Sonntag, 8. März 2015
Wie viele Menschen hat die Bundeswehr in Afghanistan getötet?
IMI-Analyse 2015/005 - in: AUSDRUCK (Februar 2015)
von: Thomas Mickan | Veröffentlicht am: 12. Februar 2015
Die Zahl der getöteten Feinde öffentlich preiszugeben, auszuschmücken und damit die eigene militärische Potenz zu unterstreichen oder die Moral der Truppe zu erhöhen, war seit Jahrtausenden Kriegspraxis. Besondere Bekanntheit erreichte diese Praxis im Vietnamkrieg durch die US-Armee, die damit ihre Fortschritte im Krieg kennzeichnen wollte („Body Count“), da sich etwa Gebietsgewinne gegen einen asymmetrisch kämpfenden Feind als trügerisch erwiesen.[1] Ebenso trügerisch erwiesen sich jedoch in Vietnam auch die so gemeldeten Zahlen, die mitunter viel zu hoch oder zu niedrig übermittelt wurden, um entweder der eigenen Karriere einen Schub zu verleihen, tote Zivilist_innen zu vertuschen oder um schlicht die monatliche Tötungs-Quote zu erfüllen.[2] Auch in den großen Kriegen in Irak und Afghanistan zählen die USA bzw. NATO ihre getöteten Feinde, die Zahlen unterliegen jedoch der Geheimhaltung und Tötungen werden nur in Einzelfällen veröffentlicht.[3] Das sogenannte Battle-Damage-Assessment, also die Aufnahme und Auswertung der verursachten Schäden, erfüllt so internen militärstrategischen Charakter und gehört weiterhin zur aktuellen, auch deutschen Kriegspraxis.[4] Während die USA im Vietnamkrieg ihre Tötungsraten als vermeintliche Erfolgsmeldungen an die Bevölkerung weitergab, verhält sich der Fall auf deutscher Seite für den größten deutschen Krieg der Gegenwart in Afghanistan gegenteilig: Was die Tötungen durch deutsche Soldat_innen betrifft, herrscht ein großes politisches Schweigen.
Opfer des Afghanistankrieges
Ohne Frage ist es unabhängig davon wichtig, die deutschen Opfer zu benennen, auch wenn der Verzicht auf Pathos und mehr Nachdenken über die Sinnlosigkeit dieses Todes bei Trauerfeiern und politischen Sonntagsreden mehr als angebracht wären. Laut Angaben der Bundeswehr sind beim Afghanistaneinsatz (Stand 07/2014) 55 deutsche Soldat_innen gestorben, 35 von ihnen durch „Fremdeinwirkung“.[5] Unter anderem das Magazin der Spiegel hat versucht, den Gestorbenen zur Erinnerung ein Gesicht zu geben;[6] auf Wikipedia haben zahlreiche Nutzer alle Fälle genau dokumentiert[7] und das Verteidigungsministerium hat einen Wald der Erinnerungen sowie das Ehrenmal errichten lassen, um dieser Kriegsopfer zu gedenken. Zudem wird versucht, eine eigene Erinnerungskultur zu etablieren.[8]
Auch darüber hinaus zeichnet sich für Afghanistan ein trauriges Bild. Wie unter anderem Lühr Henken im „IPPNW Body Count“ für Irak, Pakistan und Afghanistan festhält, ist die Anzahl der Kriegstoten für Afghanistan unvorstellbar hoch. Bis Ende 2013 zählt Henken nach der Auswertung und Abschätzung zahlreicher Einzelstudien 184.000-248.000 direkt Getötete auf allen Seiten. Die 55 deutschen Soldat_innen gehören zu den 3.409 getöteten ISAF- oder OEF-Soldat_innen. Bis Ende Dezember 2014 stieg diese Zahl auf 3.485 Tote an.[9] Zudem starben bis Ende 2013 insgesamt 22 Journalist_innen, 281 Mitarbeiter_innen von NGOs, 3.000 private US-Sicherheitskräfte, 1.700 zivile Mitarbeiter_innen der US-Regierung, 15.000 afghanische Sicherheitskräfte sowie zwischen 106.000-170.000 afghanische Zivilpersonen! Henken führt zudem noch 55.000 direkt getötete Aufständische auf.[10] Es stellt sich insbesondere bei den letzten beiden Zahlen die Frage nach dem Ausmaß deutscher Verantwortung. Hier soll deshalb ein erster Versuch unternommen werden, eine Größenordnung der durch deutsche Soldat_innen getöteten Menschen in Afghanistan zu skizzieren.
