.

Die Bundesregierung spielt die Problematik herunter: Am 14. September wurde die 67. Internationale Automobilausstellung IAA unter dem Titel »Zukunft erleben« eröffnet. Ehrengast Kanzlerin Merkel erklärte dort, am Diesel »führt noch auf Jahrzehnte kein Weg vorbei«. Die Autokonzerne kritisierte sie nur zaghaft: »Regelungslücken [seien] exzessiv ausgenutzt« und dadurch »Verbraucher und Behörden getäuscht und enttäuscht« worden. Als Abhilfe empfiehlt sie – ganz Fachfrau – das Aufspielen zugesagter Software-Updates auf weitere 2,8 Millionen Fahrzeuge, und sie sagt der Automobilindustrie frische Milliarden-»Beihilfen« zu. Das ist eine schlechte Tradition in diesem Land: Kurz nach der Machtübergabe an die Nazis fand vom 11. bis 23. Februar 1933 in Berlin die 23. Internationale Automobilausstellung unter dem Motto »Vollgas voraus« statt. In der Eröffnungsrede kündigte der erst kurz zuvor ernannte Kanzler Hitler steuerliche Entlastungen für Autobesitzer und großzügige Straßenbaupläne an. Aber wen wundert der Kanzlerin Milde angesichts der Millionenspenden, die umgekehrt aus der Automobilindustrie an die Regierungsparteien, aber auch an die FDP und an die Grünen fließen. Heute geht das so weit, dass Milliardäre wie die Eigentümer von BMW, die Brüder Quandt und Frau Klatten, für die Auszahlung von Subventionen sogar Gerichte bemühen lassen (FAZ, 12.9.2017).

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, der in seiner parteilichen Zusammensetzung das Parlament widerspiegelt, kam in dem von den damaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD mehrheitlich genehmigten Abschlussbericht zu Dieselgate zu dem Ergebnis, dass Stickoxide und deren betrügerische Emission epidemiologisch nicht nachweisbar zu schweren Krankheiten mit Todesfolgen führen: »Epidemiologisch ist ein Zusammenhang zwischen Todesfällen und bestimmten NO2-Expositionen im Sinne einer adäquaten Kausalität nicht erwiesen« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/12900, Seite 491). 100.000 Menschen pro Jahr weltweit als Kollateralschäden von motorisiertem Individualverkehr und extensivem Gütertransport auf der Straße – die Verkehrstoten, etwa 3000 in Deutschland allein im Jahr 2017, nicht mitgezählt. Die Inhalation von Stickstoffdioxid (NO2) ist der einzige relevante Aufnahmeweg. Die geringe Wasserlöslichkeit des NO2 hat zur Folge, dass der Stoff bis in die tiefen Bereiche der Bronchiolen vordringt. NO2 ist ein Reizgas, das Lungenödeme erzeugen kann, weitere mögliche Wirkungen können Entzündungen, Asthma und Erhöhung der Infektanfälligkeit sein.

Der Bundeskanzlerin und dem Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt ging es im Sinne der Automobilindustrie vor allem darum, Fahrverbote in den städtischen Gebieten zu verhindern, in denen die Stickstoffdioxid- und Feinstaubbelastung weit über den zugelassenen Grenzwerten liegt. Nach Recht und Gesetz müssten die Städte Fahrverbote für Dieselfahrzeuge erlassen, da diese für über 70 Prozent der Grenzwertüberschreitungen ursächlich sind. Da sie das nicht tun, klagt die Deutsche Umwelthilfe gegen diese Städte, demnächst sind erstinstanzliche Urteile zu erwarten. Einige Städte machen aber schon deutlich, dass sie nicht gewillt sind, diese Urteile auch umzusetzen. So wird das Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts vom Juli dieses Jahres, das der Deutschen Umwelthilfe als Klägerin recht gab, wohl noch vor dem Bundesverwaltungsgericht landen.

Der Hannoversche Oberbürgermeister Stefan Schostok (SPD) erklärte, ebenfalls pünktlich zur Eröffnung der IAA, ausgerechnet bei der Vorstellung eines Planes zur Luftreinhaltung (Luftreinhalte-Aktionsplan Hannover, Ratsbeschluss vom 12. Juli 2007) im hannoverschen Rathaus: »Wir wissen, dass eine Vielzahl Menschen wegen einer zu hohen Stickoxid-Belastung vorzeitig stirbt. […] Wir müssten also den Dieselverkehr großflächig aussperren, quasi eine Umweltzone mit einem undifferenzierten Dieselverbot. Das kann nicht sein.« Nicht einmal zu einer flächendeckenden Geschwindigkeitsbegrenzung kann sich Schostok durchringen. »Freie Fahrt für freie Bürger« scheint sein völlig aus der Zeit gefallenes Motto zu sein.

Werden sich Manager wie VW-Vorstand Matthias Müller und Daimler-Vorstand Dieter Zetsche und Eigentümer wie die Porsches, die Piëchs oder die Quandts eines Tages wegen millionenfacher vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu verantworten haben? Und Angela Merkel, Alexander Dobrindt, und Bürgermeister wie Stefan Schostok wegen Beihilfe dazu oder wegen unterlassener Hilfeleistung?

