Freitag, 1. Februar 2019

Die Linkspartei schwankt zwischen klarer Opposition und Integration. Dabei erhält sie inzwischen erhebliche Zuwendungen aus dem Staatssäckel. Das fördert das politische Wohlverhalten

Schöne Bescherung


Von Ekkehard Lieberam
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Ein Staatsmann. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke), hier bei einem Advents- und Chanukka-Konzert in Berlin am 6.12.2018
Ekkehard Lieberam ist Soziologe und lebt in Leipzig.
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Mit der Gründung von Die Linke 2007 war nicht nur eine größere Partei, sondern eine in verschiedener Hinsicht andere Partei, eine Partei mit einem wieder kämpferischen linken Profil entstanden. Das beschränkte sich nicht auf die Programmatik. Auch in ihrer praktischen Politik trat der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit wieder deutlicher in Erscheinung. Gegenüber der PDS zeichnete sich die Linkspartei vor allem durch vier Merkmale aus:

Links, aber nicht bei Marx

Erstens: Die Linke wurde mit der Vereinigung der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) und der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) zu einer gesamtdeutschen Partei. Bereits mit der Bundestagswahl 2005 hatte die PDS.Linkspartei mit 4,9 Prozent in Westdeutschland fast die Fünfprozenthürde genommen und bei den Bundestagswahlen 2009 dann mit 8,3 Prozent deutlich überschritten. Sie vereinigte in ihren Reihen in Westdeutschland deutlich mehr linke Gewerkschafter und Bewegungsaktivisten als die PDS. Sie wurde, nicht zuletzt durch den Einzug in eine Reihe westdeutscher Landtage (derzeit: Bremen, Hamburg, Hessen, Saarland) zu einem beachtenswerten politischen Faktor.
Zweitens: Die Linke vollzog gegenüber der PDS politisch und programmatisch einen Kurswechsel nach links. Sie korrigierte die mit dem Chemnitzer Programm vom Oktober 2003 vorgenommene Entsorgung von Marxismus, Antimilitarismus, Klassen- und Kapitalismusanalyse. Zu einer sozialistischen Partei, »die wieder bei Marx« ist, wurde sie damit dennoch nicht. Die ethische Begründung sozialistischer Politik und antikapitalistischer Zielsetzung nahm sie nicht zurück, sondern sie schwächte sie nur ab. Sie bekannte sich zur Regierungsteilnahme in den Bundesländern. Aber sie grenzte sich in der Präambel ihres Programms auch bewusst von den anderen Bundestagsparteien ab, die sie als Parteien charakterisierte, »die sich devot den Wünschen der Wirtschaftsmächtigen unterwerfen«.
