Freitag, 30. November 2018

Yücel Özdemir erklärt, warum sich Erdoğan gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte so wehrt

Es geht um mehr als Demirtas’ Freiheit


  • Von Yücel Özdemir
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  • Lesedauer: 4 Min.
  • Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden hat, dass der ehemalige Co-Vorsitzende der türkisch-kurdischen Linkspartei HDP und Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş freigelassen werden muss, sind bereits zehn Tage vergangen.
    In dem Urteil vom 20. November, wird die Inhaftierung Demirtaş’ zwischen dem Referendum vom 16. April 2017 und der Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 als »Untergrabung des Pluralismus und Einschränkung einer unabhängigen politischen Debatte« bezeichnet, die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft seien. Die Türkei wurde deshalb zu einer Entschädigungszahlung verurteilt. Juristen und Wissenschaftler fordern, dass die Entscheidung des EGMR für die Türkei - wie für alle anderen Mitglieder des Europarates auch - bindend sein und umgesetzt werden müsse. Einige Juristen merkten zudem an, dass es Auswirkungen auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei haben könne, sollte das Urteil ignoriert werden. Zuletzt hatte die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei TBB zur Umsetzung des Urteils aufgerufen.
    Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitung »Evrensel«.
    Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitung »Evrensel«.
    Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül kommentierte: »Die Entscheidung liegt bei der türkischen Justiz. Der EGMR ist ein Teil der innerstaatlichen Justiz« - und legte damit zunächst keinen Widerspruch ein. Kurz darauf jedoch stelle Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan klar: »Das Urteil verpflichtet uns nicht. Wir gehen einen Schritt dagegen und beenden das Ganze.« Dies zeigt erneut: Die finale Entscheidung über solche Fälle liegt eben nicht bei der Justiz, sondern bei Erdoğan.
    Dass dieser, der sich selbst dreimal an den EGMR gewandt hat, es nun für selbstverständlich hält, das Urteil der Gerichtshofes nicht anzuerkennen, wurde in Medien und Politik intensiv diskutiert. Der Weg, auf dem er für sich selbst schon Gerechtigkeit suchte, soll seinen politischen Konkurrenten verschlossen bleiben.
    Die Statements von Selahattin Demirtaş und seinen Anwälten aus den letzten Tagen deuten darauf hin, dass die Gerichte sich nun schnell auf eine endgültige Verurteilung vorbereiten. Das ist es, was Erdoğan darunter versteht, einen »Schritt dagegen zu gehen«. Die Gerichte versuchen nun, rasend schnell die Strafe von vier Jahren und acht Monaten, zu der Demirtaş am 7. September 2018 verurteilt wurde, rechtskräftig werden zu lassen. Die Anwälte des Linkspolitikers werden indes von dem Gericht, bei dem sie seine Freilassung beantragt haben, mit der Ausrede hingehalten, dass das Urteil »noch nicht übersetzt« sei.
    Dies zeigt: Erdoğan setzt alles ist Bewegung, um Demirtaş hinter Gittern zu behalten. Warum? Seine Haftentlassung würde viel mehr bedeuten als die Wiedererlangung der Freiheit der Person Selahattin Demirtaş. Sie würde die Moral der kurdischen Bevölkerung und der fortschrittlichen Kräfte in der Türkei heben, deren Wille gewaltsam unterdrückt wird. Sie würde zeigen, dass ein »einziger Mann« nicht alles kontrollieren kann und dass Widerstand möglich ist. Neue Hoffnung würde entstehen. Diese Hoffnung könnte das Ergebnis der wichtigen Kommunalwahlen im März 2019 beeinflussen ...
    Erdoğan hat bereits jetzt angekündigt, die Stadtverwaltungen in den kurdischen Regionen wieder unter Zwangsverwaltung zu stellen, wenn ihm unliebsame Politiker gewählt werden sollten. Unter dem erst im Juni dieses Jahres aufgehobenen Ausnahmezustand wurden 94 von 102 Bürgermeistern, die größtenteils von der kurdischen Bevölkerung gewählt worden waren, entlassen und durch Stadtverwalter aus Ankara ersetzt. Es besteht das Risiko, dass wir in der vor uns liegenden Periode Ähnliches erleben werden.
    All dies geschieht in einem Land, das weiterhin ein EU-Beitrittskandidat ist. Europa ist jedoch ein stiller Zuschauer. Auch Erdoğans Widerstand gegen die Freilassung Demirtaş’ wird wohl ohne Konsequenzen bleiben. Bisher hat jedenfalls kein Land der EU auf seine Weigerung, das Gerichtsurteil anzuerkennen, ernsthaft reagiert. Dieses Schweigen ist der eigentliche Grund, weshalb Erdoğan so ungeniert agieren kann. Deshalb ist es von umso größerer Bedeutung, dass die linken Kräfte, vor allem in Deutschland, Druck auf ihre eigenen Regierungen ausüben, um die Entscheidung des EGMR in die Tat umzusetzen. Dies wäre auch ein wichtiger Schritt im Kampf für die unabhängige Justiz.
    Aus dem Türkischen von Svenja Huck
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