Zivile Opfer oder Aufständische?
Schon seit Beginn des Afghanistankrieges wurde immer wieder auf den Umstand hingewiesen, dass Zivilpersonen von sogenannten Aufständischen (Opposing Militant Forces (OMF) in der Militärsprache) nur schwer zu unterscheiden seien.[11] Auch wenn diese völkerrechtliche Unterscheidung trotz der sehr weiten Auslegung etwa der USA, die alle Männer im waffenfähigen Alter mitunter als Kombattanten betrachtet,[12] alles andere als obsolet ist, so verstellt sie doch insbesondere den Blick auf die vermeintlich völkerrechtlich „legal“ getöteten Menschen, ihre Geschichten und deren Angehörige. So sind in der deutschen Debatte meistens nur dann die Medien aktiv geworden, wenn Bundeswehrangehörige Zivilist_innen erschossen haben – betraf dies jedoch wirkliche oder vermeintliche Aufständische, war dies mitunter nur eine Randnotiz wert.
Auch die institutionelle Friedensforschung ist in dieser Frage ähnlich untätig, wenn es um die Getöteten auf Seiten der Aufständischen geht. Ein gutes Beispiel hierfür ist, in einer Reihe von Afghanistanbilanzen, die Ende 2014 erschienene HSFK-Studie „Ziel verfehlt“. Darin untersuchen die beiden Autoren, wie die „internationale Präsenz die Praktiken gewaltbereiter Akteure und deren Umgang mit Zivilisten veränderte“ und wie die NATO-Kräfte das kolportierte Ziel „Zivilist_innen zu schützen“ mit ihrer eigenen Politik unterliefen und damit das eigene Ziel eben verfehlten.[13] Sie konzentrieren sich dabei auf Zivilist_innen und schauen sich neben den direkten zivilen Opfern auch indirekte, nicht beabsichtigte Folgen an und damit die Mitverantwortung der NATO an weiteren zivilen Opfern. Den Tötungen von Aufständischen durch die Bundeswehr gehen die Autoren nicht nach. Ferner reproduzieren sie das öffentliche Bild, dass deutsche Soldat_innen nicht „hart genug durchgegriffen“ hätten[14] und deshalb die US-Streitkräfte „frustriert durch die unwillige Bundeswehr“ in die Bresche sprangen. Deshalb hätte Deutschland zwar nicht viel erreicht, aber eben auch weniger direkte wie nicht-beabsichtigte zivile Opfer zu verantworten.[15] Dieser Zugang allein über die zivilen Opfer verschleiert jedoch – ob gewollt oder ungewollt – die Tötungspraxis von deutschen Soldat_innen und ist damit nur bedingt geeignet, die Dimension deutscher Verantwortung tatsächlich zu umreißen.
Dem von Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr angemahnten „Nicht-Wissen-Wollen“ durch Politik, Medien, Wissenschaft und letztlich der Öffentlichkeit gesellt sich erschwerend noch ein „Nicht-Wissen-Können“ hinzu.[16] Bei mehreren parlamentarischen Nachfragen über direkte Opfer durch Bundeswehrangehörige hüllte sich die Bundesregierung in Schweigen – es würden keine offiziellen Statistiken geführt und aufgrund der kulturellen Begebenheit, dass die Toten noch am gleichen Tag bestattet werden, wäre dies ohnehin kaum möglich.[17] Handelt es sich um Aktionen und Tötungen durch Spezialkräfte wie der Task Force 47, wird die mögliche Antwort gleich ganz unter Verschluss gestellt.[18] Auch über die Folgen der deutlichen Erhöhung von deutschen Scharfschützen zwischen 2006 und 2011 im Kampfeinsatz könne keine Aussage getroffen werden. Unter anderem der Abgeordnete Christian Ströbele bezweifelt den Wahrheitsgehalt dieses Nicht-Wissen-Könnens.[19] Es drängt sich so der Eindruck auf, dass versucht wird, das Image der brunnenbohrenden deutschen Soldat_innen nicht der kalten Kriegswahrheit zu opfern.