Drittens: Die ehemalige Mehrheitsfraktion der PDS mit ihrem Kern, dem »Küchenkabinett« von Gregor Gysi, verlor an Einfluss. Sie kontrollierte nicht mehr die Partei. Im Geschäftsführenden Parteivorstand setzte sich ein institutionell abgesichertes Arrangement der drei Hauptlager in der Partei durch. Das waren die »Reformlinke« um die Kaderorganisation »Forum Demokratischer Sozialismus«, die Zwischengruppe »Mittelerde« unter anderem um die »Emanzipatorische Linke« sowie die klassenkämpferisch organisierte Linke um AKL, KPF, »Sozialistische Linke«, »Geraer Sozialistischer Dialog« und »Cuba Sí«. Damit einher ging eine »Mäßigung« bei den Vertretern des linken Flügels und zunächst eine stärkere Geschlossenheit in der engeren Parteiführung, flankiert von betont linkem Vokabular. Ab 2013 gewann die Forderung nach »Rot-Rot-Grün« im Bund an Einfluss.
Viertens. Die Linkspartei war, mit ihrer Programmatik, mit ihrem Personalangebot sowie mit ihren an den Interessen der Lohnabhängigen orientierten Forderungen als glaubhafte linke Wahlalternative zunächst auf Erfolgskurs. In der Bundestagsfraktion gab es bis 2009 eine Doppelspitze Gregor Gysi und Oskar Lafontaine; in der Partei bis 2010 eine Doppelspitze aus Lothar Bisky und Oskar Lafontaine. Die Linke fand Anerkennung als Friedenspartei, als Protestpartei, als Partei der Prekarisierten, als Antiprivatisierungspartei, als antikapitalistische Partei mit dem Willen zur Systemveränderung. Sie verlor dann ab 2010 überall dort an Glaubwürdigkeit und Stärke, wo sie sich in den herrschenden Politikbetrieb einordnete, ihre Grundsätze zur Disposition stellte und Konzessionen an die neoliberale Politik machte. Seit 2014 machte ihr die rechtspopulistische AfD Konkurrenz als Protestpartei.
Am Tage ihres Zusammenschlusses hatte die PDS 63.385 Mitglieder, die WASG kam auf 10.500 (davon etwa 5.700 in den westdeutschen Ländern). Mit 78.046 erreichte die Mitgliederzahl der Linkspartei 2009 ihren Höhepunkt. Danach ging es bergab: 2016 waren es noch 58.910, am 31. Dezember 2017 dann wieder 62.300 Mitglieder.¹
Nicht nur die Mitgliederzuwächse, auch die Wahlerfolge erreichten 2009 ihren Höhepunkt. Bei den Bundestagswahlen 2009 votierten 5,2 Millionen für Die Linke, 2,2 Millionen mehr als für die PDS.Linkspartei 2005 und 4,4 Millionen mehr als 2002 für die PDS. Während die PDS bei der Bundestagswahl 2002 1,1 Prozent der Stimmen in Westdeutschland erhielt, waren es 2009 11,9 Prozent für Die Linke, die selbst in Bayern auf 6,5 Prozent der Zweitstimmen kam. Bei der Bundestagswahl 2013 fiel sie auf 3,8 Millionen Zweitstimmen zurück, um dann 2017 wieder auf 4,3 Millionen zu kommen.
Die Erfolgsstory der Linkspartei spielte sich vor allem in Westdeutschland ab. Im Westen zog sie in vier Landtage wiederholt ein und vorübergehend auch in die Landtage von Niedersachsen (2009) sowie Schleswig-Holstein und NRW (2010). Im Osten ging ihr Stimmenanteil gegenüber 2009 außer in Thüringen (2014) und Berlin (2018) zurück. In Sachsen-Anhalt erhielt die Linkspartei 2011 23,7 Prozent der Stimmen, 2016 16,3 Prozent. In Umfragen liegt sie derzeit bei 19 Prozent. In Berlin käme sie den Demoskopen zufolge auf erstaunliche 22 Prozent, 2016 erhielt sie 15,6 Prozent, 2011 11,7 Prozent. In Thüringen kann sie bei den Landtagswahlen im Oktober 2019 nach derzeitigen Umfragen mit 22 Prozent rechnen. 2014, als sie unter Bodo Ramelow die Landesregierung bildete, hatte sie 28,2 Prozent erhalten. Es bröckelte, aber nicht überall. Ihr prognostizierter Stimmenanteil auf Bundesebene stagniert bei neun Prozent.
