Samstag, 28. Oktober 2017

Riskante »Sicherheitskooperation« (Rolf Gössner)


Mit dem »menschenverachtenden Flüchtlingsdeal« (Pro Asyl) hat sich die Europäische Union einschließlich Deutschland von der autokratisch regierten Türkei abhängig und erpressbar gemacht. Der milliardenschwere Deal, der den Europäern Flüchtlinge aus Afrika und Nahost »vom Hals halten« soll, kam zustande, als sich die Türkei bereits in einer menschenrechtlich katastrophalen Entwicklung befand. Um den Deal nicht zu gefährden, reagieren Bundesregierung und EU nur selten angemessen auf Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Wo blieben die politischen Konsequenzen angesichts des eskalierenden Kriegs gegen die kurdische Bevölkerung, angesichts der politischen Verfolgung Andersdenkender, angesichts der personellen Säuberung des Staatsapparats, angesichts der massenhaften Eingriffe in Presse- und Meinungsfreiheit sowie der willkürlichen Inhaftierungen? Schließlich ist die Türkei doch Mitglied der NATO und des Europarats, immer noch EU-Beitrittskandidat sowie EU-Vertragspartner. Erst im Bundestagswahlkampf gab es klarere Ansagen aus Berlin in Richtung Ankara – ob sie aber klug und angemessen sind?

Die Bundesrepublik setzt sich seit Jahren und Jahrzehnten nicht nur unzureichend von der ausufernden Terrordoktrin des türkischen Staatsapparats ab, sie hat sich in diese »Antiterror«-Strategie regelrecht einbinden lassen. Tatsächlich haben Bundesrepublik und EU allzu lange mit der Türkei eng, unkritisch, teils willfährig kooperiert – gerade im sogenannten Antiterrorkampf. Sie haben damit Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen geleistet und die kriegerische Kurdenpolitik flankiert: so mit dem Verbot der kurdischen PKK in Deutschland und ihrem Eintrag in die EU-Terrorliste, mit zahlreichen Strafermittlungen und »Terrorismus«-Prozessen gegen kurdische Aktivisten und Vereinigungen hierzulande, mit milliardenschweren Waffenlieferungen an die Türkei – trotz prekärer Menschenrechtslage, trotz mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Unterstützung islamistischer Terrormilizen, trotz Ausnahmezustands nach dem Putschversuch.

Die Geschichte deutsch-türkischer »Sicherheitskooperation« ist lang und folgenschwer – und zwar in allen wichtigen Kooperationsbereichen:

Erstens: Das vor 24 Jahren von der Bundesregierung erlassene Betätigungsverbot für die kurdische Arbeiterpartei PKK und andere kurdische Organisationen hat viel Unheil gestiftet. Mit diesem Verbot und der Aufnahme der PKK in die EU-Terrorliste folgten Bundesrepublik und EU dem Drängen der Türkei – eines Staates, der sich selbst gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig macht und der sich daraufhin legitimiert fühlen konnte, rücksichtslos mit Unterdrückung und Staatsterror gegen Kurden und ihre Organisationen vorzugehen und allzu lange eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu torpedieren.

Trotz des Wandels, den die einst gewaltorientierte Kaderpartei PKK in Europa in Richtung einer friedlich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzogen hat, besteht ihr Verbot bis heute fort, ist sogar 2017 noch ausgeweitet worden – auf Symbole bislang legaler Gruppen. Dieses Verbot hat Zigtausende politisch aktiver Kurden, die vor Verfolgung und Folter aus der Türkei geflohen waren, hierzulande kriminalisiert – oft genug nur wegen verbaler »Taten« –, hat sie zu potentiellen Gewalttätern und gefährlichen »Terroristen« gestempelt und damit zu innenpolitischen Feinden erklärt und ausgegrenzt. Mit dem Verbot werden die Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit und damit die freie politische Betätigung massiv beschränkt. Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Vereinen, Druckereien und Redaktionen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen waren und sind an der Tagesordnung genauso wie geheimdienstliche Ausforschung und Infiltration durch Staats- und Verfassungsschutz.