Dabei ist es ein fundamentaler Unterschied, ob Politiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière oder Joachim Gauck auch in einem Nebensatz vermerken, dass auch deutsche Soldat_innen töten; oder aber, ob die konkreten Umstände, Zahlen, Menschen mit ihren Geschichten zu diesen Tötungen durch die Bundeswehrangehörigen existieren. Lediglich die Getöteten zu zählen kann hier deshalb nur ein kleiner Schritt zur Wahrheit und zum Verständnis der Komplexität von Schuld und Unschuld sein. Die Ausstellung „Kunduz, 04. September 2009”[20] von Christoph Reuter und Marcel Mettelsiefen oder das Projekt „Naming the Dead“[21] des Bureaus of Investigative Journalism haben diesbezüglich Pionierarbeit geleistet, indem sie den durch westliches Militär Getöteten und deren Angehörigen ein Gesicht geben und deren Geschichten erzählen, die die Vereinfachung von schuldig und unschuldig herausfordern.
Was gezählt wurde
Um einen ersten Anhaltspunkt für durch Bundeswehrangehörige Getötete zu erhalten, egal ob schuldig oder unschuldig, Zivilist_in oder Kombattant_in, ist das Zählen der durch Medien bekannten und aufgegriffenen Fälle durch eine Internetsuche erfolgt. Besonders die Bombardierung der Tanklaster bei Kunduz ist hier einschlägig, aber auch einer der ersten Fälle, bei dem Bundeswehrsoldat_innen eine Mutter mit ihren Kindern in einem Auto bei einem Checkpoint Ende August 2008 erschossen. Dies umfasst bereits bei vorsichtiger Zählung mehr als drei Duzend Menschen, plus der wahrscheinlich 142 beim Kunduz-Bombardement Getöteten. Zusätzlich wurden noch die öffentlich zugänglichen, da geleakten und von der WAZ veröffentlichten „Unterrichtungen des Parlamentes“ (alias „Afghanistan-Papiere“) bis September 2012 ausgewertet.[22] Es zeigt sich dabei, dass zwischen 2008 und 2010 neben den presseöffentlich bereits bekannten Fällen noch mehrere Tötungen zu finden sind. Obwohl jedoch die Unterrichtungen des Parlamentes auch für die Jahre 2011 und 2012 verfügbar sind, lassen sich darin keine Belege für Tötungen mehr finden. Offensichtlich wurde die Sprachregelung für die bereits unter Verschlusssache gehaltenen und nur für die Parlamentar_innen zugänglichen Dokumente verändert: wurden insbesondere in den Jahren 2009 und 2010 genaue Zahlen für getötete Aufständische genannt, gibt es in den Folgejahren nur noch Aussagen zu zivilen und deutschen Opfern. Ein Auszug aus dem Jahr 2011 soll dies verdeutlichen:
„Am 28.12.2010 wurden deutsche Kräfte im Rahmen einer laufenden Operation rund 13 Kilometer nordwestlich von Kunduz von OMF [Opposing Militant Forces; Anmerkung T.M.] mit Handfeuerwaffen und Panzerabwehrhandwaffen (Rocket Propelled Grenade RPG) angegriffen. Die mit den eigenen Kräften operierende Luftnahunterstützung erwiderte das Feuer. Im Rahmen der weiteren Operationsführung wurden drei Schuss Mörserfeuer auf eine aufgeklärte Stellung der OMF abgegeben. Durch den Mörsereinsatz entstand kein ziviler Personen- oder Sachschaden. Auf deutscher Seite gab es keine Verwundeten und keine Schäden.“[23]
In engen Grenzen, da kaum ergiebig, wurde auch auf das Wikileaks „Afghan War Diary“ zurückgegriffen bzw. auf die öffentlich zugänglichen parlamentarischen Anfragen oder Vergleichbares.