Klarer wird das Bild, wenn man die Veränderungen im Wählerverhalten und im politischen Denken der letzten Jahre untersucht. Erst wenn diese vielschichtigen Verschiebungen von West und Ost (das Aufkommen der rechtspopulistischen AfD, die als Protestpartei der Linken den Rang abgelaufen hat, die enormen Verluste der SPD, die Gewinne der Grünen, die generelle Lockerung der Parteibindungen insgesamt, die erhöhte Bedeutung des Flüchtlingsthemas für Wahlentscheidungen usw.) sowie bei wichtigen Berufs- und Sozialgruppen betrachtet werden, sind die politischen Probleme, vor denen die Linke heute steht, zu erkennen.
Zum einen hat Die Linke, wie besonders die Bundestagswahl 2017 deutlich gemacht hat, im Westen bemerkenswerte Gewinne eingefahren und im Osten kontinuierlich verloren. Gegenüber 2013 konnte sie in Westdeutschland 1,8 Prozentpunkte oder fast 800.000 Wählerinnen und Wähler hinzugewinnen, in Ostdeutschland verlor sie in dieser Zeit dramatische 4,9 Prozentpunkte bzw. 270.000 Wählerinnen und Wähler. In Sachsen fuhr sie 2017 mit 16,0 Prozent gar ein schlechteres Ergebnis ein als die PDS im Jahr 2002.
Zum anderen sind der Linkspartei in einem erheblichen Maße Arbeiter und Prekarisierte davongelaufen, zugleich sind fast im gleichen Umfang Wählerinnen und Wähler aus dem akademischen Milieu hinzugekommen. Zwischen 2013 und 2017 halbierte sich die Zahl der von Erwerbslosen erhaltenen Stimmen. Lohnarbeiter wählten die Partei im Vergleich zu anderen Gruppen 2017 nicht mehr überdurchschnittlich. Geradezu dramatisch gefallen ist der Anteil der Arbeitslosen und der prekär lebenden Arbeiter (von 31 auf neun Prozent). Bei der »Arbeitnehmermitte« hat die Linke zwei Prozent verloren. Mehr als ein Fünftel der Prekarisierten hat AfD gewählt. Kompensiert wurden die Wählerverluste bei der Linkspartei durch enorme Gewinne bei der »kritischen Bildungselite«.
Bereits am 26. September 2017, zwei Tage nach den Bundestagswahlen bezeichnete Oskar Lafontaine die Verluste der Partei unter den Prekarisierten als Alarmsignal. Die Linke drohe, ihren Charakter als Partei der Lohnarbeiter zu verlieren. Die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wiesen das postwendend zurück und verweigerten sich einer Diskussion über die Ursachen der Verluste unter den Lohnarbeitern. Später ließ Riexinger erkennen, dass er mit seiner Orientierung auf verbindende Klassenpolitik dieser Entwicklung Rechnung trage.²