Die Autoindustrie muss für die Kosten des Betruges aufkommen. In den USA, wo die Autokonzerne inzwischen über 270.000 Fahrzeuge zurückkaufen mussten, wird die Hardware ausgetauscht, bevor das Auto wieder verkauft und auf die Straße gebracht oder exportiert werden kann. Die Eigentümer der Autokonzerne haben in den zurückliegenden Jahren viele Milliarden Euro als Dividenden aus den Betrieben herausgeholt. Sie sollten jetzt die Kosten tragen; ihr Vermögen ist wie bei jedem Hehler einzuziehen und für die Schadensregulierung zu verwenden. Den betrügerischen, dünkelhaften Managern der Konzerne, »Millionenverdiener in einem Milliardenspiel« (Süddeutsche Zeitung, 18.9.2017), ist die Genehmigung zur Betriebsführung zu entziehen – so wie jedem Gammelfleischproduzenten.

Dieselgate bietet die Chance, eine Verkehrswende einzuleiten. Das wollen die Konzerne übrigens auch – mit neuen Geschäftsmodellen unter dem Motto: »Wir definieren Mobilität neu.« Ein Angriff auf den Öffentlichen Personenverkehr innerstädtisch wie in der Fläche wird gestartet, um die Milliarden-Umsätze dort abzuschöpfen. Car-Sharing, Ride Hailing, Pooling Services oder Robotertaxen heißen die neuen Heilsversprechen, »die das Leben der Menschen in urbanen Räumen lebenswerter, sauberer und sicherer machen« (VW-Tochter MOIA in ihrem Internetauftritt, https://www.volkswagenag.com/de/brands-and-models/moia.html).

Voraussetzung für eine sozial-ökologische, an den tatsächlichen Bedürfnissen orientierte Verkehrswende ist, dass die Menschen sie wollen und genügend Druck auf die Regierenden ausüben: Jetzt gibt es die Möglichkeit dazu, und sie wird so oder so genutzt werden: für maximale Profite oder für zukunftstaugliche Mobilität.

Was wäre für eine sozial-ökologische Verkehrswende nötig?

Nach wie vor gilt das Konzept: vermeiden, vermindern, verlagern. Dort, wo eine veränderte Strukturpolitik Verkehr nicht vermeiden oder auf nichtmotorisierte Mobilitätsformen (zu Fuß gehen, das Fahrrad nutzen) umlenken kann, ist der öffentliche Personenverkehr auszubauen.

Dabei geht es beispielsweise um massive Investitionen in den Schienenverkehr – sowohl in der Fläche wie auch innerstädtisch, sowohl in die Trassen wie auch in den Wagenpark. Das kostet viel Geld, bringt aber Arbeit und Arbeitsplätze mit sich. Der Öffentliche Personennahverkehr sollte bedarfsgerecht getaktet und fahrscheinfrei organisiert werden, finanziert durch Bürgerticket und Nahverkehrsabgaben von Betrieben und Kaufhäusern (http://www.mobilogisch.de/41-ml/artikel/162-oepnv-nulltarif.html).

Dann muss der Bau neuer Straßen gestoppt werden – das spart viel Geld und reduziert den Verkehr. Die Erfahrung zeigt: Wo Straßen gebaut werden, kommt auch der Verkehr hin. Innerstädtisch sind große autofreie Zonen auszuweisen, in denen die Menschen sich frei bewegen und Kinder spielen können.

Der Güterverkehr muss – soweit nicht vermeidbar durch Kreislaufwirtschaft und regionales Wirtschaften – weitestgehend auf die Schiene verlagert werden. Aus vielerlei Gründen sind auch große Straßen und vor allem Dörfer und Städte, wie heute bereits in vielen europäischen Ländern, für LKWs über 7,5 Tonnen zu sperren. Die LKW-Maut ist drastisch zu erhöhen.

Die Steuerbegünstigung für Dieselkraftstoff ist zu streichen, ebenso das »Dienstwagenprivileg«, die geringe Besteuerung großer Wagen, die als Entgeltbestandteile an Angestellte vieler Firmen ausgegeben werden.

Ganz Paris wird mit Ausnahme weniger großer Straßen demnächst zur Tempo-30-Zone (Deutschlandfunk, 15.9.2017). Es sind in Deutschland Höchstgeschwindigkeiten wie in fast allen Ländern dieser Erde festzulegen: 30 Kilometer pro Stunde innerstädtisch, 90 auf Bundesstraßen und 110 auf Autobahnen. Das spart nicht nur Kraftstoff und Schallemissionen, sondern senkt signifikant die Unfallzahlen und -schäden.

Weiter geht es um Stadtplanung und Siedlungsentwicklung, um die Stadt der kurzen Wege und viele andere Teile eines umfassenden Konzeptes für die dringend erforderliche Mobilitäts- und Verkehrswende (siehe unter anderem http://stephankrull.info/2017/08/16/der-berg-kreisste-und-gebar-nicht-mal-eine-maus-kritik-am-dieselgipfel/#more-520 sowie https://www.greenpeace.de/verkehrswende). Es geht also um mehr als die Autoindustrie. Es geht um unser Leben, es geht darum, wie wir morgen leben wollen und leben werden. Es geht darum, der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge einen Riegel vorzuschieben. Es geht um Menschen statt um Profite.

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