Auf Grundlage des europaweit einmaligen PKK-Verbots werden in Deutschland Geld- und Freiheitsstrafen verhängt, Einbürgerungen abgelehnt, Staatsbürgerschaften aberkannt, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert, Asylanerkennungen widerrufen oder Ausweisungen verfügt. Doch längst ist das Verbot zum kontraproduktiven Anachronismus geworden und gehört nach Auffassung namhafter Bürger- und Menschenrechtsorganisationen schleunigst aufgehoben – ebenso die exekutive Ermächtigung durch die Bundesregierung zur Strafverfolgung der PKK als ausländische »terroristische Vereinigung« nach § 129b StGB. Geht es um Gewaltausübung, dann reichen die traditionellen Strafnormen völlig aus. Erst kürzlich hat ein belgisches Berufungsgericht entschieden, dass die PKK keine terroristische Organisation sei, die deshalb auch nicht mit Antiterrorgesetzen verfolgt werden könne, genauso wenig wie deren Mitglieder und Unterstützer.

Zweitens: Erst vor kurzem stellte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) die bisherige polizeiliche Zusammenarbeit mit der Türkei endlich in Frage – eine Polizeikooperation, die sich auf allen Ebenen recht intensiv gestaltete, ob Polizeiausbildung, -ausstattung, -einsatztaktik, Terrorbekämpfung, Grenzsicherung oder Datenaustausch. Doch angesichts der prekären Entwicklung in der Türkei hätte diese bilaterale Zusammenarbeit schon längst einer kritischen Überprüfung und Korrektur unterzogen werden müssen.

Wie missbrauchbar eine solche Kooperation sein kann, zeigen die Fälle des Schriftstellers Doğan Akhanli aus Deutschland und des Journalisten Hamza Yalçin aus Schweden – beide ursprünglich aus der Türkei stammend. Die türkische Regierung instrumentalisierte Interpol, um die beiden Regimekritiker in Spanien mit dem Ziel festnehmen zu lassen, sie an die Türkei auszuliefern. Interpol ist die größte Polizeiorganisation der Welt für grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit. Sie ist ein privatrechtlicher Verein, ohne völkerrechtliche Legitimation und demokratische Kontrolle. Derzeit hat Interpol 190 Mitgliedstaaten, darunter zahlreiche Diktaturen. Trotz politischer Neutralitätspflicht wird Interpol zunehmend von korrupten und autoritären Staaten dazu missbraucht, politische Dissidenten weltweit aufzuspüren, festnehmen und ausliefern zu lassen. Es ist allerhöchste Zeit, diesen gefährlichen Missbrauch zu stoppen.

Drittens: Die bundesdeutschen Geheimdienste arbeiten eng und intensiv, wenn auch nicht immer reibungslos, mit den Geheimdiensten der Türkei zusammen – handelt es sich doch unter NATO-Partnern um befreundete Dienste. Im gemeinsamen Fokus befinden sich vor allem PKK und kurdische Aktivisten.

Erst vor einem Jahr ist dem deutschen Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« ein engerer Datenaustausch mit ausländischen Sicherheits- und Geheimdienstbehörden der EU- und NATO-Staaten gesetzlich eingeräumt worden sowie das Einrichten gemeinsamer Antiterror-Dateien und Datenpools. Es geht dabei um den erleichterten Datenaustausch über mutmaßliche Terrorverdächtige und deren mögliche Kontakt- und Begleitpersonen. Hochproblematisch wird die kaum kontrollierbare Kooperation spätestens, wenn Daten von Partnerdiensten, etwa der Türkei, menschenrechtswidrig erfoltert wurden und dann hierzulande gerichtlich genutzt werden oder wenn die vom »Verfassungsschutz« übermittelten Daten in der Türkei zur politischen Verfolgung missliebiger Personen und Gruppen missbraucht werden.

Statt einer noch engeren bilateralen Kooperation ist aktuell zu fordern, die Zusammenarbeit mit türkischen Geheimdiensten auszusetzen. Die gesamte »Sicherheitskooperation« mit der Türkei gehört auf den Prüfstand und sollte auf ein unerlässliches Minimum reduziert werden.