Anpassung an den Betrieb

Die Anpassung der Partei an den politischen Betrieb schreitet voran. Vollauf beschäftigt mit Wahlen und Parlamentsarbeit wird die Praxis außerhalb der gewählten Kammern zur Nebensache. Wahlpropaganda ist immer weniger politische Aufklärung und immer mehr politische Reklame. Das schließt die Personalisierung des Wahlkampfes ein. Als Produkt gerade auch der Klassenkämpfe gegen Hartz IV gibt es in der Linkspartei viele klassenbewusste Linke. Die Crux ist: Da sie politisch erfolgreicher ist als die PDS, ist sie den Zwängen und Versuchungen des parlamentarischen Regierungssystems auch stärker ausgesetzt.
Zum Erbe der PDS gehört ein inzwischen weiter gewachsenes Funktionärskorps, das von der Partei lebt und eigene politische Interessen entwickelt. Dieser Apparat ist Träger des Anpassungskurses. Zu dieser Gruppe gehören mittlerweile jeweils gut 40 Prozent der Parteitagsdelegierten. Unter den 44 Mitgliedern des 2018 gewählten Parteivorstands sind 31 (also gut 70 Prozent) Berufspolitiker (d. h. Abgeordnete, Fraktionsmitarbeiter, Angestellte der Partei und der Rosa-Luxemburg-Stiftung) und fünf hauptamtlich beschäftigte Gewerkschafter. Die Linkspartei ist (bald zwölf Jahre nach ihrer Gründung) eine zweite sozialdemokratische Partei, die den Klassencharakter von Staat und Politik ignoriert – mit einigen wichtigen Besonderheiten. Sie hat ein linkes, in Teilen marxistisches Programm. Ihr politischer Kurs ist nach wie vor antineoliberal und antimilitaristisch. Ein einflussreicher Flügel in dieser Partei favorisiert den außerparlamentarischen Kampf für grundlegende soziale und politische Veränderungen.
Für eine Einschätzung der Partei bleibt noch zu berücksichtigen: Auf Landesebene hat sie mittlerweile den Übergang von der Oppositionspartei zur Regierungspartei vollzogen. Unterschiede zwischen einer Reihe ihrer Landespolitiker »in Regierungsverantwortung« und den Politikern der anderen Parteien sind kaum noch zu erkennen. Auf Bundesebene verharrt die Linkspartei im Zustand einer Regierungspartei im Wartestand. Ob sich auf absehbare Zeit überhaupt eine rechnerische Mehrheit für »Rot-Rot-Grün« auf Bundesebene ergibt und die Partei dann als Preis für einige Ministerposten tatsächlich Hartz IV und Bundeswehr-Einsätze in aller Welt akzeptiert, ist ungewiss. Ein Mitregieren auf Bundesebene wird jedenfalls nicht ausgeschlossen.³
Die Wahlerfolge in Westdeutschland, ihre Stärkung als Regierungspartei und der Ausbau der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die auch außenpolitische Aufgaben der Bundesrepublik übernimmt, haben die Rolle der Linkspartei als Bestandteil des bundesdeutschen Parteienstaates gefestigt. Hier lässt sich leichter als bei der PDS Karriere machen, politisch wie beruflich. Die Partei kommt in den Genuss staatlicher Gelder, die aus unterschiedlichen Quellen inzwischen reger fließen. Politisches Wohlverhalten befördert Karrierechancen. Dabei wirkt die Integrationskraft des Parteiensystems weder automatisch noch absolut. Sowohl in der Bundestagsfraktion als auch im Bundesvorstand gibt es nach wie vor zahlreiche Politiker mit klaren antikapitalistischen und antimilitaristischen Positionen.
Schon für die PDS galt der Satz: »Eine Regierung mit ihr wird nicht unbedingt schlechter. Schlechter aber wird auf jeden Fall die Partei« (weil sie dabei Glaubwürdigkeit und Vertrauen verliert). Forderungen in der Zeit des Übergangs von der PDS zur Linkspartei, eine andere Art des »Mitregierens« zu entwickeln und mittels »roter Haltelinien« ein Abdriften hin zu den anderen neoliberalen Parteien zu verhindern, erweisen sich aus heutiger Sicht als Rauchvorhang, hinter dem die Anpassung weiterging. Auf Landes- und Bundesparteitagen schweigt dazu des Sängers Höflichkeit. Eine von der Antikapitalistischen Linken 2016 verfasste Publikation (mit einem Beitrag von Bernd Riexinger), in der fast alle Autoren das Mitregieren grundsätzlich ablehnten,⁴ enthält viele Wahrheiten. Eine Diskussion innerhalb der Partei löste sie nicht aus. Auf keinem Parteitag kam es zu einer Debatte über die Bilanz der Arbeit der Landesregierungen, an denen Die Linke sich beteiligte.