Die verwendeten Quellen müssen daher so eingeschätzt werden, dass sie nur ein Minimum der tatsächlich Getöteten abbilden. Das betrifft nicht nur die parlamentarischen Anfragen, bei denen offensichtlich mehrere Fälle verschwiegen wurden.[24] Auch die geheimen Unterrichtungen des Parlaments entsprechen nicht immer der vollen Wahrheit. Wie bereits angesprochen, ist 2011 und 2012, vermutlich auch 2013 und 2014, keine direkte Nennung mehr von getöteten Aufständischen dort vorzufinden. Zudem zeigt die Geschichte des traumatisierten Soldaten Daniel Lücking, dass auch dieser in Kenntnis der Unterrichtungen des Parlamentes für einen Vorfall, den er selbst beobachtet hatte, in den Unterrichtungen entscheidende Lücken in Bezug auf Aufständische erkennt.[25] Auch bei einem Fall vom 5.2.2010 sind die Unterrichtungen über einen getöteten Aufständischen lückenhaft, bei dem in der Unterrichtung zwar ein weiteres ziviles Opfer, nicht jedoch der getötete Aufständische genannt wird.[26]
Zudem muss auch an der Glaubwürdigkeit der Angaben durch Soldat_innen für die jeweiligen Frontberichte mitunter gezweifelt werden. Ein unter Verschluss gehaltener Bericht des Wehrbeauftragten Helmut Königshaus vom 28.11.2011 über den Fall Shahabuddin macht dies deutlich. In ihm wurde von Soldat_innen ohne hinreichenden Feindkontakt und somit unter dem Vorspielen falscher Tatsachen, die die Einsatzregeln verletzten, Luftnahunterstützung angefordert.[27] Auch der Fall „Halmazag“, bei dem das Magazin Monitor zahlreiche weitere Tötungen aufdeckte, ist noch ein weiteres Beispiel, bei dem das Berichtswesen der Bundeswehr falsche Aussagen weitergab.[28]
Bereits im Vietnamkrieg gab es zudem eine ähnliche Praxis des Geschehenlassens wie in Shahabuddin durch Vorgesetzte und Soldat_innen im Gefecht, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern, indem immer wieder Grenzen ausgetestet und überschritten wurden. In Vietnam geschah dies auch „zur Besänftigung der Wut und Rachebedürfnisse überforderter GIs.“[29] Auch bei deutschen Soldat_innen ist bekannt, dass nach eigenen Verlusten die eigene Überforderung sich diesbezüglich ausdrückte. So berichtete etwa ein Soldat, dass er mit seinen Kamerad_innen nach den Gefallenennachrichten vereinbarte, auch auf vermeintlich gefährliche Zivilist_innen zu schießen, „die während eines Gefechtes telefonieren oder schreiend zwischen Gehöften hin und her laufen.“[30]
Was nicht berücksichtigt wurde
Für die Aufzählungen der Tötungen durch die Bundeswehr konnten aufgrund der schlechten Quellenlage zahlreiche Fälle nicht berücksichtigt werden. Die oben zitierte Stelle aus den Unterrichtungen des Parlamentes floss beispielsweise nicht mit in die Fälle ein, obwohl es klare Indizien gibt, dass auch Aufständische getötet wurden. Nicht berücksichtigt wurden auch die Fälle, in denen Bundeswehrsolat_innen andere Kamerad_innen erschossen haben. Auch keine (meist Verkehrs-)Unfälle mit der Bevölkerung, bei der Afghan_innen starben, wurden berücksichtigt, wie am 21.9.2008, als ein afghanisches Kind überfahren wurde.[31] Zwischen 2002 und 2010 gab es eine Aufstellung der Bundesregierung, der zufolge 66 Personen bei Unfällen mit Bundeswehrbeteiligung verletzt und sechs getötet wurden.[32]
Besonders problematisch sind aber die Fälle, bei der die Bundeswehr über Luftunterstützung durch RECCE Tornados agierte,[33] bei der sie Spezialkräfte einsetzte,[34] über die Panzerhaubitze 2000 schwere Geschütze benutzte[35] oder bei der sie bei der Erstellung von Tötungslisten half, wie Weihnachten 2014 bekannt wurde.[36] Diese Fälle konnten aus Mangel an Quellen nicht im größeren Umfang berücksichtigt werden. Besonders offensichtlich wird dieser Mangel an Informationen in einem groß angelegten Bericht in der Reservist_innen-Zeitschrift loyal, in dem über die Operation „Jadid“, eines der größten Gefechte der Bundeswehrgeschichte, militärbejahend berichtet wird: „Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße Phase. Im Tal des Baghlan-Flusses treten 600 Soldaten aus Bayern gegen 200 Aufständische an.“ Über durch die Bundeswehr getötete Aufständische wird kein Wort verloren, es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass auf der Seite der Aufständischen niemand getötet wurde.[37]
