Samstag, 18. Juli 2020

Seit einem rassistischen Anschlag lebte Noël Martin im Rollstuhl. Nach langem Kampf starb er am Dienstag

Starkes Herz

»Ich bin ein Schiff, das zusieht, wie die Welt vorbeizieht.« Noël Martin spricht zum Interviewer mit resignierter Stimme. Er sitzt in einem Rollstuhl, die Muskeln gehorchen nicht, Berührungen spürt er keine. Die Kippe in seinem Mund muss gehalten werden. Der Brite aus Jamaika braucht Unterstützung beim Essen und Trinken. Offene Wunden plagen ihn. »Ich werde in die Schweiz fahren, um dort zu sterben. Vorher feier ich noch eine Party«, sagt er in die Kamera des Dokumentationsteams. Es ist 2006. Der rassistische Anschlag, der Martins Leben zerstörte, jährt sich zum zehnten Mal.
Es waren die »Baseballschlägerjahre« in Deutschland: Am 16. Juni 1996 beim Bahnhof Mahlow, eine brandenburgische Gemeinde am südlichen Stadtrand von Berlin. Die drei schwarzen Briten Arthur, Michael und Noël haben den Tag über auf einer Baustelle gearbeitet und wollen nach Halle fahren, wo ein neuer Job auf sie wartet. Der Unternehmer Martin ruft zuvor noch schnell seine Ehefrau an. Während er in einer Telefonzelle steht, fängt eine Gruppe Jugendlicher an, die drei rassistisch anzupöbeln. Noël Martin beschreibt in seinem Buch »Nenn es: mein Leben«, wie er die Freunde zum Gehen auffordert. »Steigt ein. Wir ignorieren diese Scheißkerle.«
Dem Jaguar mit den drei Briten folgt ein dunkler Golf, darin zwei der Männer vom Bahnhof. Ein 17-jähriger und ein 24-jähriger Neonazi, gemeindeweit bekannt. Der Golf setzt zum Überholen an, ein Insasse wirft einen sechs Kilo schweren Feldstein auf die Frontscheibe des anderen Fahrzeugs. Martin verliert die Kontrolle, der Jaguar überschlägt sich, knallt gegen einen Baum. Der 36-jährige Fahrer ist von nun an querschnittsgelähmt, seine Freunde leicht verletzt. Der Golf fährt weiter.
In einer ersten Mitteilung der Polizei heißt es, die Briten hätten die Deutschen verfolgt. Lange passiert nichts, nach bundesweiter Berichterstattung nehmen die Ermittlungen an Fahrt auf. Die Täter werden zu fünf und acht Jahren Haft verurteilt.
In Mahlow herrscht zu diesem Zeitpunkt Friedhofsruhe. Die Anwohner schweigen gegenüber Medien aus Angst vor rechten Übergriffen. Oder äußern Verständnis für die Täter. »Natürlich stinkt es den Leuten, dass hier jede Menge Ausländer sind«, sagt wenige Tage nach dem Angriff ein Kellner aus der Gemeinde gegenüber der »Taz«. Noël Martin sei »selber Schuld« an dem Angriff, wiederholt noch 2006 ein Anwohner gegenüber »Panorama«. Einiges wird besser, anderes nicht. Im selben Jahr lädt die Autonome Antifa Teltow-Fläming zu einer Informationsveranstaltung im nahe gelegenen Rangsdorf ein. Es erscheinen zwei Dutzend Neonazis, vermummt und mit Steinen bewaffnet.
Noël Martin kehrt nach dem Krankenhausaufenthalt in seine Heimatstadt Birmingham zurück. Mit Entschädigungszahlungen der brandenburgischen Landesregierung gründet er einen Fonds, der später in eine Stiftung umgewandelt wird. Das Projekt setzt sich für internationale und antirassistische Jugendarbeit ein. Heranwachsende aus Mahlow und Großbritannien sollen miteinander in den Austausch treten.
Der nun Querschnittsgelähmte verbringt fortan die meiste Zeit in seinem Haus. Er schaut viel die Wände an, unterbrochen von Krankenhausaufenthalten. Seine Partnerin Jacqueline Shields pflegt ihn, bis sie im Jahr 2000 an Krebs stirbt. Martins Hobbys, die Pferdezucht und Pferderennen, leiden. Und doch: Er wird 2006 der erste Schwarze, dessen Pferd beim Turnier auf der britischen Rennbahn Ascot erfolgreich ist.
Weitere Schicksalsschläge bleiben nicht aus. 2012 wird der Brite zu Hause überfallen. Das erbeutete Geld war für die Wartung seines Rollstuhls gedacht. Danach ein Herzinfarkt. Von Suizidplänen nimmt er dennoch Abschied. »Ich will nicht, dass die Neonazis ihren Sieg erklären können«, sagt er in einem Interview. Seine Stiftung habe noch Arbeit vor sich.
Am Dienstag ist Noël Martin im Alter von 60 Jahren in seiner Heimatstadt Birmingham gestorben. Er hinterlässt einen Sohn und ein Enkelkind. Die Täter, mittlerweile 41 und 48 Jahre alt, sind frei und leben weiter in Mahlow. Sie haben sich bis heute nie für den Anschlag entschuldigt.
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