Regierungsbeteiligung

Bodo Ramelow ist der bisher einzige Chef einer von der Linkspartei geführten Landesregierung. Schon während der Koalitionsvorverhandlungen mit SPD und Bündnisgrünen hatte er am 23. September 2014 die Dämonisierung der DDR als Unrechtsstaat akzeptiert.⁵ Anders hätte er das Ticket zur Regierungsbildung sicherlich nicht erhalten. Für die Verfechter einer gerechten und differenzierten Debatte über den ersten Anlauf zum Sozialismus in Deutschland war Ramelows Haltung eine Kapitulation, die mit der abgewogenen Bewertung der DDR im Erfurter Programm von 2011 unvereinbar ist. Im Vorfeld der Thüringer Wahlen von 2019 ist zu fragen: Hat Bodo Ramelow mit dieser Kapitulation den Weg für eine andere, bessere Politik freigemacht?
Susanne Hennig-Wellsow, Landes- und Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Thüringen, hatte genau das angekündigt: Die neue Landesregierung unter Ramelow werde ein »Meilenstein linker Politik«.⁶ In der Regierungsbilanz finden sich dafür nach vier Jahren allerdings keine Belege. Neben einigen Maßnahmen, die der neoliberalen Politik ein etwas menschlicheres Antlitz verleihen, gab es Landespolitik der üblichen Art. Ramelow sagte im September 2016 die Regierungsverantwortung in Thüringen habe dazu geführt, dass »wir endlich eine Diskussion haben« über die Beendigung der Prekarisierung und darüber, dass eine Million Leiharbeiter »in eine reguläre Arbeit kommen«.⁷ Eine erstaunliche Neudefinition des Sinns linker Regierungsteilhabe! Die Beförderung der Debatte über soziale Grausamkeiten an die Stelle ihrer Beseitigung wird zum Hauptsinn des Mitregierens? Wer so erfolgreich ist, der zieht auch 2019 als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf.
Die Erfurter Landesregierung hat Anfang 2015 einen Abschiebestopp für Asylsuchende verfügt. Doch seither schiebt sie wie jede andere Landesregierung ab. Im Jahr 2017 gab es in Thüringen 657 Abschiebungen, in Sachsen-Anhalt 645. Die Landesregierung hat das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre abgesenkt. Für etwa 1.000 Langzeitarbeitslose hat sie öffentlich geförderte Arbeitsplätze geschaffen.⁸ Ihre Ankündigung, das letzte Kitajahr kostenlos zu machen, hat sie 2018 eingelöst. Sie hat, wie versprochen, mehr Lehrer eingestellt als ihre Vorgängerin (von 2015 bis 2018 1.500, gegenüber 1.200 von 2009 bis 2014), aber den Lehrermangel in Thüringen hat sie nicht behoben.
Ansonsten unterscheidet sich die Regierungspraxis nicht vom Normalmuster. Bodo Ramelow hat der neoliberalen Schuldenbremse als Eckpfeiler seiner Haushaltspolitik zugestimmt. Im Koalitionsvertrag hat er sich zu »Sozialpartnerschaft und verantwortlichem Unternehmertum« bekannt.⁹ Im Wahlprogramm der Linkspartei war noch von der Auflösung des »Landesamtes für Verfassungsschutz« die Rede. Die Regierung Ramelow hat es dann lediglich in »Amt für Verfassungsschutz« umbenannt. Sie hat das System der V-Leute reduziert, aber den Etat und die Stellenzahl erhöht. In dem Bericht des Amtes für 2015/2016 wird auch weiterhin die DKP als Organisation, die die »freiheitliche demokratische Grundordnung« gefährdet, denunziert.¹⁰
Die Thüringer Linkspartei wird 2019 einen Wahlkampf für die Fortsetzung der Landesregierung unter Bodo Ramelow führen. Nach Umfragen erhält sie derzeit 6,2 Prozent weniger Stimmen als 2014. Parteipolitiker leben oft in einer Scheinwelt. Die Linkspartei selbst ist zumindest auf Landesebene in Thüringen in dieser Scheinwelt angekommen.