Eine erste Schätzung und große Zahlen
Nach Auswertung der Quellen und der Abwägung, in welchem Umfang diese zu berücksichtigen sind, muss von mindestens 126-132 getöteten Menschen durch die Bundeswehr ausgegangen werden, plus die veranschlagte Zahl von 142 Opfern des Kunduz-Bombardements. Bei den so insgesamt rund 270 getöteten Menschen sind auch jene mit erfasst, bei denen die Bundeswehr, wie auch bei den Tanklastzügen, Luftnahunterstützung erhalten hat.[38] Diese Zahl ist allerdings äußerst konservativ und beschränkt sich lediglich auf die öffentlich zugänglichen Quellen, insbesondere im Zeitraum 2009-2010. Sie ist nur eine vorläufige erste Schätzung, die sich im Rahmen einer weiteren Aufarbeitung des Afghanistankonfliktes mit großer Wahrscheinlichkeit noch um ein Vielfaches erhöhen wird.
Ein erstes Indiz für eine bessere Schätzung liefert eine psychologische Untersuchung an der TU-Dresden über posttraumatische Belastungsstörungen.[39] Unterstützt und begleitet durch die Bundeswehr – es kann also von transparenter, bundeswehrnaher Forschung gesprochen werden – befragten die Psycholog_innen Soldat_innen, die in Afghanistan gekämpft haben. Die Stichprobe wurde repräsentativ aus der Grundgesamtheit von 9617 Soldat_innen des 20. und 21. Einsatzkontingentes aus den Jahren 2009/2010 gezogen. Der Umfang der Stichprobe betrug 1599 Fälle, von denen 1483 Fälle einen Fragebogen zu ihren möglicherweise traumatisierten Erlebnissen in Afghanistan ausfüllten.[40] Aufgrund der hohen Rücklaufquote kommen die Forschenden zu dem Ergebnis, dass sie „keine bemerkenswerten Einschränkungen für die Repräsentativität der Studie für die Soldaten des ISAF-Einsatzes 2009/2010“ erkennen können.[41] Die Soldat_innen wurden beispielsweise befragt, ob sie während ihres Einsatzes mindestens einmal „zerstörte Häuser oder Dorfer gesehen“ haben. Von den 1483 Befragten beantworteten dies 1131 Personen mit Ja. Dies schließt nicht aus, dass sie nicht auch mehrmals diesem Einsatzereignis begegnet sind.
Für die Frage nach der Tötungshäufigkeit durch deutsche Soldat_innen sind insbesondere drei Items besonders interessant. Erstens wurde gefragt, wie viele Soldat_innen „auf einen Gegner gezielt oder geschossen haben“. Das beantworteten von den 1483 Personen insgesamt 432 mit Ja. Zweitens wurde gefragt, ob die Person den „Beschuss des Gegners befohlen“ hatte – von den 1483 beantworteten 197 Personen dies mit Ja. Die diskussionswürdigste Zahl ist allerdings die Frage, ob die Soldat_innen „verantwortlich für den Tod eines Gegners“ waren. Von den 1483 Befragten beantworteten 131 Personen diese Frage mit Ja. Ob zivile Personen getötet wurden, oder ob Soldat_innen mehrfach töteten, wurde nicht erfasst! Ebenso muss ein gewisser Zweifel angemeldet werden, was die Aussagekraft der Beantwortungen für jedes Item angeht, da Soldat_innen etwa im Zweifel darüber sein könnten, ob der tödliche Schuss tatsächlich von ihnen ausging. In der Summe zeigt jedoch die Untersuchung, dass im 20. und 21. Einsatzkontingent in der repräsentativen Stichprobe knapp jede/r 11. Soldat_in für den Tod eines Gegners ggf. auch mehrerer Gegner sich verantwortlich fühlt. Für das 20. und 21. Einsatzkontingent wären dies fast 1000 Tötungen. Diese Aussage ist dabei jedoch mit großer Vorsicht zu betrachten und entspricht eher einer schlechten Schätzung als einer konkreten Zahl. Noch viel weniger kann diese Zahl auf die folgenden Einsatzkontingente übertragen werden, etwa wenn sie anhand der Sicherheitsrelevanten Zusammenstöße oder der Anzahl der angeforderten Luftnahunterstützungen extrapoliert werden würde. Am wichtigsten ist jedoch, dass die gefundenen Opferzahlen keine Aussagen über die Geschichten und das Leid ausdrücken können, die die Tötungen auch insbesondere für die Hinterbliebenen bedeuten.
