Der ungeliebte Interims-Präsident Michel Elias Temer Lulia ist nunmehr Regierungschef bis zur Präsidialwahl 2018. Einige Senatoren geben zu, dass sie gegen ihre Überzeugung gestimmt haben, nämlich so, wie es die extreme Hasskampagne der Medienkonzerne gegen die integre Nachfolgerin von Präsident Lula da Silva diktierte (vgl. Ossietzky 12/2016). Ihre politischen Rechte hat man Rousseff in separater Abstimmung überraschend belassen, und sie kämpft weiter. Beim Obersten Bundesgericht ist schon Beschwerde gegen das Verfahren eingelegt. Altpräsident Lula da Silva bemüht sich um eine nationale demokratische Front gegen die Regierung der Putschisten.
Laut Pressemitteilungen sind gegen 49 der 81 Senatsmitglieder Strafsachen anhängig, bislang ohne praktische Folgen. Vierzehn Jahre sozialer Ausgleich durch die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) haben deutlich gemacht, dass Brasilien nicht mehr Spielwiese der Eliten mit Offshore-Konto und obligatorischer Zweitwohnung in Miami sein kann. Lula da Silvas und Rousseffs Ausscheren aus der US-hörigen Nord-Süd-Gefolgschaft und ihre Hinwendung zur Süd-Süd-Solidarität, zur lateinamerikanischen Integration und schließlich zur BRICS-Gruppe waren logische Folge ihres Bemühens um eine multipolare, solidarische Welt. Die von Rousseff angestoßene Offensive gegen die Korruption (»Aktion Waschstraße«) pervertierte in den Händen der bourgeoisen Justiz zu einer selektiven Hexenjagd gegen die Arbeiterpartei, vor allem gegen Altpräsident Lula da Silva. Seine für 2018 angekündigte erneute Kandidatur soll unbedingt verhindert werden.
Michel Temer ist nun Präsident, obwohl wegen Parteifinanzierungsvergehen in seinem heimatlichen Bundesstaat São Paulo für acht Jahre unwählbar; weitere Korruptionsvorwürfe stehen an. Temer flieht sein Volk. Nach seiner olympischen Eröffnungsansprache von ganzen sieben Sekunden (ohne namentliche Ansage) war er mit 105 Dezibel ausgebuht worden. Keines der 18 angereisten Staatsoberhäupter (45 hatte man erhofft, bei den Olympischen Sommerspielen in London waren es 110 gewesen) akzeptierte die Ehrenplätze neben dem Usurpator, wie ihn die kritischen Medien nennen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung würden ihn wählen. Japans Regierungschef Shinzō Abe und Yuriko Koike, Gouverneurin der Präfektur Tokio, beide Gastgeber der nächsten Olympiashow, mussten sich bei der zeremoniellen Übernahme der olympischen Mission mit dem Parlamentsvorsitzenden Rodrigo Maia begnügen. Der Präsident hatte gekniffen, ein Skandalon in der Geschichte der Spiele. Temer schrieb den versetzten Japanern, sie könnten ihn ja gern in Brasilia aufsuchen.
Präsident Lula da Silva hatte seinerzeit den Olympiastandort Rio durchgesetzt, und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff bewältigte die innenpolitischen und finanziellen Hürden. Brasiliens Olympioniken führen ihre Erfolge auf die Sportförderung der PT-Regierungen zurück. Seit 2005 wurden 17.000 SportlerInnen mit insgesamt 600 Millionen R$ (rund 200 Millionen Euro) unterstützt. »Der Sport hat mein Leben verändert, für mich ist er die weltweit größte soziale Einbindung«, versichert der Ringer Davi Albino, Afro-Brasilianer und vormals Straßenkind in São Paulo (Vermelho, 9.8.16, alle Übs.: W. G.). Rafaela Silva (Goldmedaille Judo) stammt aus einer Favela (Elendsviertel) in Rio. »Rafaela – ouro na favela« (»Rafaela – Gold in der Favela«) skandierten die erstmals einbezogenen Mitbewohner. Die Sportbeihilfe ist nur eine der Errungenschaften, die nun der Sozialdemontage und Privatisierungswut der neuen Machthaber ausgeliefert sind.
»Rio 2016« war so fremdbestimmt, korporativ dirigiert und durchkommerzialisiert wie die Fußball-WM 2014, der Zugang unerschwinglich für die ärmeren Brasilianer. Die elitären Sportarten der Kolonisatoren bis hin zu Golfspiel und Reiten in Frack und Zylinder illustrierten die persistente Führungs- und Normierungshoheit der reichen Länder. Das arrogante und unsportliche Verhalten einiger US-Olympioniken gegenüber russischen SportlerInnen und dem Gastland selbst spiegelte den hegemonialen Anspruch der Supermacht im Norden. Die dennoch hochgestimmte und hoffnungsvolle Atmosphäre der Spiele war vor allem den teilnehmenden Frauen zu verdanken. Frauen sind dagegen im Kabinett Temer nicht vertreten, da gibt es nur Männer – weiße, versteht sich. Umso bedeutsamer war demgegenüber das Eintreten der Senatorinnen der Kommunistischen Partei (PCdoB) und der Arbeiterpartei (PT) für Dilma Rousseff. Sie waren Glanzlichter in der »Woche der nationalen Schande«, wie Lula da Silva die Gerichtstage im Senat etikettiert (Brasil247, 25.8.16).
In Brasilien, dem fünftgrößten Land und der neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt, leben 206 Millionen Menschen, die Hälfte aller Südamerikaner. Rousseffs ungerechtfertigte Ausschaltung bedeutet die endgültige Neokolonialisierung und den strategischen Missbrauch ganz Lateinamerikas. Sie ist im Zusammenhang zu sehen mit der fragwürdigen Wahl des US-hörigen Mauricio Macri in Argentinien (2015, er hat umgehend zwei US-Militärbasen zugesagt), mit dem CIA-Monsanto Putsch gegen Präsident Fernando Lugo in Paraguay (2012, eine Basis für die US-Airforce), mit dem anhaltenden Wirtschaftsterror gegen Venezuela, mit der Wahl des US-Bürgers Pedro Pablo Kuczynski in Peru (drei existierende US-Basen und mehrere Radarstützpunkte), mit den abstrusen Aktionen bolivianischer Bergleute, die sich auf einmal gegen Gewerkschaften und für Privatisierung stark machen, mit den unsäglichen Gräueln in Honduras und Mexiko und leider auch mit dem rätselhaften Weg, den Kuba eingeschlagen hat. Lula da Silva hatte während seiner Amtszeit der US-Regierung einen Marinestandort in Rio und die Nutzung einer Raumfahrtbasis in Alcântara (MA) verweigert (letztere flog daraufhin in die Luft). Temers Außenminister José Serra hat entsprechende Verhandlungen bereits wieder aufgenommen. Serra, selbst hochgradiger Korruption verdächtigt, gilt als »der Mann Amerikas in der Regierung« (Brasileiros, 3.6.16), der in Zukunft gegen Brasiliens BRICS-Zugehörigkeit eingesetzt wird
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