Teil der Parteienbürokratie

Seit der Weimarer Republik haben die Führungen der Parlamentsparteien staatliche Aufgaben übernommen. Sie haben die staatlichen Spitzenämter besetzt, beeinflussen Staatspolitik, machen Gesetzentwürfe oder lassen sie von der Exekutive ausarbeiten. Sie kontrollieren die öffentlich-rechtlichen Medien und staatlichen Stiftungen, sitzen in den Ministerien, in der Justiz, im kommunalen Bereich, in der Bildung und Verwaltung. Sie versorgen loyale Parteimitglieder mit Arbeitsplätzen. Und es fließt eine Menge Geld aus der Staatskasse in die Parteikassen. Soweit die Linkspartei daran teilhat, gehört sie zur Parteienbürokratie.
Abgeordnete des Deutschen Bundestages erhalten seit dem 1. Juli 2018 Diäten in Höhe von 9.780.25 Euro und dazu eine Kostenpauschale von 4.418.69 Euro. Sie erhalten Geld für Büros und Mitarbeiter; die Fraktionen für Fraktionsarbeit und Fraktionsmitarbeiter. Insgesamt belaufen sich die staatlichen Ausgaben auf Bundesebene für die Parlamentsarbeit (Bundestag), einschließlich der Verwaltungskosten, jährlich auf etwa 950 Millionen Euro; die jährliche staatliche Parteienfinanzierung auf Bundesebene (vorwiegend für Wahlen) auf maximal 165 Millionen Euro (2017) und die Höhe staatlicher Zuschüsse für die Stiftungen der Parteien auf 581 Millionen Euro.¹¹
Die parlamentarische Demokratie ist vergleichbar mit einem staatlichen Großbetrieb, in dem Politiker und Mitarbeiter entsprechend ihrer Stellung in der Hierarchie Geld verdienen können und Parlamentsparteien wichtige Strukturen des staatlich und privat finanzierten Politikgeschäfts sind. Dabei ist die Vergabe von zahlreichen Beamtenposten in den staatlichen Apparaten an loyale Parteimitglieder noch gar nicht berücksichtigt.
Die Linke hat deutlich mehr Bundestagsabgeordnete als einst die PDS. Insgesamt sind derzeit 233 Abgeordnete in verschiedenen Kammern vertreten: sieben im Europaparlament, 69 im Bundestag und 157 in zehn der 16 Bundesländer. Im Jahre 2000 kam die PDS auf 194 Mandatsträger, sechs im Europaparlament, 36 im Bundestag und 152 in sechs ostdeutschen Landtagen. Die Linkspartei ist Regierungspartei in drei Ländern. Sie stellt einen Ministerpräsidenten. Über den Bundesrat kann sie Einfluss auf die Bundespolitik nehmen. Die thüringische Landesvertretung hat am 2. Mai 2017 mit ihrem Ja zum Gesetzespaket zur Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einer Privatisierung der Autobahnen den Weg geebnet. Dass dies der Bundesvorstand als »falsch« bezeichnet hat,¹² ist ehrenwert. Es zeigt den anhaltenden, aber auch folgenlosen Widerstand.
Der Kreis derer, die von der Partei leben, ist größer geworden. Er umfasst mehr als 2.300 Personen. In der PDS waren es etwa 1.000 Personen. Die Einnahmen aus der Staatskasse sind seither gewachsen. So betrugen die staatlichen Geldleistungen für die Fraktion der PDS im Jahre 1999 11,96 Millionen DM; für die Fraktion von Die Linke im Jahre 2017 13,3 Millionen Euro.¹³ An »staatlichen Mitteln« erhielt die PDS zwischen 1999 und 2003 umgerechnet 38,9 Millionen Euro, Die Linke zwischen 2013 und 2017 56,5 Millionen Euro.¹⁴ Erheblich größer geworden ist die Zahl der voll- oder teilzeitbeschäftigten Mitarbeiter im Bundestag. Im Jahre 2000 waren es bei der PDS-Fraktion 142; im Jahre 2009 bei der Bundestagsfraktion der Linkspartei 622.¹⁵ Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhöhten sich die staatlichen Gelder erheblich. Zu PDS-Zeiten gingen an die Stiftung in den Jahren 1999 und 2000 Gelder aus dem Bundeshaushalt in Höhe von 4,1 bzw. 9,5 Millionen DM. Im Jahre 2010 erhielt die RLS staatliche Zuwendungen in Höhe von 30,6 Millionen Euro, im Jahre 2017 waren es 62,1 Millionen.¹⁶

Mit sich selbst beschäftigt

Die Linkspartei schwankt zwischen weiterer Anpassung und Gegenmachtstrategie. Sie hält bei Jahrestagen die Erinnerung an das Erbe von Ferdinand Lassalle, August, Bebel und Wilhelm Liebknecht wach. Diesem Erbe und dem Parteikonzept von Marx und Engels wird sie nur unzulänglich gerecht. In ihren Wahlkämpfen knüpft sie an Interessen und Sorgen der Lohnarbeiter an. Aber ihre Ratschläge, wie diese durchzusetzen sind, bleiben matt und unzureichend, vor allem weil sie vor lauter Parlaments- und Regierungsfixiertheit nicht mehr in der Lage ist, gesellschaftliche Bewegungen dafür zu mobilisieren.
Auf dem Weg zur etablierten Partei hat sie sich bisher nicht resistenter, aber doch beweglicher verhalten als die PDS. Der Widerstand in ihr dagegen ist deutlicher, die Differenzen in ihr sind chaotischer, aber zum Teil auch grundsätzlicher. Ende der 1990er Jahre war gegen die PDS-Führung der Vorwurf erhoben worden, nun auch nach Godesberg zu wollen. Die Führung der Linkspartei hat daraus Schlussfolgerungen gezogen. Zumindest in der Programmatik gibt man sich betont links, was die punktuelle Revision linker Positionen (in der Regierungsfrage, der Friedensfrage, hinsichtlich der Einschätzung des Parteiensystems u. a. m.) nicht ausschließt.
Statt den politischen Gegner zu nerven, nervt die Führung der Partei heute vorrangig sich selbst. Sie gleicht einem Schiff auf hoher See, dessen Kompass in Richtung »Transformation« zeigt, dessen Kurs aber in Richtung Anpassung geht.
Anmerkungen
1 http//www.die-linke-de/partei/ueber-uns/mitgliederzahlen und Die Linke. wikipedia
2 Vgl. Bernd Riexinger, »Verbinden statt gegeneinander ausspielen«, ND vom 9.1.2018
3 Vgl. Hoffnung statt Angst, Wahlstrategie der Partei Die Linke – Beschluss vom 3. Dezember 2016
4 Vgl. Thies Gleiss/Inge Höger/Lucy Redler/Sascha Staninic (Hg.): Die Linke und das Regieren. Köln 2016
5 Vgl. Ekkehard Lieberam: Der Kniefall von Thüringen. Die Linke und die Unrechtsstaat-Debatte – eine Dokumentation, Bergkamen 2014, S. 12
6 Susanne Hennig-Wellsow: Mit LINKS regieren, in: dies. (Hg.): Mit Links regieren? Wie Rot-Rot-Grün in Thüringen geht, Hamburg 2015, S. 40
7 Rot-Rot-Grün?, ND (online) vom 21.9.2016
8 Vgl. In Verantwortung für Solidarität und Sicherheit, # wirmachensgerecht, Die Linke, Landesverband Thüringen, 10/2018, S. 15
9 Thüringen gemeinsam voranbringen – demokratisch, sozial, ökologisch, Koalitionsvertrag zwischen den Parteien Die Linke, SPD, Bündnis90/Die Grünen für die 6. Wahlperiode des Thüringer Landtags, Erfurt, 4. Dezember 2014, S. 5
10 Verfassungsschutzbericht, Freistaat Thüringen 2017, Pressefassung, S. 17
11 Vgl. Deutscher Bundestag, Festsetzung der staatlichen Mittel für das Jahr 2017, Stand 22. Februar 2018, PM 3, Anlage 3 und Martin Lutz, Uwe Müller: »Parteinahe Stiftungen kosten Steuerzahler 581 Millionen«, Welt vom 12.2.2018
12 Beschluss des Parteivorstandes vom 30. Juni 2017
13 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/4040 und Drucksache 19/3700, S. 13
14 Vgl. die Angaben der PDS bzw. der Linkspartei in ihren Rechenschaftsberichten über die jährlich erhaltenen staatlichen Mittel in den Jahren 1999 bis 2003 bzw. in den Jahren 2013 bis 2017
15 Vgl. Hans Herbert von Arnim: Organklage der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) gegen den Deutschen Bundestag, Anlage 7
16 Vgl. Jahresbericht 1999/2000, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 12. November 2001, S. 76 und Jahresbericht 2017, S. 86

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