Deutsche Verantwortung?
Es bleibt so festzuhalten, dass hier über das tatsächliche Ausmaß einer direkten Tötungsverantwortlichkeit durch deutsche Soldat_innen im Kriegseinsatz in Afghanistan nur eine sehr grobe erste Annäherung erfolgen kann. Ein besserer Zugang zu weiterem Quellenmaterial und weiterführende Studien, wie die an der TU-Dresden, könnten hier mehr Aufschluss geben. Es muss jedoch, wenn auch mit großer Vorsicht, wahrscheinlich eine deutlich höhere Zahl an Tötungen durch die Bundeswehr in Afghanistan angenommen werden, als wohl allgemein vermutet wird. Dies stellt jedoch noch keinerlei Aussagen darüber dar, unter welchen Umständen die Soldat_innen getötet haben, das heißt, ob es aus Notwehr oder sonstigen Motivlagen geschah, und wie dieses rechtlich und moralisch zu beurteilen ist. Eine Aussage des ehemaligen Kommandeurs des deutschen Regionalkommandos Nord unterstreicht jedoch die ganze Unwirklichkeit und Paradoxie des Einsatzes und der Tötungen: „Wir setzen den Taliban massiv zu. Sie haben erkannt, dass es ums Ganze geht. Wir bleiben in den Dörfern und schützen die Bewohner vor den Aufständischen. Wenn die den Kampf suchen, endet er für sie meist tödlich. Deshalb reagieren sie wütend und brutaler, auch der eigenen Bevölkerung gegenüber.“[42] Der Weg der deutschen Aufarbeitung des Kriegseinsatzes in Afghanistan wird noch lang sein. Dies ist eine Verantwortung, der sich die deutsche Politik und auch die Öffentlichkeit jedoch als allererstes stellen sollte, bevor immer mehr Soldat_innen in weitere Einsätze geschickt werden.
Anmerkungen
[1] Graham, Bradley: Enemy Body Counts revived, Washington Post, 24.10.2005.
[2] Greiner, Bernd (2007): Krieg ohne Fronten. BpB: Bonn, S. 424.
[3] Ebd.
[4] Das dabei auch deutsche Soldat_innen sterben, zeigt der Fall des getöteten KSK Soldaten am 4.5.2013, Bundeswehr: 5.5.2013, Afghanistan: Deutscher Soldat gefallen. Sowie Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des Krieges in Afghanistan, Frage 16 und 2, 20.5.2010.
[5] Bundeswehr.de: Todesfälle im Einsatz, Stand Juli 2014.
[6] SPON: Tode in Afghanistan, 2009.
[7] Wikipedia: Todesfälle bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Version 8.1.2015.
[8] Brendle, Frank (2013): Krieg um die Köpfe: Das Feld der Ehre. IMI-AUSDRUCK, 6/2013, S. 14-17.
[9] Die Website iCasualities.org dokumentiert diese Fälle.
[10] U.a. Lühr, Henken (2014): IPPNW-Body Count, Opferzahlen nach 10 Jahren „Krieg gegen den Terror“, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Oktober 2014, S. 76.
[11] Hierzu etwa Egon Ramms, einst verantwortlicher Kommandeur für den ISAF-Einsatz in Afghanistan, zu dieser Frage, in: IMS: Die NATO in Afghanistan, 2008.
[12] Shane, Scott/Becker Jo (New York Times, 29.5.2012): Secret ‘Kill List’ Proves a Test of Obama’s Principles and Will.
[13] Bell, Arvid/Friesendorf, Cornelius (2014): Ziel verfehlt. Die Mitverantwortung der NATO für zivile Opfer in Afghanistan. HSFK-Standpunkt 6/2014.
[14] Vgl. Seliger, Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 34.
[15] Ebd., S. 10.
[16] Zur Verschlusssachenpolitik des Verteidigungsministeriums siehe Mickan, Thomas (2014): Die Sache mit der Verschlusssache, IMI-Analyse in AUSDRUCK April 2014.
[17] Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey vom 23.9.2010 auf eine schriftliche Anfrage des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Neskovic, Bundestagsdrucksache 17/3114, S. 38.
[18] Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey vom 18.1.2011 auf eine Schriftliche Frage des Bundestagsabgeordneten Paul Schäfer, Drucksache 17/4494 (Auszug), via Bundeswehr-Monitoring.
[19] SPON (29.3.2011): Scharfschützen in Afghanistan: „Bundesregierung sagt nicht die volle Wahrheit“, Interview mit Christian Ströbele.
[20] Kunstausstellung „Kunduz, 04. September 2009”.
[21] Projekt Naming the Dead.
[22] WAZ: Afghanistan-Papiere. Nur noch über den Download erhältlich.
[23] Unterrichtung des Parlamentes 01/11, S. 7. Hervorhebung T.M.
[24] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des Krieges in Afghanistan, Anlage 2, 20.5.2010.
[25] Lücking, Daniel (2014): Offener Brief: Umgang mit Angreifern in Afghanistan.
[26] Unterrichtung des Parlamentes 06/10, S. 6.
[27] Bericht des Wehrbeauftragten. Geleakt bei den Recherchen zur „Afghanistan-Connection“ des Tagesspiegels und Fakt.
[28] Zeidler, Markus/Thörner, Marc: Zivile Opfer im Afghanistan-Krieg: Was verschweigt die Bundeswehr? Monitor Nr. 663 vom 10.7.2014.
[29] Greiner, Bernd (2007): Krieg ohne Fronten. BpB: Bonn, S. 32.
[30] RP (25.10.2010): Deutsche schossen auf Zivilisten.
[31] Unterrichtung des Parlamentes 39/08, S. 6
[32] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des Krieges in Afghanistan, Anlage 1, 20.5.2010.
[33] Wiegold, Thomas (Focus, 17.12.2007): Im Zweifel töten. Vgl. auch Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey vom 14.9.2010 auf die Schriftliche Fragen des Bundestagsabgeordneten Paul Schäfer, Drucksache 17/2963 (Auszug), via Bundeswehr Monitoring.
[34] U.a. Bundeswehr Monitoring (26.5.2010): Empfindsame Spezialkräfte töten regelmäßig.
[35] Bundeswehr, 18.6.2012, Afghanistan: Einsatz der Panzerhaubitze 2000 in Kundus.
[36] U.a. Mayntz, Gregor (RP, 31.12.2014): Bundeswehr lieferte Daten für „Tötungsliste“ in Afghanistan.
[37] Seliger, Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 26-37.
[38] Eine entsprechende tabellarische Auflistung aller Fälle mit Quellen ist entweder beim Autor zu erfragen, oder wird über die Homepage der Informationsstelle Militarisierung verfügbar gemacht.
[39] Wittchen HU, Schönfeld S, Kirschbaum C, et al.: Traumatic experiences and posttraumatic stress disorder in soldiers following deployment abroad: how big is the hidden problem? Dtsch Arztebl Int 2012; 109(35–36): 559–68. DOI: 10.3238/arztebl.2012.0559.
[40] Die genaueren Details zur Methodik können der frei verfügbaren Studie entnommen werden.
[41] Ebd.
[42] Interview mit Generalmajor Hans-Werner Fritz 2011, in: Seliger, Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 36-37.
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