Viertens: Der türkische Geheimdienst MIT, der in letzter Zeit erheblich aufgerüstet wurde und auch polizeiliche Vollzugsbefugnisse hat, soll hierzulande mit bis zu 6000 Agenten und freiwilligen Spitzeln zahllose Oppositionelle und Regimekritiker sowie Vereine, Schulen und sonstige Einrichtungen in großem Umfang ausspionieren, ja sogar bedrohen. Im Visier sind angebliche Anhänger der PKK sowie der Gülen-Bewegung, die die türkische Regierung für den Putschversuch im vergangenen Jahr verantwortlich macht. Nachdem die MIT dem Bundesnachrichtendienst (BND) schwarze Listen mit Hunderten von Ausforschungszielen übergeben hatte, darunter auch Firmen, sind manche Betroffene von hiesigen Sicherheitsbehörden in »Gefährdeten-Ansprachen« informiert und vor Repressionen und Reisen in die Türkei gewarnt worden.

Diese Reaktion ist gut und richtig. Auch, dass die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit für türkische Geheimdienste ermittelt. Doch die wenigen Spionage-Ermittlungen werden der Dimension geheimdienstlicher Ausforschung und der Bedrohung keineswegs gerecht. Hier müssten die Sicherheitsorgane konsequenter intervenieren, um das türkische Spitzelsystem in der Bundesrepublik zu zerschlagen – zum Schutz der Betroffenen, für den Polizei, Justiz und Regierungen Verantwortung tragen. Es kann nicht angehen, dass Kurden und Regimekritiker hierzulande in einem Klima der Angst leben oder gar um ihr Leben fürchten müssen, wie etwa der kurdische Aktivist Yüksel Koc.

Ein neues Dekret erlaubt der türkischen Regierung, in der Türkei inhaftierte Ausländer gegen Türken im Ausland auszutauschen, die dort verhaftet oder verurteilt wurden – etwa Geheimdienst-Mitarbeiter, die sich im »nationalen Interesse« der Türkei in der Bundesrepublik strafbar gemacht hatten. Vor diesem Hintergrund ist die willkürliche Inhaftierung von zahlreichen Deutschen in der Türkei besser zu verstehen: nämlich als Geiselnahme mit dem erpresserischen Ziel des Austauschs gegen inhaftierte Türken in der Bundesrepublik oder gegen hier schutzsuchende Verdächtigte. Deshalb gilt umso mehr: keine Auslieferung von Kurden, Oppositionellen und Regimekritikern an die Türkei.

Angesichts des Kriegs gegen die kurdische Bevölkerung und der katastrophalen Menschenrechtslage in der Türkei, angesichts des inakzeptablen Flüchtlingsdeals, angesichts auch der neuen Rolle der Kurden als stabilisierender Faktor im Nahen und Mittleren Osten und im Abwehrkampf gegen den IS-Terror, kommt der EU und Deutschland eine gesteigerte Verantwortung im Verhältnis zu den türkischen Sicherheitsbehörden zu sowie für eine gerechte Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Um dieser Verantwortung nachzukommen, bedarf es eines radikalen Wandels der europäischen Türkei- und Kurdenpolitik. Und dazu gehört: endlich die Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa, nicht zuletzt in Deutschland, zu beenden sowie die Menschenrechtslage in der Türkei und die kurdische Frage mit Nachdruck auf die Agenda der EU zu setzen. Einstweilen gilt: Reduzierung der deutsch-türkischen »Sicherheitskooperation« auf ein Minimum, keine Auslieferung von Kurden und Regimegegnern und sofortiger Stopp aller deutschen Rüstungs- und Waffenexporte in die Türkei – die im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung bereits eine verheerende Rolle spielten.


Rolf Gössners Beitrag ist die überarbeitete Version einer Rede, die er am 17. September im Schauspiel Köln während der öffentlichen Veranstaltung »Keine Geduld mehr!« gehalten hat. Veranstalter: Recherche International e. V. in Kooperation mit Schauspiel Köln, Kulturforum Türkei Deutschland e. V., Dialog-Kreis Türkei-Kurdistan, AWO Bezirksverband Mittelrhein e. V.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen